Schopenhauer und die Lehre des Buddha

Gegen Ende seines Lebens ging für Arthur Schopenhauer ein Herzenswunsch in Erfüllung: Ein Bekannter besorgte ihm aus Paris eine Buddha-Statue. Schopenhauer ließ sie vergolden und stellte sie, wie er in seinem Brief vom 13. Mai 1856 an Julius Frauenstädt mitteilte, auf eine schöne Konsole, so daß Jeder beim Eintritt schon sieht, wer in diesen „heiligen Hallen“ herrscht.

Schopenhauers tiefe Verehrung des Buddha, die hier zum Ausdruck kam, ist durchaus verständlich, denn seine Lehre, so schrieb er am 25. Februar 1856 an Adam von Doss, würde mit dem Buddhismus wundervoll übereinstimmen. Daher liegt es nahe, die Lehre des Buddha mit der Schopenhauers zu vergleichen und zu fragen, worin diese nach Meinung Schopenhauers „wundervolle“ Übereinstimmung besteht.

In einem Vortrag, den ich am 25. März 1984 im Buddhistischen Haus, Berlin-Frohnau, gehalten hatte, war ich etwas näher auf die vielen erstaunlichen Gemeinsamkeiten  zwischen beiden Lehren eingegangen. Der Vortrag fand erhebliches Interesse, so dass er als Kurzfassung  in den von der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg herausgegebenen Buddhistischen Monatsblättern (1984/1) abgedruckt wurde.

Außerdem hatte ich über dieses Thema im Mai 1986 vor der Altbuddhistischen Gemeinde gesprochen, wobei ich sehr viel Zustimmung erhielt, zumal die Gemeinde schon durch ihren Gründer, Georg Grimm, der Philosophie Schopenhauers besonders  positiv gegenüberstand.

Hierzu möchte ich noch anmerken, dass mein Vortrag damals auch zur ersten Einführung in den Buddhismus diente und dementsprechend möglichst allgemeinverständlich sein sollte, weshalb die nachstehende Darstellung keine besonderen Vorkenntnisse, und zwar weder der Philosophie Schopenhauers noch der Lehre des Buddha, erfordert.

Im übrigen ist dieses Thema auch mit meinem persönlichen Weg verbunden, denn ich kam vor mehr als vierzig Jahren im Rahmen meiner Vorträge und Publikationen über den Buddhismus und den ihm verwandten Jainismus zu Arthur Schopenhauer, dessen Philosophie seitdem zu meinem Leben gehört.

Da mein Vortrag  damals auf viel Interesse stieß, darf ich, obwohl inzwischen einige Jahrzehnte vergangen sind, annehmen, dass auch manche Freunde und Leser dieses Blogs an der nun folgenden Kurzfassung meines Vortrags interessiert sind:

Wie kaum ein anderer hat Arthur Schopenhauer dazu beigetragen, daß der Buddhismus in Deutschland im 19. Jahrhundert bekannt wurde und – zumindest mittelbar – Einfluß auf das deutsche Geistesleben gewann. Für viele Persönlichkeiten, die später bekannte Buddhisten wurden, war Schopenhauer Lehrmeister und Wegweiser zur Buddha-Lehre: z. B. für den bereits erwähnten Gründer der Altbuddhistischen Gemeinde, Georg Grimm, welcher über Schopenhauers Philosophie zum Buddhismus kam,  und Eugen Neumann, der wichtige buddhistische Texte aus der altindischen Palisprache in das Deutsche übersetzte. Das allein zeigt schon, wieviel der Buddhismus in Deutschland Schopenhauer verdankt.

Der Ausgangspunkt der Philosophie Schopenhauers ist – wie bei der Lehre des Buddha – eine Erfahrung, die früher oder später jeder von uns machen muß, nämlich die, daß Alter, Krankheit und Tod die wirklichen Begleiter unseres Lebens sind, ja daß das Leben schlechthin Leiden bedeutet. Im Dhammapada, der ältesten Spruchsammlung mit buddhistischen Weisheiten, ist diese Erfahrungstatsache in dem Satz zusammengefaßt:

Alles Sein ist flammend Leid.

Schopenhauer hat das in seinen Werken sehr eindrucksvoll beschrieben, und wie der Buddha, so fragte auch er sich: Wodurch kann das Leiden überwunden werden? Was sind seine Ursachen? Hierbei ging Schopenhauer von der Erkenntnis aus, daß wir die Welt nicht objektiv, sondern nur subjektiv wahrnehmen, und zwar so, wie uns die Welt nach unseren Vorstellungen erscheint. Wir sehen die Welt gewissermaßen wie durch eine Brille mit gefärbten Gläsern. Je nach unseren Stimmungen erscheint uns die Welt manchmal trübe, dunkel, grau in grau, manchmal aber hell und freundlich, in rosigen Farben. Die objektive Seite der Welt, also das, was hinter unseren Vorstellungen steht, ist nach Schopenhauer der Wille. Diese Kraft wirkt in uns wie in allen Wesen als blinder Lebenstrieb, als Begehren, als unersättlicher Drang nach immer neuer Bedürfnisbefriedigung.

