Ethik ohne Moralpredigt

Arthur Schopenhauer stellte seiner sehr lesenswerten Preisschrift über die Grundlage der Moral das Motto voran: Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer. 1 Dementsprechend ist Schopenhauers Ethik frei von Moralpredigten, aber voller philosophisch tiefer Einsichten in das, was wahre Ethik bedeutet, und worauf sie letztlich beruht. Hierzu schrieb sehr zutreffend der Schopenhauer-Forscher Arthur Hübscher:

Schopenhauers „Ethik schreibt keine Handlungsweisen vor, sie ist keine Anweisung zur Tugend, wie es die Ethik Kants und mit ihr aller Schulen zu Schopenhauers Zeit gewesen ist. Sie lehrt nicht, wie man sich sittlich verhalten soll, sie zeigt, wie die Menschen sich wirklich verhalten, sie sucht ihre verschiedenen Verhaltensweisen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen.

Der moralische Charakter ist unveränderlich, die Grundeigenschaften eines Menschen sind nicht umzuschaffen, wohl aber ist die Betätigungsweise seiner Anlagen beeinflußbar, eine berichtigte Erkenntnis kann ihm neue, andere Motive liefern und zu anderen Willenshandlungen führen.

Sittliche Gebote sind machtlos, wenn sie nicht von innerer Zustimmung begleitet werden. Was man zu tun vermag, ist dieses: ´daß man den Kopf aufhellt, die Einsicht berichtigt, den Menschen zu einer richtigen Auffassung des objektiv Vorhandenen, der wahren Verhältnisse des Lebens bringt.` 2

Aus diesen Einsichten ergibt sich das pädagogische Leitbild, das Schopenhauer in einem meist übersehenen Kapitel der ´Paralipomena` entwickelt hat: Zweck der Erziehung muß es sein, die Bekanntschaft des Kindes, des jungen Menschen mit der Welt zu vermitteln, die Fähigkeit zu entwickeln, selbst zu erkennen, zu urteilen, zu denken, nicht aber, ihm von früh an fremde Gedanken und Begriffe, Dogmen und Vorurteile einzuprägen – Schopenhauer denkt vor allem an die Verderblichkeit einer frühzeitigen Einprägung religiöser Glaubenssätze. Was er verlangt, ist eine Erziehung zur selbständigen, aus sich heraus entwicklungsfähigen, nicht ins Gleichmaß eingegliederten Persönlichkeit.“ 3

Moralpredigten sind oft erfolglos, denn sie erreichen zwar den Kopf, aber kaum das Herz. Doch hierauf kommt es letztlich an, weil Ethik laut Schopenhauer auf dem Mitleid beruht und somit auf der „Güte des Herzens“. So heißt es in Schopenhauers Preisschrift zur Ethik:

Die Güte des Herzens besteht in einem tief gefühlten, universellen Mitleid mit Allem, was Leben hat. 4

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik / Preisschrift über die Grundlage der Moral, Zürich 1977, S. 143.
2 Ebd., S. 295 f.
3 Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom, Schopenhauer: gestern – heute – morgen, 2. Aufl., Bonn 1982, S. 222.
4 Schopenhauer , a. a. O., S. 294.

Gefühlsmoral und Schopenhauers Ethik

Ich muß den Ethikern den Rath ertheilen, sich erst ein wenig im Menschenleben umzusehn – schrieb Arthur Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral. (1) Befolgen die „Ethiker“ Schopenhauers Rat, so werden sie ihm wohl zustimmen, wenn er meinte, dass das Handeln des Menschen, seinem ethischen Gehalte nach, nach Gefühlen, nicht nach Begriffen geschehe und vom Charakter, nicht von der Vernunft ausgehe. (2).

Schopenhauer vertrat damit eine Ethik, die in der Philosophie als Gefühlsmoral bezeichnet wird. Diese sei, so erklärt das Philosophische Wörterbuch, „in der Ethik die Bezeichnung für eine Moral, die die  Motive des sittlichen Wollens und Handelns in den Gefühlen, Neigungen Affekten sieht, denen echte Liebe und Ergriffenheit vorausgehen“. (3)

Somit steht die Gefühlsmoral im Gegensatz zur  sog. Reflexionsmoral, wonach, wie es im Wörterbuch der philosophischen Begriffe heißt, „das sittliche Handeln nicht auf Gefühl, Gesinnung, Charakter oder Gewissen, sondern auf die vernünftige Einsicht zu gründen ist“, was „soviel wie ethischer Intellektualismus“ bedeute. (4)

Solcher „ethischer Intellektualismus“ wurde von Schopenhauer entschieden abgelehnt, denn für ihn war, wie er in seiner bereits erwähnten Preisschrift mehrmals hervorhob, das „Mitleid die eigentliche moralische Triebfeder“. (5) Diese „moralische Triebfeder“, so fügte er hinzu, „bewährt sich als die ächte ferner dadurch, daß sie auch die Thiere in ihren Schutz nimmt, für welche in den andern Europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist“. (6)

„Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation“, so schrieb Schopenhauer in seiner Preisschrift, sei „das Kriterium einer Handlung von ethischem Werth“. (7)  „Soll eine Handlung moralischen Werth haben, so darf kein egoistischer Zweck, unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv seyn.“(8)

