Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier

120 Jahre Deutscher Tierschutzbund – aus diesem Anlass hielt der damalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau am 30. Juni 2001 eine Rede, in welcher er auf das Verhältnis von Mensch und Tier näher einging. Hierbei wies er auf Arthur Schopenhauer hin, der „als Vater des modernen Tierschutzes gilt“. 1

Für Schopenhauer, so meinte der Bundespräsident, „unterschied sich der Mensch vom Tier nur durch den höheren Intellekt, durch die Vernunft und durch die Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu bilden. Grundsätzlich sah Schopenhauer eine Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier, und diese Wesensgleichheit verpflichte den Menschen.“ 2

Der Hinweis des Bundespräsidenten auf die in Schopenhauers Philosophie ausführlich begründete Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier ist höchst bemerkenswert. Diese Wesensgleichheit steht im völligen Gegensatz zu der Auffassung, die im Abendland seit der Herrschaft des Christentums weithin verbreitet ist, dass Mensch die „Krone der Schöpfung“ sei.

Nach Schopenhauers Philosophie sind Mensch und Tier wie alles in der Natur Erscheinungsformen („Objektivationen“) eines metaphysischen „Willens“ und somit in ihrem innersten Wesen gleich. Schopenhauer konnte sich hierbei auch auf das Tat-twam-asi der von ihm überaus geschätzten altindischen Upanishaden berufen, denn im Tat-twam-asi „liegt der Grundgedanke der Upanishaden beschlossen: die Erkenntnis, daß jedes Einzelwesen in seinem Kern mit dem Allwesen eines ist“. 3 Auf diesem Grundgedanken beruht letztlich auch die allumfassende Ethik Arthur Schopenhauers und damit auch seiner Tierethik. 4

„Bei den Hindu und Buddhaisten“, so schrieb Schopenhauer, „gilt die Mahavakya (das große Wort) Tat-twam-asi (das bist du), welches allezeit über jedes Tier auszusprechen ist, um uns die Identität des innern Wesens in ihm und uns gegenwärtig zu erhalten, zur Richtschnur unsers Tun.“ 5

Ganz in diesem Sinne erklärte der buddhistische Lama Anagarika Govinda, der über Schopenhauer zum Buddhismus kam, die Weisheit von der Wesensgleichheit:

„Indem wir unsere eigene Natur … erkennen, realisieren wir, daß sie sich nicht unterscheidet von der innersten Natur aller anderen lebendigen Wesen. Dies ist die „Weisheit der Wesensgleichheit„, durch die wir uns von der kühlen und unbeeinflußten Haltung eines Beobachters dem warmen menschlichen Gefühl allumfassender Liebe und Mitempfindens für alles, was lebt, zuwenden.“ 6

Wenn der Bundespräsident, wie eingangs zitiert, meinte, die „Wesensgleichheit verpflichte den Menschen“, so ist der Mensch dieser Verpflichtung bisher kaum, ja eigentlich überhaupt nicht nachgekommen, denn auch heute noch – nach fast 150 Jahre Deutscher Tierschutzbund – sind Tiere völlig rechtlos. Nach wie vor gilt Arthur Schopenhauers Wort:

„Erst, wenn jene einfache und über allen Zweifel erhaben Wahrheit, daß die Tiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, wie wir, in´s Volk gedrungen sein wird, werden die Tiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn.“ 7

H.B.

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Anmerkungen
(1) Website des Bundespräsidenten > Webarchiv.
(2) Ebd.
(3) Helmuth von Glasenapp, Die Religionen Indiens, Stuttgart 1943, S. 113.
(4) „Die Leser meiner Ethik wissen“, schrieb Arthur Schopenhauer, „daß bei mir das Fundament der Moral zuletzt auf jener Wahrheit beruht, welche im Veda und Vedanta ihren Ausdruck hat an der stehend gewordenen mystischen Formel Tat twam asi (dies bist du), welche mit Hindeutung auf jedes Lebende, sei es Mensch oder Tier, ausgesprochen wird und dann die Mahavakya, das große Wort, heißt“. (Arthur Schopenhauer´s sämmtliche Werke , hrsg. von Julius Frauenstädt, 2. Aufl., Band 6: Parerga und Paralipomena II, Kap. VIII. Zur Ethik, Leipzig 1919, S. 234.)
(5) Schopenhauers Werke, a. a. O., Kap. XV. Ueber Religion, S. 399 f.
(6) Lama Anagarika Govinda, Schöpferische Meditation und Multidimensionales Bewusstsein, 2. Aufl., Freiburg i. B. 1982, S. 72 f.
(7) Schopenhauers Werke, a. a. O., S. 403.


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