Der Wille ist ewig erneuerte Begierde, zielloses Streben. Unbefriedigtsein und daher Unlust ohne Ziel und Ende. Alle Lust ist flüchtige Aufhebung der Unlust, sie erlischt, um neuer Unlust, neuem Begehren, neuen Schmerzen Platz zu machen. Nie stillt sie den Mangel . . . . ._ Daß wir überhaupt wollen ist unser Unglück…… Aber das Wollen kann nie befriedigt werden; daher hören wir nie auf zu wollen, und das Leben ist ein dauernder Jammer.“ (Schopenhauer)

Deshalb ist das Wollen, das Begehren, die Ursache des Leidens. Das Leiden kann demnach nur dann vollständig beseitigt werden, wenn seine Ursache, also das Wollen, überwunden wird.

Welchen Weg müssen wir beschreiten, um uns von diesem unheilsamen Willensdrang befreien zu können? Der Schlüssel, der uns den Zugang zu diesem Weg eröffnet, ist das Mitleid. Durch das Mitleid wird das Leid des anderen zum eigenen Leid. Wir versetzen uns dabei in die Lage des anderen, wobei dieses „Hineinversetzen„, dieses „Mit-Leiden“ dann soweit gehen kann, daß wir uns mit dem anderen Menschen und schließlich mit allen Lebewesen identifizieren. Das ist eine Erfahrungstatsache, die jeder durch eigenes Erleben unmittelbar bestätigt finden wird. Wer das erlebt hat, der erkennt, daß alles Leben letztlich wesensgleich, ja eine Einheit ist. In diesem Einheitserlebnis werden die Schranken zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ aufgehoben und so die Identität beider erfahren und erkannt. Im Dhammapada, der ältesten Spruchsammlung mit buddhistischen Weisheiten, heißt es hierzu:

Ein jedes Wesen scheuet Qual,
und jedem ist sein Leben lieb,
Erkenn‘ dich selbst in jedem Sein,
Und quäle nicht und töte nicht.

Daher war für Schopenhauer wie für den Buddha das Mitleid allumfassend und nicht nur auf den Menschen bezogen, sondern auch auf die Tiere, „für welche in den anderen europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist. Die vermeintliche Rechtlosigkeit der Tiere, der Wahn, daß unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es gegen Tiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende Rohheit und Barbarei des Abendlandes….. Mitleid mit Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere graumsam ist, könne kein guter Mensch sein.“ (Schopenhauer)

Tiefgefühltes Mitleid mit allem, was Leben hat, ist aber nicht lediglich ein passives Empfinden, denn es äußert sich in der „Güte des Herzens„, die von Schopenhauer mit Worten beschrieben wird, die in ihrer sprachlichen Schönheit und Kraft kaum zu übertreffen sind:

Wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann sie den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, daß man solche vermißt zu haben sich schämt. Sogar der beschränkteste Verstand, wie auch die groteske Häßlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich in ihrer Begleitung kundgetan, gleichsam verklärt,umstrahlt von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muß. Denn die Güte des Herzens ist eine transzendente Eigenschaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichenden Ordnung der Dinge an und ist mit jeder anderen Vollkommenheit nicht vergleichbar. Wo sie in hohem Grade vorhanden ist, macht sie das Herz groß, daß es die Welt umfaßt, so daß jetzt alles in ihm, nichts mehr außerhalb liegt; da sie ja alle Wesen mit dem eigenen identifiziert. Alsdann verleiht sie auch gegen andere jene grenzenlose Nachsicht, die sonst jeder nur sich selber widerfahren läßt. Ein solcher Mensch ist nicht fähig, sich zu erzürnen: sogar wenn etwa seine eigenen intellektuellen oder körperlichen Fehler den boshaften Spott und Hohn anderer hervorgerufen haben, wirft er, in seinem Herzen, nur sich selber vor, zu solchen Äußerungen der Anlaß gewesen zu sein, und fährt daher, ohne sich Zwang anzutun, fort, jene auf das liebreichste zu behandeln, zuversichtlich hoffend, daß sie von ihrem Irrtum hinsichtlich seiner zurückkommen und auch in ihm sich selber wiedererkennen werden.

Wer diese Worte Schopenhauers vergleicht mit der Lobpreisung der „Metta“ im buddhistischen Pali-Kanon, wird eine geradezu vollkomene Übereinstimmung feststellen können, denn Metta, die unermeßliche Güte zu allem Lebendigen, war für den Buddha die höchste der Tugenden.

Alle echte, d.h. uneigennützige Tugend beruht auf dem Mitleid, der Güte des Herzens, und das ist die eigentliche Triebfeder eines wahrhaft selbstlosen Verhaltens.

