Tat tvam asi – drei Sanskritworte, die in den altindischen Upanishaden und auch in Arthur Schopenhauers Philosophie höchst bedeutungsvoll sind. Da die Upanishaden zur philosophischen Grundlage des Vedanta und damit auch des späteren Hinduismus wurden, sind sie auch heute noch in Indien von großer Bedeutung. Außerhalb Indiens wurden die Upanishaden vor allem durch Schopenhauer bekannt, der sie als „Trost seines Lebens“ überaus schätzte. Besonders eng ist der Zusammenhang der in den Upanishaden verkündeten Wahrheit vom Tat tvam asi mit Schopenhauers Ethik:
„Die Leser meiner Ethik wissen“, schrieb Schopenhauer, „daß bei mir das Fundament der Moral zuletzt auf jener Wahrheit beruht, welche im Veda und Vedanta ihren Ausdruck hat an der stehend gewordenen mystischen Formel tat tvam asi (Dies bist du), welche mit Hindeutung auf jedes Lebende, sei es Mensch oder Thier, ausgesprochen wird und dann Mahavakya, das große Wort, heißt.“1
„In dem großen Worte (maha-vakya) tat tvam asi„, so erklärte der Indologe Helmuth von Glasenapp, „liegt der Grundgedanke der Upanishaden beschlossen: die Erkenntnis, daß jedes Einzelwesen in seinem Kern mit dem Allwesen eines ist.“2
Der Kern des Einzelwesens wird in den Upanishaden als Atman und der des Allwesens als Brahman bezeichnet. Vom Brahman, „einer heiligen Kraft, einem unpersönlichen Absoluten“, ist der ganze Kosmos und daher auch jedes einzelne Wesen durchdrungen. In diesem Sinne gilt die zutiefst spirituelle Aussage der Upanishaden: Brahman = Atman und so ist auch das Tat-tvam-asi (wörtlich: Das bist du) zu verstehen.
Für Schopenhauer war die in den Upanishaden verkündeten Einheitslehre von Brahman und Atman eine Bestätigung seiner Philosophie. Hiernach ist alles in der Welt, was als Vielheit wahrgenommen wird, nur eine von unzählig vielen Erscheinungsformen einer metaphysischen Einheit, die Schopenhauer nicht Brahman, sondern Wille nannte. So manifestiert sich dieser metaphysische Wille in jedem Menschen, auch in jedem Tier und jeder Pflanze – oder, wie es in der Chandogya-Upanishad, einer der ältesten Upanishaden, heißt: „Wahrlich, das Brahman ist dieses All.“3
So konnte sich Schopenhauer zurecht auf das Tat tvam asi in den Upanishaden berufen, wenn er in seiner Ethik mit Nachdruck auf die Wesensgleichheit von Mensch und Tier hinwies und dabei den deutlichen Gegensatz zur christlichen Tradition des Abendlandes hervorhob. Dem Christentum mit seiner überaus scharfen Abgrenzung zwischen Mensch und Tier stellte er die in Indien entstanden Religionen gegenüber: „Bei den Hindu und Buddhaisten hingegen gilt die Mahavakya (Das große Wort) Tat tvam asi (Dies bist du), welches allezeit über jedes Thier auszusprechen ist, um uns die Identität des innern Wesens in ihm und uns gegenwärtig zu erhalten, zur Richtschnur unsers Thuns.“4
In diesem Zusammenhang betonte Schopenhauer den fundamentalen Unterschied zwischen dem Christentum einerseits sowie dem Brahmanismus (aus dem später der Hinduismus entstand) und Buddhaismus andererseits:
„Ein anderer, bei dieser Gelegenheit zu erwähnender, aber nicht weg zu erklärender und seine heillosen Folgen täglich manifestirender Grundfehler des Christenthums ist, daß es widernatürlicherweise den Menschen losgerissen hat von der Thierwelt, welcher er doch wesentlich angehört, und ihn nun ganz allein gelten lassen will, die Thiere geradezu als Sachen betrachtend; – während Brahmanismus und Buddhaismus, der Wahrheit getreu, die augenfällige Verwandtschaft des Menschen, wie im Allgemeinen mit der ganzen Natur, so zunächst und zumeist mit der thierischen, entschieden anerkennen und ihn stets, durch Metemspsychose [Seelenwanderung] und sonst, in enger Verbindung mit der Thierwelt darstellen.“5
Das Tat tvam asi bedeutet jedoch mehr als „Verwandtschaft“, nämlich die innere Wesensgleichheit allen Lebens. Diese wirklich zu verstehen, ist nicht einfach, denn die altindische Weisheit des Tat tvam asi widerspricht dem abendländischen, weithin vom Christentum geprägten Denken. Hiernach steht der Mensch als „Krone der Schöpfung“ hoch über dem Tier und der übrigen Natur. Wie sehr das ein verhängnisvoller Irrglaube ist, zeigt die täglich fortschreitende Zerstörung der Tier- und Pflanzenwelt, also der Umwelt, welche die Lebensgrundlage des Menschen ist. Schon hieran wird deutlich, dass die Weisheit der Upanishaden mit dem Tat tvam asi, obwohl mehr als zwei Jahrtausende alt, durchaus nicht veraltet ist.
Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie sowie den Upanishaden > hier.
Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band IX: Parerga und Paralipomena II, Kap. 8: Zur Ethik, S. 239.
(2) Helmuth von Glasenapp, Die Religionen Indiens, Stuttgart 1943, S. 113.
(3) Chandogya-Upanishad 3.14.1, zit. aus: Die Weisheit der Upanishaden, aus dem Sanskrit von Karl Friedrich Geldner, hrsg. von Axel Michaels, München 2006, S. 9.
(4) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga … II, Kap. 15: Ueber Religion, § 177: Ueber das Christenthum, S. 411.
(5) Ebd., S. 408.
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