Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit

Als Arthur Schopenhauer 1851, also in seinem letzten Lebensjahrzehnt, seine Aphorismen zur Lebensweisheit als Teil seines Spätwerks Parerga und Paralipomena veröffentlichte, war er ein noch fast unbekannter Philosoph, denn sein philosophisches Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, das mehr als 30 Jahre zuvor erschien, wurde zu seiner großen Enttäuschung nur wenig beachtet.

Die Öffentlichkeit hatte zu jener Zeit an Schopenhauers Philosophie nur wenig Interesse, was auch darin begründet sein mag, dass seine Lehre – worauf er ausdrücklich hinwies – Kants (nicht einfach zu verstehende) Philosophie voraussetzt.1 Hinzu kommt, dass es im Kern seiner Philosophie, um, wie das Kapitel 48 seines Hauptwerkes lautet, die „Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben“ geht.

So ist es verständlich, dass eine Philosophie, bei der die Verneinung des Lebenswillens die Bedingung für eine Erlösung aus der Welt des Leides ist, kaum allgemeine Zustimmung finden kann. Schopenhauer konnte das allerdings auch nicht erwarten, denn Lebensbejahung ist nach seiner Philosophie Voraussetzung für das Leben selbst, weil „wenn Wille da ist, wird auch Leben, Welt daseyn. Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiß“.2 Dementsprechend sieht die große Mehrheit der Menschen trotz allen Leides die Lebensbejahung als positiv an und wertet die „Verneinung des Willens zum Leben“ als negativ, ja als eine krankhafte und somit therapiebedürftige Lebenseinstellung.

Völlig anders hingegen sind Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit! Hier versetzt sich Schopenhauer in die Lage der vielen Menschen, die zwar das Leben als leidvoll ansehen, aber dennoch voller Lebensbejahung sind. Bereits in der Einleitung zu seinen Aphorismen wies er darauf hin, dass er „den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich“ so nehme, dass darunter zu verstehen sei, die „Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen“. Seine Aphorismen seien „demnach die Anweisung zu einem glücklichen Daseyn“. Um jedoch, so fügte er hinzu, „eine solche … ausarbeiten zu können, habe ich daher gänzlich abgehn müssen von dem höhern metaphysisch-ethischen Standpunkte, zu welchem meine eigentliche Philosophie hinleitet“.3

Seine Aphorismen wurden – und sind es auch heute noch – ein Welterfolg. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass Schopenhauer weltberühmt wurde, was auch dazu führte, dass seine eigentliche Philosophie – von der er ja in seinen Aphorismen habe „gänzlich abgehn müssen“ – zunehmend bekannter wurde.

Selbst die Universitätsphilosophie konnte es nun nicht mehr ganz vermeiden, von Schopenhauer Kenntnis zu nehmen. So konnte der durch jahrzehntelanges Ignorieren fast schon verbitterte Schopenhauer 1854 in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Schrift Über den Willen in der Natur feststellen, dass das „Publikum“ endlich Anteil an seiner Philosophie genommen habe, wobei er mit dem ihm eigenen Humor hinzufügte: „Nichtsdestoweniger habe ich den Philosophieprofessoren eine betrübte Nachricht mitzutheilen: Ihr Kaspar Hauser, den sie, beinahe vierzig Jahre hindurch, von Licht und Luft so sorgfältig abgesperrt hatten, daß kein Laut sein Daseyn der Welt verrathen konnte, – ihr Kaspar Hauser ist entsprungen!“4

Auch für die, deren Interesse vor allem Schopenhauers Hauptwerk gilt, sind dessen Aphorismen von besonderem Wert. So schrieb der sehr verdienstvolle Schopenhauer-Forscher Arthur Hübscher in seiner Biografie über Schopenhauer, die Aphorismen seien der „weise-gelassene und zugleich blendende Rechenschaftsbericht über die Erfahrungen eines ganzen Lebens, mit dem wir dem menschlichen Bilde Schopenhauers näher sind als je“.5

Ebenfalls durchaus positiv zu Schopenhauers Aphorismen äußerte sich Wolfgang Schirmacher im von ihm herausgegebenen Insel-Almanach 1985 :

