Besonnenheit und Lebensphilosophie

Besonnenheit ist wohl in jeder Lebenslage wichtig, mitunter sogar überlebenswichtig. Für den von Arthur Schopenhauer verehrten altgriechischen Philosophen Platon gehörte sie neben Einsicht, Tapferkeit und Gerechtigkeit zu den vier Kardinaltugenden.

Besonnenheit ist ein besonderer Geisteszustand. Laut dem Wörterbuch der philosophischen Begriffe ist Besonnenheit ein „Zustand des Bei-Sinnen-Seins, des vollen Bewußtseins, der vollen Geistesgegenwart“. 1

Mit „vollkommener Besonnenheit“ zu leben, erfordert, wie Schopenhauer in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit schrieb, „daß man oft zurückdenke und was man erlebt, gethan, erfahren und dabei empfunden hat rekapitulire“, also sich noch einmal vergegenwärtige.

Jedoch, so erklärte Schopenhauer weiter, „wer im Getümmel der Geschäfte, oder Vergnügungen, dahinlebt, ohne seine Vergangenheit zu ruminiren [also ohne über das Vergangene nachzusinnen], vielmehr nur immerfort sein Leben abhaspelt, dem geht die klare Besinnung verloren: sein Gemüth wird ein Chaos, und eine gewisse Verworrenheit kommt in seine Gedanken … Dies ist umso mehr der Fall, je größer die äußere Unruhe, die Menge der Eindrücke, und je geringer die innere Thätigkeit seines Geistes ist.“ 2

Wer demnach nicht über die Vergangenheit in Ruhe nachsinnt, wird auch nicht aus seinen Fehlern in der Vergangenheit lernen und deshalb früher oder später im Leben scheitern. Darüber hinaus hängt der Erfolg im Leben eines Menschen wesentlich davon ab, inwieweit er fähig ist, selbst in außergewöhnlichen Situationen besonnen zu bleiben.

Auch für das Philosophieren ist Besonnenheit notwendig: Schopenhauers Tagebücher und andere Aufzeichnungen aus seiner Jugendzeit zeigen eindrucksvoll, dass der spätere Philosoph von früh an sehr besonnen lebte. Ja, es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, ohne diese Besonnenheit gäbe es keine Schopenhauersche Philosophie, jedenfalls nicht so, wie wir sie heute kennen und schätzen. Schopenhauer ist deshalb das beste Beispiel für das, was er zu Recht feststellte, nämlich dass der „hohe Beruf“ des Philosophen „seine Wurzel in der Besonnenheit“ habe. 3

Übrigens, Lebensphilosophie, die nicht mit Besonnenheit im Alltag verbunden ist, bleibt bloße Theorie. Eine solche Lebensphilosophie hilft wohl nur so viel oder so wenig wie Schwimmübungen im Trockenen.

H.B.

Weiteres > Mensch besinne dich – eine vergebliche Hoffnung? und
zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen

(1) Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Johannes Hoffmeister, 2. Auflage, Hamburg 1955, Stichwort: Besonnenheit, S. 115.
(2) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 456.
(3) Schopenhauer, a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 31: Vom Genie, S. 453.