Wahre Ethik fängt an, wo der Gebrauch der Worte aufhört. 1
Dieses Zitat von Albert Schweitzer wird oft gebracht, aber in der Politik zum Beispiel scheint mitunter eher das Gegenteil zu gelten, nämlich:
Tue Gutes und sprich darüber, und zwar möglichst oft und möglichst laut.
Jedoch gute Taten, die allein der politischen Karriere oder anderer persönlichen Vorteile wegen getan wurden, haben nichts zu tun mit wahrer Ethik, jedenfalls nicht im Sinne von Albert Schweitzer und Arthur Schopenhauer.
Für Schopenhauer waren, wie er in seinen Schriften oftmals hervorhob, moralische Handlungen nur solche, die aus dem Mitleid kamen. Hingegen habe jede Handlung, welche aus Rücksicht auf Lohn oder Strafe im Diesseits oder Jenseits geschieht, keinen moralischen Wert. Daher ergibt sich die höchst problematische Frage, ob Religionen wahre Ethik überhaupt besitzen können, denn sie stellen Belohnung oder Strafe in Aussicht, wenn die von ihnen verkündeten Ge- und Verbote befolgt oder nicht befolgt werden.
Schopenhauer war durchaus Realist und Menschenkenner. Er wusste, will man Menschen zu vermeintlich moralischen Handlungen veranlassen, so kann das nur geschehen, wenn man ihnen den Glauben vermittelt, dass solches Tun für sie vorteilhaft ist. Jedoch wäre das dann, genau genommen, nicht Moral, sondern Berechnung, also Egoismus.
Inwieweit egoistische oder uneigennützige Motive im Einzelfall das menschliche Handeln letztlich bestimmen, lässt sich oft schwer beurteilen. Jedoch in einem Bereich kann ziemlich sicher vermutet werden, dass Mitleid der entscheidende Beweggrund ist, nämlich im Tierschutz. Die im Abendland vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Religionen, wie zum Beispiel das Christentum, versprechen für den Tierschutz keine Belohnungen im Diesseits oder Jenseits. So ist es wohl vor allem das Mitleid, das Menschen dazu bewegt, Tieren zu helfen. Demnach wäre zumindest Tierethik wahre Ethik.
Sozial positive Verhaltensweisen lassen sich lernen, lehren und erforderlichenfalls auch erzwingen, nicht aber das im jeweiligen Charakter gegründete Mitleid. Dieses hat in Schopenhauers Verständnis von wahrer Ethik größte Bedeutung:
„Denn grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten … Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig keinen verletzen, keinen beeinträchtigen, keinem wehe tun … und alle seine Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen.“ 2
Somit beruht laut Schopenhauer wahre Ethik auf Mitleid mit Mensch und Tier. In diesem Sinne ist wohl auch Theodor Fontane zu verstehen, der im Brief vom 24. August 1893 an seine Tochter Mete schrieb:
Schopenhauer hat ganz recht: das Beste, was wir haben, ist Mitleid. 3
Immanuel Kant, der seit Platon bedeutendste Philosoph des Abendlandes und Lehrer Schopenhauers, meinte, der Mensch ist von Natur böse und übernahm diese Erkenntnis sogar als Titel in seine Abhandlung Über das radikal Böse in der menschlichen Natur. 4 Sein Schüler Arthur Schopenhauer wusste von diesem Bösen. Er wusste aber auch vom Gegenteil, denn zeugt nicht Schopenhauers Mitleidsethik von seinem Glauben an das Gute im Menschen?
Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Mitleidsethik > hier.
H.B.
Anmerkungen
1 Das Große Krüger Zitaten Buch, hrsg. von J. H. Kirchberger, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, S. 345.
2 Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik / Preisschrift über die Grundlage der Moral, Zürich 1977, S. 275.
3 Zit. aus: Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom. Schopenhauer gestern – heute – morgen, 4. Aufl., Bonn 1968, S. 297.
4 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Erstes Stück, III, Königsberg 1793.