Mitleid und Neid

Mitleid und Neid sind zwei völlig gegensätzliche Gefühle, die laut Arthur Schopenhauer mit zwei einander widersprechenden Erkenntnisweisen zusammenhängen. Schopenhauer hatte hierüber, und zwar nicht nur nach Beobachtung anderer Menschen, sondern auch nach durchaus kritischer Selbstbetrachtung in eines seiner Manukriptbücher geschrieben:

“Ich beobachte an mir selbst, daß ich zu einer Zeit auf alle Wesen mit herzlichem Mitleid blicke, zu anderer Zeit mit der größten Gleichgültigkeit […]

Dies alles giebt mir deutliche Anzeige, daß wir 2 verschiedene ja einander grade widersprechende Erkenntnißweisen haben: die eine nach dem principio individuationis, diese zeigt uns alle Wesen als uns völlig fremd, als entschiedenes Nicht-Ich: Wir können dann für sie nichts empfinden, als Gleichgültigkeit, Neid, Haß, Schadenfreude.

Die andre Erkenntnißweise dagegen möchte ich nennen die nach dem Tat-Twam-asi; sie zeigt uns alle Wesen als identisch mit unserm Ich: demnach ist es Mitleid und Liebe, die ihr Anblick in uns erregt.

Die eine sondert die Individuen durch undurchdringliche Gränzen: die andre hebt die Begränzung auf und sie fließen zusammen. –

Die eine läßt uns bei jedem Wesen fühlen das bin ich [,] die andre das bin ich nicht.-

Aber merkwürdig ist es, daß wir wohl beim Anblick fremder Leiden uns mit ihnen identisch fühlen, woraus Mitleid entspringt: hingegen nicht eben so beim Anblick fremden Glückes: dieser erregt fast immer einigen Neid: und wo es nicht der Fall ist, wie beim Glück unsrer Freunde, ist unsre Theilnahme doch schwach , und gar nicht zu vegleichen mit der der Theilnahme an ihrem Leiden: siehe Rousseau.

Ist dies weil wir alles Glück für scheinbar erkennen? – Nein, sondern weil der Anblick jedes Genusses oder Besitzes, den wir entbehren, Neid erregt, d. h. den Wunsch, daß, statt des andern, wir selbst der Besitzer oder Genießer wären […]

Warum in einem Menschen die eine, im andern die andre [Erkenntnisweise] überwiegt, wohl in Keinem eine ganz ausschließlich prädominirt [vorherrscht] ; – warum, je nachdem der Wille erregt wird, die eine oder die andre hervortritt; – das sind tiefe Probleme.” (1)

Auf diese “tiefen Probleme” ist Schopenhauer später, und zwar besonders in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral, näher eingegangen, wobei er sehr überzeugend begründete, warum das Mitleid “die einzig nicht egoistische, auch die alleinige ächt moralische Triebfeder” sei. (2)

Demensprechend stehen Neid, Haß und Schadenfreude als die von Schopenhauer oben genannten besonders negative Erscheinungsformen des Egoismus im völligen Gegensatz zum Mitleid. Dieses Mitleid aber bezieht sich nicht nur auf Menschen, denn es habe sich – worauf Arthur Schopenhauer ausdrücklich hinwies – auch dadurch als “moralische Triebfeder bewährt”, dass es auch die Tiere in seinen Schutz nehme. (3)

H.B.

Weiteres
zu Schopenhauers auch die Tiere einbeziehende Mitleidsethik
> Tierethik und Schopenhauers Philosophie und zu
> Arthur Schopenhauer und seine Philosophie .

Anmerkungen
(1) Zit aus: Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. v. Arthur Hübscher, Band 3, Berliner Manuskripte, hier: Foliant II (1927), München 1985, S. 371.
(2) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik, S. 270.
(3) Ebd., S. 278