Schopenhauers Optimismus

Der Optimismus ist ein bitterer Hohn auf die Leiden der Menschheit – meinte Arthur Schopenhauer.(1) Dennoch darf der Optimismus, wie Schopenhauer zutreffend feststellte, in keinem philosophischen System fehlen; denn die Welt will hören, daß sie löblich und vortrefflich sei, und die Philosophen wollen der Welt gefallen. Mit mir steht es anders: ich habe gesehn was der Welt gefällt und werde daher, ihr zu gefallen, keinen Schritt vom Pfade der Wahrheit abgehn.(2)

Was ist hier die Wahrheit? Was ist diese Welt? Schopenhauers Antwort: Ein Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher  jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, … – dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist  schreiend.(3)

Tief berührt durch das Leid von Mensch und Tier schrieb Schopenhauer in sein Tagebuch: Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht der Gott seyn: ihr Jammer würde mir das Herz zerreißen.(4)

Mit den obigen Zitaten, die sich noch durch andere  Aussagen Schopenhauers im gleichen Sinne ergänzen ließen, wäre eigentlich die in der Überschrift gestellte Frage zu verneinen, wenn es nicht in Schopenhauers Philosophie etwas gäbe, was dort von zentraler Bedeutung ist, nämlich seine Metaphysik, die in ihrem Kern eine dem Buddhismus und den altindischen Upanishaden nahe stehende Erlösungslehre enthält:

Hinter unserer leidvollen Welt steht laut Schopenhauer etwas Metaphysisches, das von ihm Wille genannt wurde und sich überall in den vielfältigsten Erscheinungsformen, zu denen wir auch selbst gehören, manifestiert. Somit ist dieser Wille letztlich auch die metaphysische Ursache allen Leides. Das Entscheidende hierbei ist jedoch, dass – wie Schopenhauer in seiner Philosophie ausführlich darlegte – dieser im Grunde verhängnisvolle Wille zur Ruhe kommen kann, indem er sich selbst „verneint“. Dementsprechend ist die „Lehre von der Verneinung des Willens“ ein besonders bedeutsames Kapitel im zweiten Buch von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Durch diese Lehre wird Schopenhauers Philosophie zu einer fast schon als religiös zu bezeichnenden Erlösungslehre.

Der Wille zum Leben offenbart sich überall in einem mehr oder weniger hemmungslosen Egoismus. Den Willen zu verneinen, bedeutet deshalb Verneinung bzw. Überwindung des Egoismus. Doch ist dieser Egoismus überhaupt überwindbar oder wenigstens zu begrenzen? Schopenhauers Antwort ist Ja! Hierbei geht er von einer alltäglichen, sehr positiven Erfahrung aus, die jeder erleben kann, nämlich vom Mitleid.

Durch das Mitleid werden die Grenzen zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ durchlässig und der ansonsten „kolossale“ Egoismus mehr und mehr überwunden. Mitleid mit Mensch und Tier, aber auch andere positive Eigenschaften wirken dem Egoismus entgegen. In der „Menschenwelt“, so schrieb Schopenhauer zwei Jahre vor seinem Tod, treten „stets von neuem uns überraschend, Erscheinungen der Redlichkeit, der Güte, des Edelmuts … auf. Nie gehn diese ganz aus: sie schimmern uns, wie einzelne glänzende Punkte aus der großen dunklen Masse entgegen. Wir müssen sie als ein Unterpfand nehmen, daß ein gutes und erlösendes Prinzip in diesem Sansara [buddhistische Bezeichnung für diese Welt im Gegensatz zum Nirwana] steckt, welche zum Durchbruch kommen und das Ganze erfüllen und befreien kann.“(5)

„In diesen stillen Worten“, meinte der Schopenhauer-Forscher Hans Zint, „die der Greis seinem letzten Tagebuch anvertraute, liegt noch einmal Schopenhauers Philosophie und liegt zugleich seine ganze Religion beschlossen.“(6)

Ein gutes und erlösendes Prinzip, das, wie  Schopenhauer annahm, in dieser leidvollen Welt letztlich zum Durchbruch kommen kann, bietet unendlich viel Hoffnung und Trost. Der vermeintliche „Pessimist“ Schopenhauer bekennt sich hier, gegen Ende seines Lebens, zu einem Optimismus, der wohl kaum zu übertreffen ist. Jedenfalls kann nun das Fragezeichen in der Überschrift dieses Beitrags durch ein Ausrufezeichen ersetzt werden.

Übrigens, für mich hat sich Arthur Schopenhauer nicht nur mit seinen Aphorismen zur Lebensweisheit, sondern auch mit seinem spirituell tief gegründeten metaphysischen Optimismus  gerade in den dunklen Stunden meines Lebens als unschätzbare Hilfe erwiesen. Seine Philosophie gibt mir in dieser durch und durch unfriedlichen Welt viel Zuversicht, denn sie deutet am Ende auf etwas überaus Postives hin: auf jenen Frieden, der höher ist alle Vernunft.

H.B.

S. auch > Zur Erlösungslehre in Schopenhauers Philosophie

> Arthur Schopenhauer : Leid und Erlösung

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Quellen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe),      Band II, S. 407 f.
(2) Schopenhauer , a. a. O., Band V, S. 339.
(3) Schopenhauer , a. a. O., Band IV, S. 680.
(4) Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, München 1985, Band 3, S. 57 (Nr. 138).
(5) Arthur Schopenhauer , Senilia, Gedanken im Alter, hrsg. von Franco Volpi und Ernst Ziegler, München 2010, S. 202.
(6) Hans Zint, Schopenhauer als Erlebnis, München/Basel 1954, S. 107.