Tierethik und Schopenhauers Philosophie

            Welch ein unergründliches Mysterium liegt doch in jedem Thiere! – schrieb Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. (1) Dort und auch in anderen seiner Schriften wird deutlich, wie sehr er die Tiere, die für die meisten Philosophen zu jener Zeit kein Thema waren, in seine Philosophie einbezog. Das gilt besonders für einen zentralen Bereich seiner Philosophie, nämlich für seine Mitleidsethik :

            Mitleid mit Thieren hängt mit der Güte des Charakters  so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Thiere grausam ist, könne  kein guter Mensch seyn. Dieses Mitleid mit Tieren, so fügte Schopenhauer hinzu, sei aus der selben Quelle mit der gegen Menschen zu übenden Tugend entsprungen. (2)

            In Schopenhauers Mitleidsethik hat die Tierethik besondere Bedeutung, wie Dieter Birnbacher, Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Ethik, unter der Überschrift Mitleidsethik in seinem Buch Schopenhauer (3) darlegt:

           “ Die wichtigste und nachhaltigste Konsequenz, die Schopenhauer aus seiner Mitleidsethik für die Sozialmoral zieht, ist seine differenzierte Einbeziehung der Tiere in die Ethik und die aus seinen Grundprinzipien abgeleitete Forderung nach angemessenem Schutz der leidensfähigen und insbesondere der in Gemeinschaft mit dem Menschen lebenden Tiere vor Quälerei, Ausbeutung und Überforderung. Wenngleich im Einzelnen schwer einzuschätzen ist, welche Entwicklungen der schopenhauerschen Theorie und welche dem allgemeinen Wandel der Mentalität geschuldet sind, ist doch die historische Bedeutung von Schopenhauers Tierethik nicht zu unterschätzen.

            Schopenhauer hat die Idee des Tierschutzes zwar nicht erfunden. Das erste Tierschutzgesetz, der sogenannte Martin’s Act, war bereits 1822 in England erlassen worden, Tierschutzvereine bestanden bereits in mehreren deutschen Städten (Schopenhauer gehörte 1841 zu den Mitbegründern des Frankfurter Vereins). Aber Schopenhauer hat diese Initiativen, indem er sie mit einer tragfähigen ethischen Grundlage ausstattete, entscheidend gefördert. […]

            Die Grundlage von Schopenhauers Tierethik ist dieselbe, die sich auch bereits bei Bentham und vorher ansatzweise bei Hume und Rousseau findet, nämlich dass das Wesentliche und Hauptsächliche im Thiere und im Menschen das Selbe ist (4). Diese entscheidende Gemeinsamkeit ist die Leidensfähigkeit. Tiere und Menschen stimmen darin überein, dass sie Schmerzen empfinden und unter der Frustration natürlicher Bedürfnisse leiden. Bereits die Gemeinsamkeiten im äußeren Ausdrucksverhalten machen es für Schopenhauer evident, dass zwischen Mensch und höheren Tieren eine enge Verwandtschaft besteht. Auch die tierische Anatomie lasse keine scharfe Grenze, sondern lediglich fließende Übergänge zwischen Mensch und Tier erkennen. (5) Diese äußeren Ähnlichkeiten lassen es jedoch unzweifelhaft erscheinen, dass sich die Formen des inneren Erlebens von Mensch und Tier ebenfalls nicht abgrundtief unterscheiden. Aufgrund ihres intelligenten Verhaltens glaubt Schopenhauer einigen hochentwickelten Tieren, insbesondere Elefanten, sogar eine rudimentäre Denk- und Vernunftfähigkeit zuschreiben zu können. (6)

            Auch hier bezieht Schopenhauer eine scharfe Gegenposition zu Kant. Kant meinte, dass der Mensch über einen nicht vollständig naturalistisch zu erklärenden Wesenskern (das intelligible, das heißt nicht empirisch aufweisbare Ich) verfügt, der ihm den Status einer Person verleiht und es anderen verbietet, ihn bloß als Mittel zu behandeln. Dieser Wesenskern manifestiere sich in der Vernunft, insbesondere in der praktischen Vernunft, der Fähigkeit, sich selbst Verhaltensnormen zu geben und sein Handeln an diesen Normen auszurichten. Für Schopenhauer stellt diese Metaphysik die wahren Verhältnisse geradewegs auf den Kopf. Sofern der Mensch über einen Wesenskern verfügt, ist dieser kein Alleinbesitz des Menschen, sondern ein Besitz aller Lebewesen; die Fähigkeit der Vernunft ist zwar für den Menschen charakteristisch, […] Die moralische Einstellung richte sich aber nicht danach, welchen Platz ein Wesen aufgrund seiner spezifischen Fähigkeiten oder Potenziale in der Rangfolge der Lebewesen einnimmt, sondern ausschließlich danach, wie sehr es leidet […]

            Eine wichtige Quelle von Schopenhauers Ausweitung seiner Mitleidsethik auf die Tiere ist zweifellos seine Bekanntschaft mit Teilen der asiatischen Philosophietradition. Schopenhauer war einer der ersten westlichen Philosophen, die sich mit dem asiatischen Denken, vor allem mit den aus Indien stammenden Richtungen des Buddhismus und Hinduismus, vertraut gemacht haben. Auch deshalb stand ihm die nur sporadische Berücksichtigung der Tiere in der Philosophie und Theologie des Westens mit besonderer Deutlichkeit vor Augen.

