Die geheime Kraft – der Wille

Gibt es eine Kraft, die bewirkt, dass alle Vielfalt dieser Welt und somit auch alles Leben aus dem – wie Arthur Schopenhauer es nannte – weltenschwangeren Nichts in Erscheinung tritt? Hierauf antwortete Schopenhauer mit einem wunderbaren, sehr aufschlussreichen Gleichnis, und zwar im Kapitel Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich im zweiten Band seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung:

“ Wenn wir nun […] den Blick vorwärts, weit hinaus in die Zukunft werfen, die künftigen Generationen, mit den Millionen ihrer Individuen, in der fremden Gestalt ihrer Sitten und Trachten uns zu vergegenwärtigen suchen, dann aber mit der Frage dazwischenfahren: Woher werden diese Alle kommen? Wo sind sie jetzt? – Wo ist der reiche Schooß des weltenschwangeren Nichts, der sie noch birgt, die kommenden Geschlechter? – Wäre darauf nicht die lächelnde und wahre Antwort: Wo anders sollen sie seyn, als dort, wo allein das Reale stets war und seyn wird, in der Gegenwart und ihrem Inhalt, also bei Dir, dem bethörten Frager, der, in diesem Verkennen seines eigenen Wesens, dem Blatte am Baume gleicht, welches im Herbste welkend und im Begriff abzufallen, jammert über seinen Untergang und sich nicht trösten lassen will durch den Hinblick auf das frische Grün, welches im Frühling den Baum bekleiden wird, sondern klagend spricht: »Das bin ja Ich nicht! Das sind ganz andere Blätter!« – O thörichtes Blatt! Wohin willst du? Und woher sollen andere kommen? Wo ist das Nichts, dessen Schlund du fürchtest? – Erkenne doch dein eigenes Wesen, gerade Das, was vom Durst nach Daseyn so erfüllt ist, erkenne es wieder in der innern, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets eine und dieselbe in allen Generationen von Blättern, unberührt bleibt vom Entstehn und Vergehn.“

Wenn Schopenhauer hierbei von einem weltenschwangeren Nichts spricht, so wird dadurch auch an dieser Stelle deutlich, dass dieses Nichts keinesfalls im absoluten, sondern nur im relativen Sinne zu verstehen ist, und somit alle, die seiner Philosophie einen Hang zum Nihilismus unterstellen, nur an ihrer Oberfläche geblieben sind.

Die geheime Kraft, „welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben bestimmt“, ist nicht irgendwo in der Welt, sondern – und das ist eine hochbedeutsame Erkenntnis Schopenhauers! – auch in uns selbst: „Ich nun aber habe gezeigt und habe es zumal in der Schrift Vom Willen in der Natur bewiesen, daß die in der Natur treibende und wirkende Kraft identisch ist mit dem Willen in uns.“(2)

Wenn die geheime innere Kraft oder, wie sie Schopenhauer nannte, der Wille in uns, identisch ist mit der, welche die Welt aus dem weltenschwangeren Nichts hervorbringt, dann besteht ein Zusammenhang zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, den Schopenhauer so beschrieb: „Das Wesen an sich des Menschen kann nur im Verein mit dem Wesen an sich aller Dinge, also der Welt, verstanden werden […]. Mikrokosmos und Makrokosmos erläutern sich nämlich gegenseitig, wobei sie als im Wesentlichen das Selbe sich ergeben.“(3) Somit liegt der Schluss nahe: Wer sich selbst erkennt, hat alles Wesentliche der Welt erkannt! Die von Arthur Schopenhauer hoch verehrten Weisen des alten Giechenlands kamen wohl zum gleichen Ergebnis: Erkenne dich selbst, lautete die Inschrift am Apollotempel in Delphi – ein Spruch des Weisen Cheilon, auf dem dann Sokrates seine Philosophie der Tugend gründete. (4)

H.B.

S. dazu auch > Der metaphysische Wille

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe),    Band  IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 559 f.
(2) Ebd.,  S. 691 f.
(3) Schopenhauer, a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II,
S. 26 f.
(4) Vgl. Philosophisches Wörterbuch, begr. v. Heinrich Schmidt,
21. Aufl., neu bearb. v. Georgi Schischkoff, Stuttgart 1982, S. 163.