„Mit seinen Aphorismen zeigt der Philosoph, daß seine Einsichten auch denjenigen zugutekommen können, die weder als Heilige noch als Genies geboren wurden. Zudem wird deutlich, daß Schopenhauer sich nicht etwa von der Welt abwandte, weil er sie nie richtig kennengelernt hatte, sondern im Gegenteil, weil sie ihm zu gut bekannt war. Über wieviel geschliffenen Witz und hintergründiger Ironie dieser ernsthafte Philosoph verfügte, läßt sich nirgendwo eindrucksvoller ablesen …“6

In seinem 1926 erschienenen Buch, das „nach wie vor eine der besten Gesamtdarstellungen“ zu Schopenhauers Leben und Werk ist, nahm der Philosoph Heinrich Hasse ausführlich zu Schopenhauers Aphorismen Stellung:

„Diese Betrachtungen [in den Aphorismen] stehen den Ergebnissen der Ethik Schopenhauers keineswegs beziehungslos oder gar widerspruchsvoll gegenüber. Sie bewegen sich vielmehr ganz ausdrücklich uns vollbewußt auf dem Boden der Bejahung des Willens, auf welchem derselbe einer metaphysisch vertieften Orientierung noch nicht teilhaftig geworden ist. Sie zeigen die Aussichten des Menschen, ein relativ glückliches, d. h. schmerzenfreies und positiv wertvolles Leben zu führen unter den Gesichtspunkten: Von dem, was einer ist; Von dem, was einer hat; Von dem, was einer vorstellt, und gelangen auf dem überall durchschimmernden Hintergrunde pessimistischer Lebensbetrachtung zu einer wohlerwogenen Abschätzung dessen, was die vermeintlichen Quellen sogenannten Glückes zu unserer wahren Wohlfahrt beitragen.

Nicht Reichtum und Besitz als solche (das, was einer hat); nicht Rang, Ehre und Ruhm (das, was einer vorstellt), sondern der innere Reichtum der Persönlichkeit, insbesondere die intellektuelle Ausstattung derselben (das, was einer ist), bildet die allein echte und zuverlässige Grundlage jenes tiefer verstandenen Erdenglückes, welches dem Sterblichen vergönnt ist…

Die Rechenschaft über die Grundbedingungen des menschlichen Glückes, welche Schopenhauer in den Aphorismen zur Lebensweisheit zu geben sucht, zeigt den Denker als Kenner des Menschen und als Kritiker menschlicher Vorurteile in voller Größe. Hier reiht er sich den großen Analytikern der menschlichen Seele der Vorzeit, praktischen Weltweisen vom Schlage Montaignes, Larochefoucaulds, Chamforts, Lichtenbergs an…

Von klarem Wirklichkeitssinn erfüllt, gibt diese Lebensweisheit Einblicke in die Zusammenhänge menschlicher Existenz, welche einen unvergänglichen Beitrag zur Deutung derselben darstellen. Das gilt selbst von den Paränesen [Ermahnungen] und Maximen [im Kap. V. der Aphorismen], in welchen der Niederschlag eigenster Lebenserfahrung zu allgemeinen Grundsätzen gesteigert ist. Stilistisch zeigt sich Schopenhauer in den Aphorismen zur Lebensweisheit in vollendeter Meisterschaft. Der Klarheit und Treffsicherheit seiner Gedanken und der klassischen Ursprünglichkeit seiner Urteile entspricht eine sprachliche Fassung derselben, die in ihrer schlichten Prägnanz und inneren Notwendigkeit einzig dasteht.“7

Zu den Aphorismen Arthur Schopenhauers, die für seine persönliche Lebenseinstellung wohl besonders charakteristisch sind, gehört auch diese Lebensweisheit:

Der Tor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: Der Weise vermeidet die Übel. 8

H.B.

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Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Vorrede zur ersten Auflage, S. 11.
(2) Schopenhauer , a. a. O., Band II, S. 347 f.
(3) Schopenhauer , a. a. O., Band VIII: Parerga und Paralipomena I / Aphorismen zur Lebensweisheit , S. 343.
(4) Schopenhauer , a. a. O., Band V: Ueber den Willen in der Natur (Kleinere Schriften I), S. 185.
(5) Arthur Hübscher , Schopenhauer / Ein Lebensbild, 2. Auflage, Wiesbaden 1949, S. 96.
(6) Wolfgang Schirmacher (Hrsg.), Insel-Almanach für das Jahr 1985 / Schopenhauer , 1. Aufl., Frankfurt am Main 1985, S. 15.
(7) Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 401-403.
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(8) Schopenhauer , a. a. O., Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 443.