            Von daher ergab sich für ihn auch eine naheliegende Erklärung des Vollzugsdefizits der westlichen Ethik: Die Quelle des Übels sei der Herrschaftsauftrag der biblischen Schöpfungsgeschichte, der zunächst im Judaismus, dann im Christentum zum Dogma wurde und von da aus das gesamte westliche Denken infizierte. Nichts anderes als der Mythos, nach dem Gott sämmtliche Thiere, ganz wie Sachen und ohne alle Empfehlung zu guter Behandlung, wie sie doch meist selbst ein Hundeverkäufer, wenn er sich von seinem Zöglinge trennt, hinzufügt, dem Menschen übergiebt, damit er über sie herrsche, also mit ihnen thue was ihm beliebt (7), habe den Wahn in die Welt gebracht, dass unser Handeln gegen [die Tiere] ohne moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es gegen Thiere keine Pflichten gebe (8).“

               Auf eine der Gründe, warum sich, besonders was die Tierethik betrifft,  die vom Christentum geprägte westliche Ethik von der des Hinduismus fundamental unterscheidet, hat der Religionswissenschaftler und Indologe Helmuth von Glasenapp hingewiesen: „Während der Inder in allem Lebenden, vom Grashalm bis zum Gott Brahma, […]  eine Stufenfolge von Einzelwesen sieht, die alle gleicherweise der Metempsyhose [Seelenwanderung] unterliegen und der Erlösung teilhaftig werden können, haben Pflanzen und Tiere für den Christen keine unsterblichen Seelen und sind deshalb nicht in den Heilsprozeß einbegriffen.“ (9) In diesem Sinne wären Tiere mehr als Sachen zu verstehen und nicht wie bei den Hindus als göttliche Manifestationen oder wie bei Schopenhauer eine – gleich dem Menschen – Erscheinungsform des metaphysischen „Willens“. Daher sind nach Auffassung Schopenhauers und des Hinduismus Mensch und Tier wesensgleich – was sich auch in der Einstellung zu den Tieren positiv widerspiegelt. (10)

            Tierethik war für Arthur Schopenhauer nicht bloß ein, wenngleich wichtiges  Thema seiner Philosophie, sondern weit mehr – ein Herzensanliegen. So schrieb er  in seinem Manuskript (11):

Arthur Schopenhauer : Tiere
Arthur Schopenhauer über Tiere

            Ich muß es aufrichtig gestehn: der Anblick jedes Thiers erfreut mich unmittelbar [,] und mir geht dabei das Herz auf ; …

            Die Bedeutung Arthur Schopenhauers und seiner Philosophie für die Tierethik hat Dieter Birnbacher sehr treffend am Schluss seines Buches zusammengefasst:

            „Zu seiner Zeit war Schopenhauer mit seiner Tierethik ein Rufer in der Wüste. Er war zugleich einer der wenigen, die dafür sorgten, dass sich die Wüste belebte.“ (12)

H.B.

Weiteres zu > Schopenhauers Philosophie und zur > Tierethik .

S. auch   > Tierethik und Buddhimus

> Mensch und Umwelt in Schopenhauers Philosophie

Anmerkungen
(1)   Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977
(Zürcher Ausgabe), Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 566.
(2)   Arthur Schopenhauer , a. a. O.,
Band VI: Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 281.
(3)   Dieter Birnbacher , Schopenhauer , Stuttgart 2009, S. 125 ff.
(4)   Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band VI, S. 280.
(5)   Ebd.
(6)   Arthur Schopenhauer , a. a. O.,
Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 76.
(7)   Arthur Schopenhauer , a. a. O.,
Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 409.
(8)   Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band VI, S. 278.
(9)   Helmuth von Glasenapp, Die Philosophie der Inder,
3. Aufl.,Stuttgart 1974, S. 15.
(10)  Besonders positiv zeigt sich die Tierethik in den beiden
ebenfalls in Indien entstandenen, jedoch im Gegensatz
zum Hinduismus eindeutig atheistischen Religionen, nämlich
dem > Buddhismus und dem ihm verwandten > Jainismus .
Die Jaina-Religion kann, da der Schutz allen Lebens und somit
auch der Tiere sehr umfassend ist, fast als > „Tierschutz-Religion“
gelten, zumal die Jainas Vegetarier, viele sogar Veganer sind.
(11)  Arthur Schopenhauers handschritftlicher Nachlass
in der Staatsbibliothek Berlin, Senilia (1853) , Bl. 25.
(12) Dieter Birnbacher, a. a. O., S. 131.
Zum Begriff Rufer in der Wüste verweist Birnbacher auf Wolfgang Lenzen,
Liebe, Leben, Tod. Eine moralphilosophische Studie, Stuttgart 1999. S. 286.