Denn grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner besonderen Begründung. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig keinen verletzen, keinen beeinträchtigen, keinem wehe tun, vielmehr mit jedem Nachsicht haben, jedem verzeihen, jedem helfen, so viel er vermag.“ (Schopenhauer)

Selbstloses Verhalten, also echte Tugend, ist die Voraussetzung für die Überwindung des Willens, des Egoismus, denn Egoismus bejaht den Willen, ja er ist mit ihm identisch. Überwindung des Willens, des Begehrens, so lehrte Schopenhauer wie der Buddha, erfordert aber auch eine höhere Art von Erkenntnis, welche wir durch kontemplative Betrachtung in meditativer Versenkung, durch „reine Anschauung“ gewinnen. „Alle Weisheit beruht zuletzt auf Anschauung und nicht abstrakten Sätzen.“ (Schopenhauer)

Tugend, Meditation und Weisheit sind die drei Kennzeichen des buddhistischen Weges zur Erlösung vom Leiden, zum Nirvana, und diesen Weg wies auch Schopenhauer. So finden wir die Vier Edlen Wahrheiten, den Kern der buddhistischen Lehre, in der Philosophie Schopenhauers in wunderbarer Übereinstimmung wieder. Mit Recht bezeichnete daher Schopenhauer sich selbst und seine Anhänger als „Buddhaisten„.

Wie sehr die Philosophie Schopenhauers gleich der Lehre des Buddha zutiefst Erlösungsmystik ist, beweisen die folgenden ergreifenden Worte Schopenhauers:

Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntnis gelangt, sich in allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte …, so zeigt sich uns statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Überganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüts, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz … ein ganzes und sicheres Evangelium ist. Nur die Erkenntnis ist geblieben, der Wille ist verschwunden …. Was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrigbleibt, ist für alle die, welche noch des Willens voll sind, allerdings nichts. Aber auch umgekehrt ist denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – nichts.“

Hieraus läßt sich aber keinesfalls eine nihilistische, die Transzendenz leugnende Auslegung der Buddha-Lehre herleiten. Denn mit überzeugender Begründung bemerkte Schopenhauer völlig zutreffend, daß seine Lehre, und das gilt gleichermaßen auch für die Lehre des Buddha, nur von dem reden kann, „was verneint, aufgegegeben wird: was dafür aber gewonnen wird, ist sie genötigt als Nichts zu bezeichnen und kann bloß den Trost hinzufügen, daß es nur ein relatives, kein absolutes Nichts sei. Denn wenn etwas nichts ist von allem dem, was wir kennen, so ist es allerdings für uns überhaupt nichts. Dennoch folgt hieraus noch nicht, daß es absolut nichts sei, daß es nämlich auch von jedem möglichen Standpunkt aus und in jedem möglichen Sinne nichts sein müsse; sondern nur, daß wir auf eine völlig negative Erkenntnis desselben beschränkt sind; welches sehr wohl an der Beschränkung unseres Standpunktes liegen kann.

Über das Nirvana, dem buddhistischen Heilsziel, schrieb Schopenhauer:

Die Buddhisten aber bezeichnen, mit voller Redlichkeit, die Sache bloß negativ, durch Nirvana, welches die Negation dieser Welt oder des Sansara ist. Wenn Nirvana als das Nichts definiert wird, so will dies nur sagen, daß der Sansara kein einziges Element enthält, welches zur Definition oder Konstruktion des Nirvana dienen könnte.

Für den Buddha und für viele andere, die seinen Weg gegangen sind, wurde das Nirvana, wo alles Leiden vollständig und endgültig überwunden ist, eine unumstößliche von ihnen selbst erlebte Tatsache. Es ist ein Zustand unbeschreiblichen höchsten Glücks, vollkommenen Friedens, der schon hier und heute erlebt werden kann. Von dieser Heilsgewißheit künden Worte des Buddha, welche in ihrer Schlichtheit die tiefe religiöse Wahrheit enthalten:

Es gibt ein Nichtgewordenes, Nichtgestaltetes, Nichtgeborenes, und deshalb gibt es einen Ausweg aus dem Gewordenen, Gestalteten, Geborenen.

Auch Schopenhauer wußte das, und von diesem Wissen zeugen seine Worte:

Hinter unserem Dasein steckt etwas anderes, welches uns erst dadurch zugänglich wird, daß wir die Welt abschütteln.

In dieser Erkenntnis sind viel Hoffnung und Ermutigung.

buddha

Das obige Bild des Buddha ist aus: Arthur Schopenhauer , Leben und Werk in Text und Bildern, hrsg. von Angelika Hübscher, Frankfurt a. M. 1989, S. 291. Ob dieses Bild die Buddha-Statue zeigt, die Schopenhauer in seinem Haus aufstellte, ist ungewiß. Jedoch kann, wie es im Text zur Abbildung heißt, „in jedem Falle … das Bild dieses Buddha als Abbild von  Schopenhauers tiefer Verehrung  für unsere allerheiligste Religion, für den Siegreich-Vollendeten, den wahren und vollendeten Budda gelten“.

H.B.

S. dazu auch Webseiten des Arbeitskreises > Schopenhauer und Buddhismus

und > Die Vier Edlen Wahrheiten des Buddha .

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .