All-Einheit und Vielfalt der Natur

Die Fähigkeit zur Philosophie, so meinte Arthur Schopenhauer bestehe im Erkennen des Einen im Vielen und des Vielen im Einen. 1

Um die überaus erstaunliche Vielfalt der Lebensformen in der Natur zu erkennen, bedarf es keiner besonderen Bemühungen. Sie ist augenscheinlich. Darin aber irgendeine „Einheit“ oder sogar „All-Einheit“ zu erkennen, ist schon weit schwieriger:

Die Fähigkeit des Menschen, seine Umwelt wahrzunehmen, ist vor allem auf die Erhaltung seines Lebens ausgerichtet. Deshalb sind die menschlichen Sinne dazu bestimmt, die Natur möglichst in ihrer ganzen Vielheit zu erfassen und so auch drohende Gefahren zu erkennen.

Dennoch gab es schon in alten Kulturen Menschen, die sich mit dieser, auf die bloße Lebenserhaltung beschränkte Naturerkenntnis nicht begnügen wollten, ja die sich sogar wunderten über die Natur, die Welt und ihr eigenes Dasein. Schopenhauer sah in dieser „Verwunderung“ den Ursprung der Philosophie. 2

So war es schon im alten Indien. Dort lebten in den Urwäldern, umgeben von einer prachtvollen Vielfalt der Natur, weise Einsiedler und Asketen, die sich fragten: Was verbirgt sich hinter dieser unüberschaubaren Vielfalt? Liegt dieser Vielheit vielleicht sogar eine allumfassende Einheit zugrunde? Die Antwort auf solche und ähnliche Fragen ist in den altindischen Upanishaden überliefert. Es ist die Lehre von der All-Einheit. Der Indologe Helmuth von Glasenapp schrieb hierzu in seiner Philosophie der Inder:

„Das Hauptanliegen der bedeutendsten Texte, die in einer Upanishad gesammelt sind, ist … die Darstellung einer All-Einheitslehre, für welche das Brahma [Brahman] oder der Atman die letzte Essenz des Weltalls und jedes Einzelwesens ist. Auf diesen Abschnitten, in denen eine tiefsinnige Mystik zum Teil in sinnvollen Gleichnissen einen ebenso lebendigen wie erhabenen Ausdruck findet, beruht der Ruhm der Upanishaden und zugleich ihre hohe geistesgeschichtliche Bedeutung: sie sind die Grundwerke, auf denen sich bis heute alle System aufbauen, die sich Vedanta nennen …“ 3

Brahman wird oft mit Weltseele und Atman mit Einzelseele übersetzt. Doch eigentlich ist, wie der Indologe Heinrich Zimmer meinte, Brahman „kein Wort, das einfach übersetzt werden kann“. 4 Laut Zimmer ist der Begriff Brahman die „seit den vedischen Zeiten bis zum heutigen Tage die unvergleichlichste, bedeutendste Konzeption der Hindu-Religion und -Philosophie gewesen“.

Das Brahman, so erklärte Zimmer weiter, sei „die höchste, letzte transzendente Kraft, die den sichtbaren und greifbaren Schichten unseres Wesens innewohnt, transzendiert sowohl den sogenannten ´grobstofflichen Leib` wie die Innenwelt … Als die Macht, welche alle Dinge des Mikrokosmos wie auch die Außenwelt durchdringt und belebt, ist sie … identisch mit dem Selbst (atman) – dem höheren Aspekt dessen, was wir im Westen, ohne Unterscheidungen zu machen, Seele nennen“. 5

Schopenhauer war sich der zentralen Bedeutung des Begriffes Brahman in der indischen Philosophie wohl bewusst. Er sah im Begriff Brahman eine grundlegende Übereinstimmung mit seiner Philosophie, nach welcher sich ein metaphysischer „Wille“ in allen Erscheinungsformen dieser Welt manifestiert. So suchte er in allen Veröffentlichungen, die ihm zugänglich waren, Bestätigung, dass dieser Wille identisch ist mit dem, was in der von ihm hochgeschätzten Vedanta-Philosophie Brahman genannt wird. 6 Da dieser metaphysische „Wille“ laut Schopenhauer besonders deutlich als Wille zum Leben erscheint und dieser in allen Lebewesen existiert, ist jedes Leben – trotz äußerlichen Unterschiede – mit jedem anderen im innersten Wesen identisch.

Die in der Vielfalt der Natur verborgene All-Einheit wurde in Indien schon vor weit mehr als zwei Jahrtausenden erkannt. Über die Weisen, die zu dieser zutiefst spirituellen Erkenntnis kamen, schrieb Schopenhauer mit Worten der Bewunderung, dass sie „dem Urquell der organischen Natur bedeutend näher standen, als wir, … wodurch sie einer reineren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Natur fähig“ waren. So seien in den Rishis, also den Weisen des alten Indiens, „die fast übermenschlichen Konceptionen, welche später in den Upanischaden der Veden niedergelegt wurden“, entstanden. 7

Schopenhauers Bewunderung ist verständlich, denn er konnte seine Philosophie in Übereinstimmung mit der All-Einheitslehre der altindischen Upanishaden sehen und sich so bestätigt finden. Die Erkenntnis von der All-Einheit der Natur hat jedoch weit mehr als nur philosophisch-theoretische Bedeutung: Menschen, die von dieser Erkenntnis durchdrungen sind, haben ein positives Verhältnis zur Natur und sehen in allem Leben, also auch in Tieren und Pflanzen, nicht bloß Objekte der Ausbeutung. Sie neigen zu einem schonenderen Umgang mit der Natur, mit menschlichem und nichtmenschlichem Leben. Für Arthur Schopenhauer war die Erkenntnis von der All-Einheit der Natur die philosophische Grundlage seiner auch die Tiere einbeziehenden Ethik. 8

H.B.

Weiteres zu > Schopenhauer und die > All-eins-Lehre
sowie den > Upanishaden.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zürich 1977, S. 124.
2 Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt als Wille … II, S. 199.
3 Helmuth von Glasenapp, Die Philosophie der Inder, Stuttgart 1974, S. 38.
4 Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, Zürich 1973, S. 79.
5 Ebd., S. 83.
6 Vgl. Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 4, I, München 1985, S. 125 und 143.
7 Schopenhauer, a. a.O., Band III: Die Welt als Wille … II, S. 189.
8 Schopenhauer, a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II, Kap. 8: Zur Ethik, S. 239.
Weiteres > Upanishaden : Tat twam asi .