Getrübte Erkenntnis

Wir nehmen unsere Umwelt nicht so wahr, wie sie ist: Liebe und Hass, Sympathie und Antipathie, Wünsche, Vorurteile, ja sogar gute und schlechte Stimmungen – alle diese und andere Faktoren trüben unsere Anschauung. Da Anschauung die Grundlage aller Erkenntnis ist, wird hierdurch auch unsere Erkenntnis getrübt. Über diesen fundamentalen Zusammenhang schrieb Arthur Schopenhauer:

„Um einzusehn, daß eine rein objektive und daher richtige Auffassung der Dinge nur dann möglich ist, wann wir dieselben ohne allen persönlichen Anteil … betrachten, vergegenwärtige man sich, wie sehr jeder Affekt [d. h. jede heftige Gemütsbewegung] und Leidenschaft die Erkenntnis trübt und verfälscht, ja jede Neigung oder Abneigung nicht etwa bloß das Urteil, nein, schon die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt. Man erinnere sich, wie, wann wir durch einen glücklichen Erfolg erfreut sind, die ganze Welt sofort eine heitere Farbe und eine lachende Gestalt annimmt, hingegen düster und trübe aussieht, wann Kummer uns drückt.“ 1

Getrübte Erkenntnis bedeutet mehr oder weniger falsche Erkenntnis. Diese wiederum kann zu falschen Entscheidungen führen, und zwar mitunter sogar in lebenswichtigen Fragen. Dann ist es, wie Schopenhauer aufgrund seiner Lebenserfahrung meinte, ratsam, möglichst abzuwarten, denn mit den Stunden, Tagen und Jahreszeiten „wechselt, ändert sich unsere Stimmung und Ansicht … Daher erscheint uns dieselbe Sache zu verschiedenen Zeiten, Morgens, Abends, Nachmittags oder am andern Tage oft sehr verschieden“. 2

Wenn wir, so erklärte Schopenhauer weiter, „nach irgendeiner längeren Pause, wie neu und fremd in den alltäglichen Lauf der Dinge dieser Welt schauen und so einen frischen, ganz eigentlich unbefangenen Blick in sie tun, [wird] ihr Zusammenhang und ihre Bedeutung uns am reinsten und tiefsten klar“. Arthur Schopenhauer nannte das den „hellen Augenblick“, das heißt, der Blick und mit ihm die Erkenntnis waren klar, also nicht mehr getrübt. 3

H.B.

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Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 442.
2 Ebd., S.160.
3 Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II, S. 59.

Der Mensch – ein wildes Tier ?

Unter der Überschrift Zur Ethik schrieb Arthur Schopenhauer über den Charakter des Menschen einige bittere Worte, die, wenn auch nicht auf alle, aber leider wohl auf manche, vielleicht sogar auf viele Menschen zutreffen:

„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloß und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist …

Gobineau hat den Menschen das böse Tier genannt, welches die Leute übel nehmen, weil sie sich getroffen fühlen: Er hat aber recht: denn der Mensch ist das einzige Tier, welches Andern Schmerz verursacht, ohne weiteren Zweck, als eben diesen. Die andern Tiere tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes. Wenn dem Tiger nachgesagt wird, er töte mehr, als er auffresse: so würgt er alles doch nur in der Absicht, es zu fressen …

Kein Tier jemals quält, bloß um zu quälen; aber dies tut der Mensch, und dies macht den teuflischen Charakter aus, der weit ärger ist, als der bloß tierische …

Darum fürchten alle Tiere instinktmäßig den Anblick, ja die Spur des Menschen. Der Instinkt trügt hier nicht: denn allein der Mensch macht Jagd auf das Wild, welches ihm weder nützt noch schadet.
Wirklich also liegt im Herzen eines Jeden ein wildes Tier, das nur auf Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es Andern wehe tun und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt; und eben das, welches zu bändigen und einigermaßen in Schranken zu halten die Erkenntnis … stets vollauf zu tun hat.“ *

Der letzte Satz ist, wie mir scheint, etwas zu optimistisch: Allein schon die äußerst blutigen Kriege, die seit Schopenhauers Zeit weltweit zu Tod und Vernichtung führten, zeigen, wie wenig die Erkenntnis die Menschen zu bändigen und in den Schranken zu halten vermochte. Jedenfalls die Erkenntnis, die ich aus dieser Tatsache gewonnen habe, deutet eher darauf hin, dass der Mensch, was Krieg und Aggression angeht, nichts Wesentliches dazu gelernt hat. Die Kriegstechnik ist zwar immer wirkungsvoller geworden, aber der Mensch ist geblieben, wie er schon zur Zeit des englischen Philosophen Thomas Hobbes war: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf!

Der Wolf ist ein wildes Tier, und der Mensch mag mitunter auch ein wildes Tier sein. Jedoch wie ein böses Tier kann der Mensch nicht sein, denn es gibt zwar gefährliche, aber keine „bösen“ Tiere!

H.B.

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Anmerkung
* Aus: Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IX: Parerga und Paralipomena II, Kap. 8: Zur Ethik, S. 230 ff.

Philosophie und blinder Glaube

Philosophie als eine Wissenschaft hat laut Arthur Schopenhauer „durchaus nichts damit zu tun, was geglaubt werden darf, oder soll, oder muß; sondern bloß damit, was sich wissen läßt … Ist man aber etwa überzeugt, daß die ganze und volle Wahrheit in der Landesreligion enthalten und ausgesprochen sei; nun, so halte man sich daran und begebe sich alles Philosophierens“.1 Dementsprechend hat Schopenhauers Philosophie nichts mit blindem Glauben zu tun, sondern mit Wissen, insbesondere mit den Grenzen des Wissens, also mit Erkenntnis und deren Wurzeln.

Alle tiefe Erkenntnis, sogar die eigentliche Weisheit, so meinte Schopenhauer, wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge.2

Die Anschauung ist jedoch nur dann das Tor zur Weisheit, wenn sie nicht durch Wollen, Wünsche, Zwecke, Ziele und dergleichen getrübt wird, wenn sie also reine Anschauung ist. Eine solche reine Anschauung ist aber nicht der normale Zustand des Anschauens, sondern eher die Ausnahme. Schon der Dichter Friedrich von Logau, der etwa zweihundert Jahre vor Schopenhauer lebte, wusste das, denn er schrieb:

Was wir sehen in der Welt, sehen alles wir durch Brillen;
Gut- und Böses wird ersehn, wie es vorkommt unsrem Willen.
3

Erkenntnis durch reine Anschauung – die Möglichkeit steht zwar allen offen, doch die Frage ist, ob die Menschen auch gewillt sind, von ihr Gebrauch zu machen. Der von Schopenhauer als „Muster eines Selbstdenkers“ hochgeschätzte Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg hatte wohl Zweifel, denn er meinte:

Man spricht viel von Aufklärung, und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?4

Hier gilt dann das Sprichwort: Keiner ist so blind wie der, welcher nicht sehen will.

Wer aber nicht sehen will, dem ist der Weg zur Erkenntnis verschlossen. Oft ist es dann blinder Glaube, der das Bemühen um eigene Erkenntnis zu ersetzen scheint. Das mag besonders auf manche Religionen zutreffen, in denen blinder Glaube an religiöse Dogmen von früher Kindheit an gleichsam eingeimpft wird. Schopenhauer nannte das „Abrichtung“, wobei er sogar meinte, dass an „Abrichtungsfähigkeit“ der Mensch alle Tiere übertreffen würde.5

Völlig anders hingegen in dem von Schopenhauer hochgeschätzten Buddhismus. Dort kommt es nicht auf blindem Glauben, sondern auf eigene Erkenntnis an, denn so heißt es zum Beispiel in einer „Lehrrede“ des Buddha:

Richtet euch nicht nach bloßem Hörensagen, nach heiligen Überlieferungen – sondern was ihr selbst als richtig oder schlecht erkannt habt, das nehmt an oder gebt auf. 6

Den Weg zu einer solchen „richtigen“ Erkenntnis sah Arthur Schopenhauer im Buddhismus. In einem Gespräch meinte er: Wenn man den Buddhaismus aus seinen Quellen studiert, da wird es einem hell im Kopfe.7 Ein „heller Kopf“ ist jedoch Voraussetzung jedes Philosophierens, den blinden Glauben aber überlasse man der Religion, die es nötig hat.

H.B.

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sowie zum Thema > Buddhismus .

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VII: Parerga und Paralipomena I, Zürich 1977, S. 161.
2 Schopenhauer , a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 448.
3 Deutsche Epigramme aus fünf Jahrhunderten, hrsg. von Klemens Altmann, o. J. und O., S. 24.
4 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch L, 1796-1799.
5 Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 655.
6 Anguttara-Nikaya 3,65,8, gekürzt zit. aus: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte, übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln 1974, S. 57 f.
7 Arthur Schopenhauer , Gespräche, neue Ausg. hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 104.

Religion und eigenes Denken

„Im Grunde“, so meinte Arthur Schopenhauer, „haben nur die eigenen Grundgedanken Wahrheit und Leben: denn nur sie versteht man recht eigentlich und ganz. Fremde, gelesene Gedanken sind die Überbleibsel eines fremden Mahles, die abgelegten Kleider eines fremden Gastes“. 1

Dementsprechend kritisch stand Schopenhauer den Religionen gegenüber, die versuchen, ihre Dogmen den Menschen möglichst früh gleichsam einzuimpfen, ja sie ihnen mitunter sogar aufzuzwingen:

„Nicht nur das Aussprechen und die Mitteilung der Wahrheit, nein, selbst das Denken und Auffinden derselben hat man unmöglich zu machen gesucht, dadurch, daß man in frühester Kindheit die Köpfe den Priestern, zum Bearbeiten, in die Hände gab, die nun das Gleis, in welchem die Grundgedanken sich fortan zu bewegen hatten, so fest hineindrückten, daß solche, in der Hauptsache, auf die ganze Lebenszeit festgestellt und bestimmt waren.“ 2

Schopenhauers Kritik trifft jedoch nicht in gleichem Maße auf alle Religionen zu. Der Buddha zum Beispiel teilte seine anspruchsvolle Lehre nur jenen mit, von denen er erwartete, dass sie die nötige geistige Reife und Selbstständigkeit hatten, um diese Lehre zu verstehen. Er setzte die Fähigkeit zum eigenen Denken und eigener Erkenntnis voraus, wenn er etwa an seine Zuhörer eine Aufforderung richtete, die in der Religionsgeschichte wohl einmalig ist:

„Richtet euch nicht nach dem, was euch zu Ohren gekommen ist, nach dem bloßen Hörensagen … , nach Sammlungen von heiligen Überlieferungen …, nicht nach den Worten eines verehrten Meisters – sondern was ihr selbst als gut oder schlecht erkannt habt, das nehmt an oder gebt auf.“ 3

Deshalb kommt es in der Lehre des Buddha nicht auf den bloßen Glauben an. Nicht blindes Übernehmen irgendwelcher fremder, oft sogar aufgezwungener Glaubenssätze, sondern die auf Anschauung gegründete eigene Erkenntnis ist in der buddhistischen Lehre wie in Schopenhauers Philosophie von entscheidender Bedeutung. So ist es verständlich, wenn Arthur Schopenhauer beim Vergleich mit anderen Religionen die besondere Nähe seiner Philosophie zum Buddhismus mit den Worten hervorhob:

„Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern zugestehn.“ 4

H.B.

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Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 22. Selbstdenken, Zürich 1977, S. 538.
(2) Ebd., Kap. 15. Ueber Religion , S. 373 f.
(3) Anguttara-Nikaya 3, 65, 8 (Pali Text Society), zit aus: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte. Übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln, S. 57 f.
Was die „Sammlungen von heiligen Überlieferungen“ anbetrifft, so gehört hierzu auch die im Pali-Kanon überlieferte Lehre des Buddha. Jedoch verlangt diese keinen „Glauben“ im Sinne der großen Glaubensreligionen, sondern nur Vertrauen auf den vom Buddha gelehrten Weg zur Erkenntnis. Es geht also hier um eigenes Denken und eigene Erkenntnis. Deshalb ist im Buddhismus die Meditation als Mittel zur Erkenntnis von zentraler Bedeutung.
(4) Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 17. Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen, S. 197.

Schopenhauer : Erkenntnis durch Anschauung

        Zu einer Erkenntnis kann man auf verschiedene Weise kommen;  oft geschieht es durch  Bücher. Für Arthur Schopenhauer waren es jedoch weniger die Bücher als vielmehr die unmittelbare Anschauung, die tiefere Erkenntnisse ermöglicht:

        „Bücher theilen nur sekundäre Vorstellungen mit. Bloße Begriffe von einer Sache, ohne Anschauung, geben eine bloß allgemeine Kenntniß derselben. Ein durchaus gründliches Verständniß von Dingen und deren Verhältnissen hat man nur, sofern man fähig ist, sie in lauter deutlichen Anschauungen, ohne Hülfe der Worte, sich vorstellig zu machen. Worte durch Worte erklären, Begriffe mit Begriffen vergleichen, worin das meiste Philosophiren besteht, ist im Grunde ein spielendes Hin- und Herschieben der Begriffssphären; um zu sehen, welche in die andere geht und welche nicht. Im glücklichsten Fall wird man dadurch zu Schlüssen gelangen: aber auch Schlüsse geben keine durchaus neue Erkenntniß, sondern zeigen uns nur, was Alles in der schon vorhandenen lag und was davon etwan auf den jedesmaligen Fall anwendbar wäre. Hingegen anschauen, die Dinge selbst zu uns reden lassen, neue Verhältnisse derselben auffassen, dann aber dies Alles in Begriffe absetzen und niederlegen, um es sicher zu besitzen: das giebt neue Erkenntnisse. Allein, während Begriffe mit Begriffen zu vergleichen so ziemlich Jeder die Fähigkeit hat, ist Begriff mit Anschauungen zu vergleichen eine Gabe der Auserwählten: sie bedingt, je nach dem Grade der Vollkommenheit, Witz, Urtheilskraft, Scharfsinn, Genie. Bei jener erstern Fähigkeit hingegen kommt nie viel mehr heraus, als etwan vernünftige Betrachtungen. 

        Der innerste Kern jeder ächten und wirklichen Erkenntniß ist eine Anschauung; auch ist jede neue Wahrheit die Ausbeute aus einer solchen. Alles Urdenken geschieht in Bildern: darum ist die Phantasie ein so nothwendiges Werkzeug desselben, und werden phantasielose Köpfe nie etwas Großes leisten, […]  – Hingegen bloß abstrakte Gedanken, die keinen anschaulichen Kern haben, gleichen Wolkengebilden ohne Realität. Selbst Schrift und Rede, sei sie Lehre oder Gedicht, hat zum letzten Zweck, den Leser zu derselben anschaulichen Erkenntniß hinzuleiten, von welcher der Verfasser ausging: hat sie den nicht, so ist sie eben schlecht. Eben darum ist Betrachtung und Beobachtung jedes Wirklichen, sobald es irgend etwas dem Beobachter Neues darbietet, belehrender als alles Lesen und Hören. Denn sogar ist, wenn wir auf den Grund gehen, in jedem Wirklichen alle Wahrheit und Weisheit, ja, das letzte Geheimniß der Dinge enthalten, freilich eben nur in concreto, und so wie das Gold im Erze steckt: es kommt darauf an, es herauszuziehen. Aus einem Buche hingegen erhält man, im besten Fall, die Wahrheit doch nur aus zweiter Hand, öfter aber gar nicht.

      Bei den meisten Büchern, von eigentlich schlechten ganz abgesehn, hat … der Verfasser zwar gedacht, aber nicht geschaut.“*

H.B.

* Arthur Schopenhauer : Werke in zehn Bänden , Zürcher Ausgabe, Zürich 1977, Band III : Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 7: Vom Verhältniß der anschauenden zur abstrakten Erkenntniß,  S. 86 f.)

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Schopenhauer : Wahrheit – Anschauung – Erkenntnis

Worauf beruht Wahrheit? Wie können wir sie erkennen? Wie kommt es zu einer solchen Erkenntnis?  Ganz im Sinne von Arthur Schopenhauer gab dazu  Pestalozzi die Antwort: Die Anschauung ist das Fundament aller Erkenntnis.

Schopenhauer hatte sich hierzu ausführlicher geäußert:
Es kann keine Wahrheit geben, die unbedingt allein durch Schlüsse herauszubringen wäre; sondern die Notwendigkeit, sie bloß durch Schlüsse zu begründen, ist immer nur relativ, ja subjektiv. Da alle Beweise Schlüsse sind, so ist für eine neue Wahrheit nicht zuerst ein Beweis, sondern unmittelbare Evidenz (= Augenscheinlichkeit, höchste, im Bewusstsein erlebte und zur  Gewissheit führende Einsichtigkeit) zu suchen… Durch und durch beweisbar kann keine Wissenschaft sein; so wenig als ein Gebäude in der Luft stehn kann: alle ihre Beweise müssen auf ein Anschauliches … zurückführen. Denn die ganze Welt der Reflexion (= prüfendes  und vergleichendes Nachdenken) ruht und wurzelt auf der anschaulichen Welt.
(Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 1. Buch, § 14, S.104)

Schopenhauers obige Darlegungen sind ziemlich einleuchtend, aber sie sind auch problematisch: Wenn die Erkennntnis der Wahrheit von der Anschauung abhängt, dann kann diese Erkenntnis nur insoweit richtig sein wie die Anschauung richtig ist. Daher ist z. B. rechte Anschauung ein sehr wichtiger Teil des Edlen Achtfachen Pfades, der im Mittelpunkt der von Arthur Schopenhauer so hoch geschätzten buddhistischen Lehre steht. “ Rechte Anschauung “ ist dort Meditation, bei Schopenhauer das kontemplative („willensfreie“) Betrachten.

Wenn in der Philosophie eine solche rechte Anschauung  fehlt und diese sich im rein Begrifflichen erschöpft, kann es leicht zu einer Denkakrobatik kommen, deren Ergebnisse kaum nachvollziehbar sind. Mir fällt dazu eine bissige Aussage Schopenhauers zu Fichte ein, nämlich eine Phrase …, welche Fichte, wann er seine dramatischen Talente auf dem Katheder produzierte, mit tiefem Ernst, imponierendem Nachdruck und überaus studentenverblüffender Miene so auszusprechen pflegte: „es ist, weil es ist; und ist wie es ist, weil es so ist.“
(Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Parerga und Paralipomena II, Kap. 3, S. 43)

Ehrlich gesagt, ich habe den tieferen Sinn – sollte es den überhaupt geben – von Fichtes Satz bisher nicht gefunden. Vielleicht ist dieser Satz, wie Schopenhauer meinte, nur eine „Phrase“. Dann allerdings hat sie mit  meinem Leben und mit Lebensphilosophie nichts zu tun. Lebensphilosophie ist ja keine „jämmerliche Kathederhanswurstiade“ (Schopenhauer), sondern beruht vor allem auf Lebenserfahrung, auf “ rechter Anschauung “ des Lebens. Jedoch ist für Wahrheiten, die so durch das Leben selbst gelehrt werden,  mitunter teures Lehrgeld zu zahlen. Im übrigen ist es mit der Wahrheit auch sonst nicht einfach, denn:
“ Die Wahrheit steckt tief im Brunnen“, hat Demokritos gesagt, und Jahrtausende haben es seufzend wiederholt: aber es ist kein Wunder; wenn man, sobald sie heraus will, ihr auf die Finger schlägt.“
(Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Über den Willen in der Natur, Physiologie und Pathologie, S. 219)

hb

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