Schopenhauer als Erlebnis

In seinem berühmten Essay Schopenhauer schrieb Thomas Mann, dass in der Philosophie Arthur Schopenhauers ein Wahrheitserlebnis sei, so annehmbar, so hieb- und stichfest, so richtig, wie ich es sonst in keiner Philosophie gefunden habe.*

Nicht nur  Thomas Mann, auch viele andere vor und nach ihm fanden bei Schopenhauer Wahrheiten, die sie tief bewegten und ihr Leben nachhaltig prägten. Hans Zint, ehemals viele Jahre Präsident der Schopenhauer- Gesellschaft, nannte dazu in seinem posthum unter dem Titel Schopenhauer als Erlebnis veröffentlichen Buch zahlreiche sehr  beeindruckende  Beispiele. Hierbei wies er auf  „besonders eindrucksmächtige Grundgedanken“ von Schopenhauers Werk hin, „die für das Schopenhauer-Erlebnis bestimmend sind.

Da ist es vor allem die Willensmetaphysik und die Ethik, das 2. und das 4. Buch des Systems, die beherrschend in den Vordergrund treten. Freilich hat auch die Erkenntnislehre, diese geniale Vereinfachung der großen Entdeckung Kants, hat auch die Metaphysik des Schönen mit ihren lebensvollen Urbildern, ihrer willensfreien Erkenntnis, ihrer tiefsinnigen Deutung der Musik, von jeher starke Wirkungen ausgeübt. Während aber jene vor allem einem schon erweckten erkenntnistheoretischen Interesse neue Nahrung zuführt, diese wiederum kontemplative Fähigkeiten voraussetzt und deshalb vorwiegend den ausübenden Künstler, den Kunst- und Naturfreund anspricht, ist die Entdeckung des Willens als der treibenden Kraft im Weltall wie in der Brust des Menschen, ist die Charakteristik  dieses Willens mit ihren Folgerungen dasjenige, was als der entscheidende Aufschluß wohl von sämtlichen Jüngern alter und
neuer Zeit mit der stärksten Wucht empfunden worden ist.

Freilich beginnt hier auch die Schwierigkeit, die das wirkliche Schopenhauerverständnis auf immer nur wenige beschränkt. Denn Schopenhauer ist schwer, – er ist gar nicht eigentlich zu verstehen, sondern zu erleben. Erlebt man ihn aber, die beiden großen Erfahrungen: das Triebartige alles Daseins und das Überpersönliche im Menschen –, so ist eine Grundstimmung unseres inneren Lebens damit bestimmt – dieser Ausspruch von Heinrich von Stein (2)  mag hier statt aller anderen Hinweise als Merkmal und
Prüfstein für ein schwer Aussprechbares stehen: wer sich ihn nicht zu eigen zu machen vermag, sondern an Schopenhauers Willensbegriff herumkrittelt und sich von dem Willensbegriff des gemeinen Sprachgebrauchs nicht losmachen kann, wird niemals
wissen, worum es sich handelt […]

Keinen der echten Jünger aber finden wir, der nicht von eben diesem Kerngedanken aufs entschiedenste ergriffen worden wäre, wenn es auch der Zeugnisse nicht wenige gibt, – aus alter wie neuer Zeit -, daß bisweilen erst ein Erschrecken eintrat, schwere Hindernisse zu überwinden waren, Kämpfe vorangehen mußten, bevor auch hier restlos und ohne Kompromiß Erlebnis wurde […]

Als besonders eindringlich haben sich schließlich gewisse kleinere Stücke in Schopenhauers Werk erwiesen: wie etwa die Abhandlung Über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, die mancher schon in seinem Leben bestätigt
gefunden, oder das Kapitel Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“, das unlängst erst einem qualvoll sterbenden jungen Menschen die letzten Stunden erleichtert hat.“**

Übrigens, die letzten Worte des obigen Zitates gehen mir, dem Verfasser dieses Beitrages, besonders nahe, denn ich habe beim Tode eines Freundes, mit dem ich in seinen letzten Tagen das Schopenhauer-Kapitel über den Tod gelesen hatte, selbst erlebt, wieviel Trost und Hoffnung Schopenhauer noch am Ende zu geben vermag. Vielleicht verstehe ich seitdem etwas besser, wenn Thomas Mann seinen eingangs zitierten Worten hinzufügte:

Man kann damit [also mit Schopenhauers Philosophie] leben und sterben, – namentlich sterben: Ich wage zu behaupten, daß die schopenhauersche Wahrheit, daß ihre Annehmbarkeit in der letzten Stunde standzuhalten, und zwar mühelos, ohne Denkanstrengung, ohne Worte standzuhalten geeignet ist.„*

Dieses letzte, wohl stärkste Schopenhauer-Erlebnis zeigt, dass sich die Lebensphilosophie Arthur Schopenhauers auch und gerade dann bewährt hat, wenn es um die andere, zumeist verdrängte Seite des Lebens geht, nämlich den Tod, der uns allen gewiss ist.

H.B.

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Quellen
* Thomas Mann , Schopenhauer . In: Über Arthur Schopenhauer , hrsg. v. Gerd Haffmans,  3. Aufl., Zürich 1981. S. 112.
** Hans Zint , Schopenhauer als Erlebnis , München 1954, S. 161 f.