Grenzen des Wissens

Eine Philosophie, meinte Arthur Schopenhauer, „die keine Frage mehr übrig ließe“, wäre eine „Allwissenheitslehre“. Diese aber sei unmöglich, denn „es gibt eine Grenze, bis zu welcher das Nachdenken vordringen und … die Nacht unseres Daseins erhellen kann, wenngleich der Horizont stets dunkel bleibt …“. 1 Ein seriöser Philosoph vermeidet es daher, die Grenzen seines Wissens zu überschreiten und ein angebliches Wissen vorzutäuschen, das in Wahrheit nur Glaube ist.

Dementsprechend wies Schopenhauer darauf hin, dass seine Philosophie nicht in dem Sinne zu verstehen sei, „daß sie kein Problem zu lösen übrig, keine mögliche Frage unbeantwortet ließe. Dergleichen zu behaupten, wäre eine vermessene Ableugnung der Schranken menschlicher Erkenntnis überhaupt. Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgrenzt bleiben … Daher muß die wirkliche, positive Lösung des Rätsels der Welt etwas sein, daß der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist; so daß wenn ein Wesen höherer Art käme und sich alle Mühe gäbe, es uns beizubringen, wir von seinen Eröffnungen durchaus nichts würden verstehen können. Diejenigen sonach, welche vorgeben, die letzten, d. i. die ersten, Gründe der Dinge … zu erkennen, treiben Possen, sind Windbeutel, wo nicht gar Scharlatane.“ 2

Einerseits hat das menschliche Wissen mehr oder weniger enge Grenzen, doch andererseits möchten die Menschen diese Grenzen überschreiten und wollen wissen, „was die Welt zusammenhält“, was jenseits allen Physischen sein könnte. Sie haben, wie Schopenhauer es nannte, „ein metaphysisches Bedürfnis“. Hierbei verstand er unter Metaphysik „jede angebliche Erkenntnis … über das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht“. 3

Im Hinblick auf dieses Bedürfnis gab Schopenhauer den Rat: Wer zu der „Erkenntnis, bis zu welcher allein die Philosophie ihn leiten kann, … Ergänzung wünscht, der findet sie am schönsten und reichlichsten im Oupnekhat4, der lateinischen Fassung der Upanishaden. Diese philosophischen Schriften aus dem alten Indien geben Antworten auf metaphysische Fragen, wie z. B.: Woher komme ich und wohin gehe ich? Es sind spirituelle Texte mit Erkenntnissen, zu denen altindische Weise (Rishis), einsam meditierend, wohl durch Intuition gekommen waren. Deren Wissen ging deshalb weit über das „normaler“ Alltagsmenschen hinaus, denn es seien, meinte Schopenhauer, „fast übermenschliche Konzeptionen, welche später in den Upanishaden der Veden niedergelegt wurden“. 5

Für viele „normale“ Menschen aber wird das „metaphysische Bedürfnis“ vor allem durch die jeweils vorherrschenden Landesreligionen mehr oder weniger erfolgreich erfüllt. Hierbei warnte Schopenhauer vor aufgezwungenen religiösen und anderen weltanschaulichen Dogmen: „Nichts kann jedoch der Auffassung auch nur des Problems der Metaphysik so fest entgegenstehen, wie eine ihm vorhergängige, aufgedrungene und dem Geist früh eingeimpfte Lösung desselben: denn der notwendige Ausgangspunkt von allem echten Philosophieren ist die tiefe Empfindung des Sokratischen: Dies eine weiß ich, daß ich nichts weiß.6

Obige Worte werden oft zitiert, doch vielleicht noch etwas treffender scheint mir das folgende Zitat zu sein:

Wenige wissen, wie viel man wissen muß,
um zu wissen, wie wenig man weiß.
7

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie sowie den Upanishaden > hier .

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 693.
2 Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt … II, S. 216 f.
3 Ebd., S. 191.
4 Schopenhauer, a. a. O., Band IV: Die Welt … II, S. 716.
5 Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt … II, S. 189.
6 Ebd., S. 218.
7 Zitat aus: Kurt Schmidt, Leer ist die Welt – Buddhistische Studien, Konstanz 1953, S. 75.

Schopenhauer – Vedanta – Buddhismus

Zu den ersten bedeutenden Abhandlungen über das Verhältnis der Philosophie  Arthur Schopenhauers zu den in Indien entstandenen Lehren, und zwar besonders zum Vedanta des Hinduismus und zum Buddhismus, gehörte das Buch, das  Max  Hecker 1897 unter dem Titel Schopenhauer und die indische Philosophie veröffentlichte.

Hecker kam dort zu dem Ergebnis, dass sich in seiner Untersuchung – abgesehen von kleinen Details – die “durchgängige Congruenz [Übereinstimmung] der Philosophie Schopenhauers und der Inder als eine wahrhaft überraschende herausgestellt” habe, “und zwar, ist die Schopenhauer’sche Philosophie durchweg eine Synthesis [Zusammenfügung] von Brahmanismus [aus dem der Hinduismus entstand], in Gestalt des Vedanta, und Buddhismus, deren Lehren in seinem Systeme zu höherer Einheit verbunden worden sind.

Wie Platon die Heraclit’sche Grundanschauung mit der des Parmenides in seiner Ideeenlehre verschmolzen hat, so Schopenhauer den brahmanischen und buddhistischen Idealismus. In der Lehre vom Willen als Ding-an-sich fliessen ebenfalls Vorstellungen des Brahmanismus und des Buddhismus zusammen, desgleichen in der Lehre von der Erlösung. Und wenn Schopenhauer im Jahre 1813 schrieb: ´Unter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Metaphysik in Einem sein soll` -, so sehen wir jetzt, dass diese Metaphysik wesentlich brahmanisches [und somit hinduistisches], die Ethik buddhistisches Gepräge aufweist. Seine Metaphysik ist die pantheistische Identitätslehre des Vedanta, seine Ethik die ´Vernichtung des Durstes`, die Buddha lehrt.

´Ich ordne an, ihr Jünger`, sagt Buddha, ´dass ein Jeder in seiner eigenen Sprache das Wort Buddhas lerne` (1) – das Abendland kann sie [die Lehre des Vedanta und die des Buddhismus ] in der Sprache Arthur Schopenhauers lernen.”(2)

Johannes Volkelt meinte in seinem in mehreren Auflagen erschienenen Werk über  Schopenhauer, dass Hecker in seinem “gründlichen” Buch “den Zusammenhängen Schopenhauers mit der indischen Philosophie … in ausführlicher und verdienstvoller Weise nachgegangen” sei, er habe aber dabei “nicht selten die Ähnlichkeiten übertrieben und die Abweichungen allzu sehr zurücktreten lassen”.(3)

Auf Schopenhauers Verhältnis zu den Lehren des Vedanta und des Buddhismus ging auch Helmuth von Glasenapp in Das Indienbild deutscher Denker näher ein, wobei er deutlicher als Hecker die Unterschiede hervorhob. Aber trotz dieser vom Standpunkt der späteren indologischen Forschung betonten Differenzen erkannte von Glasenapp an, dass “Schopenhauer wie kein anderer sich die größten Verdienste um die Verbreitung der Kenntnis indischer Weisheit im Abendland erworben” habe. “Niemand hat mit so edler Begeisterung wie er [Schopenhauer] immer wieder auf die geistigen Schätze des Gangeslandes hingewiesen, niemand hat ihnen durch seine Schriften so viele Freunde im Westen erworben wie er”. (4)

Zum 140. Geburtstage Schopenhauers veröffentlichte die Schopenhauer-Gesellschaft ihr fünfzehntes Jahrbuch, “dessen Philosophischer Teil” wie es im Vorwort heißt, “von einem einzigen Gedanken beherrscht wird: Europa und Indien”. Diesen Teil eröffnete Franz Mockrauer, Vorstandsmitglied der Gesellschaft, mit seinem Beitrag Schopenhauer und Indien. Gleich im ersten Absatz hob der Verfasser hervor: “Es ist keine Übertreibung, wenn man behauptet, daß die Lehre der Upanishads, des Vedanta und des Buddhismus ein Hauptbestandteil seiner [Schopenhauers] eignen Metaphysik geworden sind und an ihrer Gesamtgestaltung mitgewirkt haben.”(5)

Somit ist es durchaus verständlich, wenn Schopenhauerianer bei der Begegnung mit dem Vedanta oder dem Buddhismus den Eindruck haben, nicht wirklich fremden, sondern vertrauten Boden zu betreten. In diesem Sinne kann Arthur Schopenhauers Philosophie mit ihrer auch die Tiere einbeziehenden Mitleidsethik eine Brücke sein zu den altindischen Lehren, insbesondere zur Metaphysik des Vedanta und der allumfassenden Ethik des Buddhismus.

H.B.

S. auch
> Aranyakas – Upanishaden – Vedanta
> Schopenhauer und Buddhismus
> Schopenhauer : Metaphysik – jenseits der Physik

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
(1) Hermann Oldenberg, Buddha, hrsg. von Helmuth von Glasenapp,
Stuttgart o. J. , S. 188.
(2) Max F. Hecker , Schopenhauer und die indische Philosophie, Köln 1897, S. 253 f.
(3) Johanners Volkelt, Arthur Schopenhauer , 3. Auflage, Stuttgart 1907,
S. 197 und 438 (Anm. 292).
(4) Helmuth von Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart 1960, S. 99.
(5) 15. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft für das Jahr 1928, Heidelberg 1928, S. 3

Sexualität – Geschlechtsliebe

Wenn man … die wichtige Rolle betrachtet, welche die Geschlechtsliebe (so nennt  Arthur Schopenhauer die Sexualität ) in allen ihren Abstufungen und Nuancen, nicht bloß in Schauspielen und Romanen, sondern auch in der wirklichen Welt spielt, … da wird man veranlaßt auszurufen: Wozu der Lärm? Wozu das Drängen, Toben … ? Es handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grete finde: weshalb sollte eine solche Kleinigkeit eine so wichtige Rolle spielen und unaufhörlich Störung und Verwirrung in das wohlgeregelte Menschenleben bringen?

Nur eine Kleinigkeit? – Keineswegs, denn immerhin hat Schopenhauer dem Thema Sexualität ein ganzes Kapitel ( Metaphysik der Geschlechtsliebe ) in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung eingeräumt. Dort hebt er hervor: Der Endzweck aller Liebeshändel … ist wirklich wichtiger als alle andern Zwecke im Menschenleben, und daher des tiefen Ernstes, womit jeder ihn verfolgt, völlig wert. Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres als die Zusammensetzung der nächsten Generation.

Nach Arthur Schopenhauer beruht Geschlechtsliebe nicht bloß auf chemischen und physikalischen Vorgängen, sondern primär auf etwas Metaphysischem, das hinter allen Erscheinungen dieser Welt steht. Schopenhauer bezeichnet es als Wille, weil dieses Metaphysische sich vor allem im Willen zum Leben äußert. Deutlichster Ausdruck dieses Willens zum Leben und damit der Lebensbejahung ist der Geschlechtstrieb. Dieses Thema spielt eine zentrale Rolle in der Philosophie Schopenhauers. Seine Philosophie trug wesentlich dazu  bei, dass in der Folgezeit – insbesondere im Zusammenhang mit der Lehre von Sigmund Freud – Sexualität neu bewertet wurde. Freud selbst hat ja auf die Übereinstimmung seiner Lehre mit Schopenhauers Philosophie hingewiesen.

Biologisch gesehen, setzte die Entwicklung zu komplexen höheren Lebensformen zwei Geschlechter und mithin Sexualität voraus. Dementsprechend wird auch das Leben der Menschen – denn sie sind untrennbarer Teil der Natur – trotz aller individuellen Unterschiede mehr oder weniger weitgehend durch Sexualität beeinflusst. Es stellt sich dabei die Frage: Ist der Mensch, der von Sexualität beherrscht wird, wirklich der Treibende oder ist er nur der Getriebene? Jedenfalls ist das für mich ein weiterer Grund, an der vermeintlichen Freiheit des menschlichen Willens zu zweifeln.  Ja, je älter ich werde und je länger ich die Welt und ihre Menschen betrachte, desto mehr stimme ich auch bei diesem Thema Schopenhauer zu. Dieser hielt den Glauben, der Mensch habe einen freien Willen, für einen Wahn.  Die moderne Hirnforschung scheint Schopenhauer zu bestätigen. Übrigens, Forschungen ergaben: Sexualität spielt sich weitgehend im Kopf ab, so dass dieser auch hierbei (trotz manch gegenteiliger Behauptung) der wichtigste Körperteil ist.
hb

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Kirche – teurer Luxus?

Eine längst prophezeite Epoche ist eingetreten: die Kirche wankt, wankt so stark, dass es sich frägt, ob sie den Schwerpunkt wiederfinden werde: denn der Glaube ist abhanden gekommen, stellte schon vor über 150 Jahren Arthur Schopenhauer fest. Die steigende Zahl der Kirchenaustritte scheint Schopenhauers Ansicht zu bestätigen, aber „wankt“ deshalb die Kirche? Ich bezweifele das, denn trotz erheblichen Mitgliederschwundes ist die Kirche in Staat und Gesellschaft überaus einflussreich geblieben. Auch wenn vielen Kirchenmitgliedern der Glaube weitgehend „abhanden gekommen“ ist, so bleiben sie ihrer Kirche als Steuerzahler bzw. über Taufen, kirchliche Trauungen, Beerdigungen usw. verbunden. Vor allem sind die großen Kirchen durch rechtliche Privilegien und erhebliche finanzielle Förderung des Staates bestens abgesichert. Die Kirche muss sich also um ihre Existenz keine Sorgen machen, womit ich natürlich nur die großen „Volkskirchen“ meine. Das Urteil – oder sollte ich besser sagen die Hoffnung – Schopenhauers war wohl verfrüht. 

Wie sehr sich Schopenhauer, was die Zukunft der Kirche angeht, irrte, wurde mir aus einem Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 29. Juli 2010 deutlich: Unter der bezeichnenden Überschrift „Segensreiche Pfründe“ meldete die Zeitung, dass die Bundesländer (außer Bremen und Hamburg) in diesem Jahr knapp 460 Millionen Euro Staatsleistungen an die Kirchen abführen müssen. Es sind, wie der Bericht erläuterte, „öffentliche Mittel, die nicht etwa den kirchlichen Sozialeinrichtungen wie der Caritas oder der Diakonie zugute kommen – die werden mit zusätzlichen Milliarden an staatlicher Hilfe betrieben. Auch staatliche Zuschüsse für die Instandhaltung und Restaurierung von Kirchen kommen noch einmal drauf.“  Das in Zeiten knapper öffentlicher Kassen, in denen die Kommunen wegen fehlender Mittel ihre sozialen Aufgaben kaum noch erfüllen können! Doch gibt es dafür eine Rechtfertigung: den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 !!! So muss der Steuerzahler seit mehr als 200 Jahren die damalige Enteignung kirchlicher Güter immer noch ausgleichen.

