Religion und eigenes Denken

„Im Grunde“, so meinte Arthur Schopenhauer, „haben nur die eigenen Grundgedanken Wahrheit und Leben: denn nur sie versteht man recht eigentlich und ganz. Fremde, gelesene Gedanken sind die Überbleibsel eines fremden Mahles, die abgelegten Kleider eines fremden Gastes“. 1

Dementsprechend kritisch stand Schopenhauer den Religionen gegenüber, die versuchen, ihre Dogmen den Menschen möglichst früh gleichsam einzuimpfen, ja sie ihnen mitunter sogar aufzuzwingen:

„Nicht nur das Aussprechen und die Mitteilung der Wahrheit, nein, selbst das Denken und Auffinden derselben hat man unmöglich zu machen gesucht, dadurch, daß man in frühester Kindheit die Köpfe den Priestern, zum Bearbeiten, in die Hände gab, die nun das Gleis, in welchem die Grundgedanken sich fortan zu bewegen hatten, so fest hineindrückten, daß solche, in der Hauptsache, auf die ganze Lebenszeit festgestellt und bestimmt waren.“ 2

Schopenhauers Kritik trifft jedoch nicht in gleichem Maße auf alle Religionen zu. Der Buddha zum Beispiel teilte seine anspruchsvolle Lehre nur jenen mit, von denen er erwartete, dass sie die nötige geistige Reife und Selbstständigkeit hatten, um diese Lehre zu verstehen. Er setzte die Fähigkeit zum eigenen Denken und eigener Erkenntnis voraus, wenn er etwa an seine Zuhörer eine Aufforderung richtete, die in der Religionsgeschichte wohl einmalig ist:

„Richtet euch nicht nach dem, was euch zu Ohren gekommen ist, nach dem bloßen Hörensagen … , nach Sammlungen von heiligen Überlieferungen …, nicht nach den Worten eines verehrten Meisters – sondern was ihr selbst als gut oder schlecht erkannt habt, das nehmt an oder gebt auf.“ 3

Deshalb kommt es in der Lehre des Buddha nicht auf den bloßen Glauben an. Nicht blindes Übernehmen irgendwelcher fremder, oft sogar aufgezwungener Glaubenssätze, sondern die auf Anschauung gegründete eigene Erkenntnis ist in der buddhistischen Lehre wie in Schopenhauers Philosophie von entscheidender Bedeutung. So ist es verständlich, wenn Arthur Schopenhauer beim Vergleich mit anderen Religionen die besondere Nähe seiner Philosophie zum Buddhismus mit den Worten hervorhob:

„Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern zugestehn.“ 4

H.B.

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Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 22. Selbstdenken, Zürich 1977, S. 538.
(2) Ebd., Kap. 15. Ueber Religion , S. 373 f.
(3) Anguttara-Nikaya 3, 65, 8 (Pali Text Society), zit aus: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte. Übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln, S. 57 f.
Was die „Sammlungen von heiligen Überlieferungen“ anbetrifft, so gehört hierzu auch die im Pali-Kanon überlieferte Lehre des Buddha. Jedoch verlangt diese keinen „Glauben“ im Sinne der großen Glaubensreligionen, sondern nur Vertrauen auf den vom Buddha gelehrten Weg zur Erkenntnis. Es geht also hier um eigenes Denken und eigene Erkenntnis. Deshalb ist im Buddhismus die Meditation als Mittel zur Erkenntnis von zentraler Bedeutung.
(4) Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 17. Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen, S. 197.