Lebensphilosophie und Alltag

Der Wert einer Lebensphilosophie zeigt sich nicht in theoretischen Diskussionen, sondern im Alltag der Menschen, die nach ihr leben. Das gilt besonders auch für Arthur Schopenhauers Philosophie. Deshalb sind Erfahrungsberichte von Menschen, die sich während eines großen Teils ihres Lebens an Schopenhauer orientierten, wichtig und aufschlussreich. Ein Beispiel hierfür ist das Buch des verdienstvollen Schopenhauer-Forschers Arthur Hübscher. Es trägt den bezeichnenden Titel Leben mit Schopenhauer. Dort kam der Verfasser, rückblickend auf sein Leben, zum Ergebnis:

„Ich habe viele Menschen und viel unnützes Gepäck auf meiner Lebensreise zurückgelassen. Schopenhauer habe ich mitgenommen, – er hat mich nie im Stich gelassen. Er wird auch da sein, wenn es an der Zeit ist abzutreten.“ 1

Zum 80. Geburtstag von Arthur Hübscher erschien zu dessen Ehren eine „Festgabe“ unter dem Titel Wege zu Schopenhauer. Dort berichteten Menschen aus sehr unterschiedlichen Berufen und sozialen Schichten, wie sie zu Schopenhauer kamen und welche Bedeutung dieser Philosoph für ihr Leben hatte. So schrieb zum Beispiel eine Theologin:

“ Ich lese Schopenhauer seit einigen Jahren, und er ist mir ein geistiger Vater und Lehrmeister geworden. So viele Gegenstände, über die ich früher falsche oder nur unklare Vorstellungen hatte, fand ich bei Schopenhauer richtig- und klargestellt, wie es mir vorher noch nie begegnet war. Oft hatte ich beim Lesen das Gefühl, ein großer Freund schaffe endlich Ordnung in meinem undeutlichen, von Vorurteilen und Zeitideen vernebelten Gedanken und er lehre mich, die Dinge so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit sind.

Ich möchte einige Gedanken Schopenhauers aufführen, die mich besonders beeindruckt haben:

Philosophie und Theologie sind zwei vollkommen getrennte Gegenstände. – Sehr viele Irrtümer sind mir durch die Erkenntnis erspart geblieben …

Die Natur, so schön wie sie anzusehen ist, wird dadurch aufrechterhalten, daß ein Wesen für das andere Leid bedeuten muß.- Wer in unserer westlichen Kultur spricht so wie Schopenhauer von den Tieren als von unseren leidenden Mitwesen? …

Unglücksfälle sind das Element unseres Lebens. – Diese Worte waren für mich ein Trost, denn sie befreiten mich wenigstens vorübergehend von dem ´Zwang zum Glück`, von der bei uns herrschenden Vorstellung, Wohlergehen sei das Normale und Mißgeschicke seien nur möglichst schnell zu beseitigende Störungen des Normalzustandes …

Die Bekanntschaft mit Schopenhauer hat meine Gedanken und meinen Blick geschärft, aber sie hat mich auch einsam gemacht … Und ich bin auch dem heutigen Zeitgeist fremd geworden, weil Schopenhauer in keinen Zeitgeist paßt, schon gar nicht in den unsrigen …“ 2

Ja, Arthur Schopenhauers Lebensphilosophie kann mitunter zur Vereinsamung im Alltag führen, denn sie ist kein bequemes Anpassen an einen Zeitgeist, dem sich viele, ja vielleicht sogar die meisten Menschen bereitwillig unterwerfen. Doch auch hier gilt die alte Weisheit: Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Arthur Hübscher, Leben mit Schopenhauer, Frankfurt am Main 1966, S. 141.
2 Maria Schmidt in: Wege zu Schopenhauer, Arthur Hübscher zu Ehren, Festgabe zum 80. Geburtstag, hrsg. von CLemens Köttelwesch, Wiesbaden 1978, S. 94 f.