Auch wenn es die Steuerzahler nicht einsehen, sie werden für den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 weiter zahlen, denn, so die Zeitung, „wie es aussieht, werden die Kirchen auch künftig nichts zu fürchten haben“. Falls die historische Begründung nicht reichen sollte, warnte vorsorglich der CSU-Bundestagsabgeordnete Geis davor, den Kirchen die finanzielle Grundlage zu entziehen, da sie eine stabilisierende Kraft in der Gesellschaft seien. So ist es dann nicht verwunderlich, wenn durch den Staat auch weiterhin das finanzielle Wohlergehen der Kirchen gesichert, ja eigentlich schon fast garantiert wird. Übrigens, für die Kosten der  großzügigen Kirchensubventienierung müssen – zumindest indirekt – alle Steuerzahler aufkommen, also auch die nichtkirchensteuerpflichtigen Andersgläubigen bzw. Atheisten.

Was finanziert eigentlich der Steuerzahler, wenn er die Kirche unterstützen muss? Finanziert er Luxus, d. h., ist die Kirche selbst ein Luxus? Sicher nicht für Kirchengläubige. Die Kirche vermittelt ihnen Religion und hat damit eine wichtige Aufgabe, nämlich – worauf Arthur Schopenhauer besonders hinwies – die Befriedigung metaphysischer Bedürfnisse. Religion ist, so Schopenhauer, Metaphysik fürs Volk und kann deshalb nicht durch bloße Philosophie und schon gar nicht durch materialistische Weltanschauungen ersetzt werden. Verständlich, wenn den Gläubigen ihre Kirche „lieb und teuer“ ist. Gewiss, die Ausgaben der Kirche sind groß, doch frage ich mich: Geht es hierbei wirklich um Gottes Willen oder vielmehr um Gottes Villen?
hb

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Schopenhauer : Metaphysik und der innere Weg

Philosophie, erklärte Arthur Schopenhauer im Kap. „Über das metaphysische Bedürfnis des Menschen“, ist wesentlich Weltweisheit. Von einer Weltweisheit erwarte ich, dass sie mir Lebensorientierung gibt, und zwar gerade in den schweren Stunden des Lebens. Vertiefe ich mich jedoch dazu in philosophische Lehrbücher, so bekomme ich dort eine Vielzahl von zumeist einander widersprechender Meinungen geboten, ja oft habe ich den Eindruck bloßer Begriffsakrobatik. Aussagen, die wirklich etwas mit meinem Leben hier und heute zu tun haben, finde ich dort eher selten.

Da schon in der Schule die Naturwissenschaften meine Lieblingsfächer waren, hatte ich gehofft, durch sie Antworten auf existentielle Lebensfragen zu finden. Hierbei fiel mir auf, dass insbesondere in den Grenzbereichen der Physik Probleme aufgeworfen werden, die nicht wenige Physiker veranlassten, nach Antworten zu suchen, die jenseits der Physik liegen. So zum Beispiel „liebte“ Albert Einstein, wie er selbst bekannte, vor allem die Werke Schopenhauers, ja in einer weit verbreiteten Einstein-Monografie wird Schopenhauer sogar als dessen „Mentor“ bezeichnet. Noch enger verbunden mit Arthur Schopenhauer war einer der bedeutendsten Schüler Einsteins, der spätere Physik-Nobelpreisträger Wolfgang Pauli, den man zu Recht als „Schopenhauerianer“  bezeichnen könnte.

Andererseits hatte Schopenhauer, der mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner  Zeit durchaus gut vertraut war, die Bedeutung der Physik für die Erklärung unserer Welt hervorgehoben. Hierbei wies Schopenhauer aber auch darauf hin, dass die Physik wie alle Naturwissenschaften ihre Grenzen hat, so dass sie zwar helfen kann, Probleme zu erkennen, aber nicht bis in ihre letzten Ursachen zu lösen. So war Schopenhauer davon überzeugt, dass die Physik, nicht … zur befriedigenden Lösung des schweren Rätsels der Dinge  und zum wahren Verständnis der Welt jemals zu führen vermag.  Der Schlüssel zur Lösung liege nicht in der Physik, sondern jenseits von ihr, in der Metaphysik. Nur die Metaphysik gäbe Aufschluss … über das, was hinter der Natur steckt, und sie möglich macht.

Schopenhauer meinte damit nicht die „Volksmetaphysik“, wie sie den Menschen von den herrschenden Religionen schon im Kindesalter als Dogmen einprägt wird, sondern eine im echten Sinne philosophisch auf Erfahrung beruhende Metaphysik. Eine solche Metaphysik ist ein Wissen, geschöpft aus der Anschauung der äußern, wirklichen Welt. Entscheidend sei hierbei die Einsicht, dass die letzten  und wichtigsten Aufschlüsse über das Wesen der Dinge allein aus dem Selbstbewusstsein geschöpft werden können. Also: Nicht in den Naturwissenschaften, auch nicht in den Dogmen der „Landesreligionen“, sondern nur in uns selbst können wir – wenn überhaupt – letztlich das finden, was hinter unserem Leben steht, ja dieses überhaupt erst möglich macht.

Gründliche, klare und zusammenhängende Kenntnis aller Zweige der Naturwissenschaft
, schrieb Schopenhauer, sei wichtig, um das metaphysische Problem zu erkennen, dann aber muss der Blick des Forschers sich nach innen wenden. Somit geht es um einen, wie ich es nennen möchte, „inneren Weg“. Schopenhauer wies dazu an vielen Stellen seines Werkes auf die zentrale Bedeutung von  Kontemplation bzw. >  Meditation hin. So befindet er sich auch in dieser Hinsicht in erstaunlicher Übereinstimmung mit den „indischen“ Religionen, die in ihrem Kern weniger Glaubens- als vielmehr Erkenntnislehren sind. Das gilt vor allem für den Buddhismus. Schon vor mehr als 2500 Jahren verkündete der Buddha: In diesem sechs Fuß hohen, mit Wahrnehmung und Bewußtsein versehenen Körper, da ist die Welt enthalten, ihr Entstehen und Vergehen, wie auch zu der Welt Ende führende Pfad.

Heute setzt sich immer stärker die Erkenntnis durch: Wir sind  nicht die von Gott gewollten Herrscher über die Natur, sondern ein untrennbarer Teil von ihr, ja wir sind selbst Natur. Suchen wir das, was das eigentliche „Wesen“ der Natur ist, so muss das Gesuchte auch in uns selbst enthalten sein.  Philosophische Schriften zur „Weltweisheit“, einschließlich die von Arthur  Schopenhauer, können hierbei bestenfalls wertvolle Hinweise geben. Sie sind jedoch, wie es in einem Gleichnis aus dem ZEN heißt, nur der Finger, der auf den Mond weist, nicht der Mond selbst.

Übrigens, der „innere Weg“ bedeutet nicht unbedingt völlige Abkehr vom äußeren Leben oder gänzlicher Rückzug aus dieser Welt – das wäre ohnehin kaum möglich. Bereits ein besinnlicher, achtsamer  Gang inmitten der Natur, kann schon zu Erkenntnisse führen, die kein Biologiebuch zu vermitteln vermag. Mir jedenfalls hat das schon sehr geholfen und, wie ich glaube, auch weitergebracht, und zwar nicht nur in äußerlicher Hinsicht. Aber: Wenn man sich hierbei, wie auch von Schopenhauer beschrieben wurde, eins mit der Natur fühlt, wie kann man dann noch Äußeres und Inneres unterscheiden? Die Antwort hierauf haben die altindischen Weisen, die „Rishis“, gegeben, deren, so Schopenhauer, fast übermenschliche Konzeptionen später in den Upanishaden niedergelegt wurden. Für Schopenhauer enthielten die Upanishaden den Gipfel metaphysischer Erkenntnis, ausgedrückt im Tat-tvam-asi = Das bist du selbst, die Identität der Weltseele mit der Einzelseele. Demnach ist in seinem Wesen das Äußere identisch mit dem Inneren!

Anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2006 wurde zur Ausstellung ein Begleitbuch mit Beiträgen zum Thema “ Arthur Schopenhauer und Indien “ herausgegeben. Es trägt den Titel Das Tier, das du jetzt tötest, bist du selbst… Bereits 1977 brachte ich in meinem Beitrag Vegetarismus und Tierschutz in der (indischen) Jaina-Religion in der Zeitschrift „Der Vegetarier“  ein ähnliches Zitat. Ich verwies dabei auf den Grundsatz der AHIMSA, der Gewaltlosigkeit, der auch gegenüber Tieren gilt, und der, wie der deutsche Religionswissenschaftler Heiler schrieb, in der letzten Identität zwischen Mensch und Tier wurzelt. Der damalige Redakteur der genannten Zeitschrift, ein Professor der Biologie, verstand zunächst diese Begründung nicht.

Heute weiß ich, und zwar durch Schopenhauer: Nur durch Biologie, also ohne Metaphysik, ist das obige Zitat nicht wirklich zu verstehen. Ja, ohne Metaphysik kann ethisches Denken und Handeln nicht begründet und damit auch eine Lebensorientierung, die mehr ist als eine bloß egoistisch ausgerichtete Lebensgestaltung, nicht gefunden werden. Auch diese keineswegs nur theoretische, sondern höchst praktische Erkenntnis gehört für mich zu Arthur Schopenhauers Lebensphilosophie.
hb

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Arthur Schopenhauer : Metaphysik – ein menschliches Bedürfnis

Arthur Schopenhauer und „das metaphysische Bedürfnis“

Schopenhauer hat sich zu diesem, für ihn sehr wichtigen Thema ausführlich in Kapitel 17 des 2. Bandes seines Hauptwerkes  „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Band2) geäußert. Hierbei verstand er unter Metaphysik „jede angebliche Erkenntnis … über das, was hinter der Natur steht und sie möglich macht.“ Eine solche Erkenntnis sei, so Schopenhauer, möglich, weil unsere Erfahrung aus zwei Teilen besteht, nämlich das, was wir als „Erscheinung“ wahrnehmen und jenes, das hinter den Erscheinungen steht – nach Kant  „das Ding an sich“ , oder wie es Schopenhauer nannte : Der Wille“.

Physik und Metaphysik unterscheiden sich (nach Schopenhauer) dadurch, dass  Physik die  „Erscheinungen“ , hingegen die Metaphysik „das Ding an sich“ betrifft. Hinter dem Physischen der Welt stecke ein Metaphysisches. So sei die Metaphysik die letzte Erklärung der „Urphänomene“ und damit insgesamt auch der Welt.

Das Bedürfnis nach einer solchen „letzten“ Erklärung der Welt und damit nach Metaphysik ergebe sich dann, wenn der  Mensch über sein eigenes Dasein verwundert sei und sich seiner Sterblichkeit bewusst werde.  Dieses metaphysische Bedürfnis wird für viele Menschen durch die Religion befriedigt.  Für „philosophisch veranlagte Köpfe“  hingegen, reiche die von der Religionen  gelieferte „leichte Kost“ nicht; sie suchen nach tieferen Erkenntnissen. Hierbei, so schien es Schopenhauer, hatten frühere Menschengeschlechter, da sie der Natur näher standen, eher die Fähigkeit, zu tieferen (metaphysischen) Einsichten in das Wesen der Natur zu kommen, als die heutigen Menschen.  Sie konnten so ihr metaphysisches Bedürfnis auf eine (im Vergleich zu den heute herrschenden Religionen) „würdigere Weise“ befriedigen.

Schopenhauer wies in diesem Zusammenhang auf die altindischen Upanishaden der Veden hin. Die Upanishaden waren für Schopenhauer die hervorragendste Quelle, das metaphysische Bedürfnis des Menschen zu stillen, ja sie wurden für ihn selbst zum „Trost seines Lebens und Sterbens“.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer > www.arthur-schopenhauer-studienkreis.de