Mitleid – das große Mysterium der Ethik

Erst kommt das Mitleid … dann die Moral – so lautet die Überschrift eines Beitrages in der Zeitschrift Psychologie Heute. Das Mitleid sei, wie es dort heißt,  „ein in der Philosophie traditionell eher unbeliebtes Phänomen“.(1) Um so mehr ist es anzuerkennen, dass Arthur Schopenhauer dieses, wie er meinte, „alltägliche Phänomen“ in den Mittelpunkt seiner Ethik stellte. Sie ist eine Mitleidsethik, die mit ihrer tiefen metaphysischen Begründung sowie in ihrer eindrucksvollen, überzeugenden Darstellung in der Geschichte der Philosophie durchaus als einmalig und, jedenfalls nach meiner Kenntnis, als unübertroffen gelten darf.

Völlig zurecht setzte Schopenhauer seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral das Motto voran: Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer. In dieser Schrift erklärte Schopenhauer sehr ausführlich und verständlich, warum jede „echte“ Moral auf dem Mitleid beruht und bestätigt damit die obige Feststellung, dass erst das Mitleid und dann die Moral kommt.

Der folgende Auszug aus Schopenhauers Preisschrift zeigt die zentrale Bedeutung des Mitleids als Fundament jedes uneigennützigen und dadurch wahrhaft ethischen Handelns:

„… man setze zum letzten Beweggrund einer Handlung, was man wolle; immer wird sich ergeben, daß, auf irgend einem Umwege, zuletzt das eigene Wohl und Wehe des Handelnden die eigentliche Triebfeder, mithin die Handlung egoistisch, folglich ohne moralischen Werth ist.

Nur einen einzigen Fall giebt es, in welchem dies nicht Statt hat: nämlich wenn der letzte Beweggrund zu einer Handlung, oder Unterlassung, geradezu und ausschließlich im Wohl und Wehe irgend eines dabei passiv betheiligten Andern liegt, also der aktive Theil bei seinem Handeln, oder Unterlassen, ganz allein das Wohl und Wehe eines Andern im Auge hat und durchaus nichts bezweckt, als daß jener Andere unverletzt bleibe, oder gar Hülfe, Beistand und Erleichterung erhalte.

Dieser Zweck allein drückt einer Handlung, oder Unterlassung, den Stempel des moralischen Werthes auf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, daß die Handlung bloß zu Nutz und Frommen eines Andern geschehe, oder unterbleibe. Sobald nämlich dies nicht der Fall ist; so kann das Wohl und Wehe, welches zu jeder Handlung treibt, oder von ihr abhält, nur das des Handelnden selbst seyn: dann aber ist die Handlung, oder Unterlassung, allemal egoistisch, mithin ohne moralischen Werth.

Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern wegen geschehen soll; so muß sein Wohl und Wehe unmittelbar mein Motiv sein: so wie bei allen andern Handlungen das meinige es ist. Dies bringt unser Problem auf einen engern Ausdruck, nämlich diesen: wie ist es irgend möglich, daß das Wohl und Wehe eines Andern, unmittelbar, d. h. ganz so wie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein Motiv werde, und sogar es bisweilen in dem Grade werde, daß ich demselben mein eigenes Wohl und Wehe, diese sonst alleinige Quelle meiner Motive, mehr oder weniger nachsetze?— Offenbar nur dadurch, daß jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin: also dadurch, daß ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar, wie sonst nur das meinige.

Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mit leide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgend eine Weise mit ihm identificirt sei, d. h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei.

Da ich nun aber doch nicht in der Haut des Andern stecke, so kann allein vermittelst der Erkenntniß, die ich von ihm habe, d. h. der Vorstellung von ihm in meinem Kopf, ich mich so weit mit ihm identificiren, daß meine That jenen Unterschied als aufgehoben ankündigt.

Der hier analysirte Vorgang aber ist kein erträumter, oder aus der Luft gegriffener, sondern ein ganz wirklicher, ja keineswegs seltener: es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d. h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlsein und Glück besteht.

Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen. Sobald dieses Mitleid rege wird, liegt mir das Wohl und Wehe des Andern unmittelbar am Herzen, ganz in der selben Art, wenn auch nicht stets in demselben Grade, wie sonst allein das meinige: also ist jetzt der Unterschied zwischen ihm und mir kein absoluter mehr.

Allerdings ist dieser Vorgang erstaunenswürdig, ja, mysteriös. Er ist, in Wahrheit, das große Mysterium der Ethik, ihr Urphänomen …“(2)

Dieses Mysterium erscheint noch wunderbarer, wenn man bedenkt, dass es nicht bloß auf Menschen beschränkt bleibt, sondern, indem es biologische Artengrenzen überschreitet, sich auch auf Tiere beziehen kann. Hierzu sei auf Schopenhauers Tierethik verwiesen (3), die als Teil seiner allumfassenden Ethik ebenfalls auf Mitleid gegründet ist und in ihrer spirituellen Tiefe sich wohl nur mit den in Indien entstandenen Philosophien vergleichen läßt. Das gilt vor allem für den Buddhismus, zu dem sich Schopenhauer als „Buddhaist“ bekannte. Dort wird das Mensch und Tier einschliessende Mitleid Karuna genannt, wobei nach der Lehre des Buddha das Mitleid einen besonders hohen Rang hat, denn es  gehört zu den „göttlichen Zuständen“ (brahma-vihara).(4)

Dem Mitleid eng verwandt sind Güte und Edelmut. Auch sie sind ein Mysterium, denn auch bei ihnen „liegt mir“, wie beim Mitleid, „das Wohl und Wehe des Andern unmittelbar am Herzen“ und wird „jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben“. Hierzu schrieb Arthur Schopenhauer gegen Ende seines Lebens, dass  in der „Menschenwelt … stets von Neuem uns überraschend, Erscheinungen der Redlichkeit, der Güte, ja des Edelmuths [auftreten] … Wir müßen sie als ein Unterpfand nehmen, daß ein gutes und erlösendes Prinzip in diesem Sansara  [buddhistische Bezeichnung für diese Welt] steckt“.(5)

Warum sollte nicht das, was nach Schopenhauers Worten für Güte und Edelmut gilt, nicht auch für das Mitleid gelten? Dann wäre das Mitleid, das große Mysterium der Ethik, Ausdruck eines guten, ja mehr noch: eines erlösenden Prinzips!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
(1) Manuela Lenzen, Erst kommt das Mitleid … dann die Moral, in: Psychologie Heute, Mai 2005, S. 86.
(2) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe),
Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik , Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 247  f.
(3)  Tierethik und Schopenhauers Philosophie (Blogbeitrag).
(4) S. dazu Schopenhauer und Buddhismus .
(5) Arthur Schopenhauer , Senilia (1858), Gedanken im Alter,  hrsg. von Franco Volpi und Ernst Ziegler, München 2010, S. 202.

 

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