Dementsprechend ist auch alles, was aus Furcht vor Strafe oder in der Hoffnung auf Belohnung – sei es im Diesseits oder erst im Jenseits – geschieht, egoistisch und daher ohne moralischen Wert.(9). Wie sehr bei derartigem Handeln  menschlicher Egoismus dahinter steht, erläuterte Schopenhauer an einem Beispiel: „Wird z. B. ein Mensch fest überredet, daß jede Wohlthat ihm im künftigen Leben hundertfach vergolten wird; so gilt und wirkt eine solche Überzeugung ganz und gar wie ein sicherer Wechsel auf sehr lange Sicht, und er kann aus Egoismus geben, wie er, bei anderer Einsicht, aus Egoismus nehmen würde. Geändert hat er sich nicht …“  (10)

Demnach kann Schopenhauers  obige Feststellung durchaus auch für Religionen zutreffen, und zwar dann, wenn sich hinter den „Wohlthaten“ letztlich die Erwartung  irgendwelcher persönlicher Vorteile verbirgt. Genau genommen, geht es dann nicht um Ethik. Eher ist es eine Art kaufmännischer Kalkulation von Leistung und erhoffter Gegenleistung.  Hierbei ist die Frage naheliegend, ob und inwieweit Religionen wirklich mit Ethik verbunden sind, denn sie alle, das Christentum nicht ausgenommen, appellieren in  ihren „ethischen“ Lehren an den Egoismus des Menschen. Ob sich dadurch der Egoismus wirklich überwinden lässt, ist eine andere Frage. Schopenhauer hat sie, wie das obige Zitat zeigt, verneint.

Jedenfalls ist die in  der Philosophie im Zusammenhang mit dem Thema Ethik beschriebene Reflexionsmoral im Sinne Schopenhauers keine Ethik, sondern eher Berechnung. Auch gibt es demnach keinen ethischen, sondern einen mehr oder weniger  egoistisch gegründeten Intellektualismus, der dementsprechend leider allzu oft als kaltes, bloß vernunftsmäßiges Verhalten in Erscheinung tritt. Kann es hierzu einen größeren Gegensatz geben als die alles Leben umfassende, also auch die Tiere einbeziehende, warmherzige Mitleidsethik Arthur Schopenhauers ?

H.B.

S. auch > Tierethik und Schopenhauers Philosophie .

Mehr zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
(1)  
Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik, Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 226.
(2)
  Gustav Friedrich Wagner, Schopenhauer-Register, neu hrsg. v. Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt , S. 280 (Stichwort: Moral).
(3)   Philosophisches Wörterbuch, begr. v. Heinrich Schmidt, 21. Aufl., neu bearb. v. Georgi Schischkoff, Stuttgart 1978, S. 216 (Stichwort: Gefühlsmoral).
(4)   Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, 2. Aufl., Hamburg 1955, S. 519 (Stichworte: Reflexion , Reflexionsmoral).
(5)   Schopenhauer, Preisschrift, a. a. O., S. 273.
(6)   Ebd., S. 278.
(7)   Ebd.,  S 244.
(8)   Ebd., S. 245 f.
(9)   Vgl. Wagner, a. a. O., S. 32 (Stichwort: Belohnung u. Bestrafung).
(10) Schopenhauer, a. a. O., Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 371.

 

Schopenhauers Ethik

           Es gibt kaum eine überzeugendere Begründung für Ethik als die von Arthur Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral. Bereits das dort vorangestellte Motto, Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer, macht deutlich, dass es Schopenhauer nicht um bloße Moralpredigten ging.  Für ihn beruhte die Ethik nicht auf einem komplizierten  System von Regeln, von  Ge- und Verboten, sondern auf etwas, das, von Ausnahmen abgesehen, wohl mehr oder weniger in jedem Menschen von der Natur her angelegt ist, nämlich das Mitleid. Dass Schopenhauers Ethik im wesentlichen Mitleidsethik ist, geht eindrucksvoll aus seiner Preisschrift hervor:

        “ Man setze zum letzten Beweggrund einer Handlung, was man wolle; immer wird sich ergeben, daß, auf irgend einem Umwege, zuletzt das eigene Wohl und Wehe des Handelnden die eigentliche Triebfeder, mithin die Handlung egoistisch, folglich ohne moralischen Werth ist. Nur einen einzigen Fall giebt es, in welchem dies nicht Statt hat: nämlich wenn der letzte Beweggrund zu einer Handlung, oder Unterlassung, … ganz allein das Wohl und Wehe eines Andern im Auge hat und durchaus nichts bezweckt, als daß jener Andere unverletzt bleibe, oder gar Hülfe, Beistand und Erleichterung erhalte. Dieser Zweck allein drückt einer Handlung, oder Unterlassung, den Stempel des moralischen Werthes auf …

          Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern wegen geschehn soll; so muß sein Wohl und Wehe unmittelbar mein Motiv sein: so wie bei allen andern Handlungen das meinige es ist. Dies bringt unser Problem auf einen engern Ausdruck, nämlich diesen: wie ist es irgend möglich, daß das Wohl und Wehe eines Andern unmittelbar, d. h. ganz so wie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein Motiv werde …? – Offenbar nur dadurch, daß jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, … daß ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar, wie sonst nur das meinige. Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mit leide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines …

        Der hier analysirte Vorgang aber ist kein erträumter, oder aus der Luft gegriffener, sondern ein ganz wirklicher, ja keineswegs seltener: es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d. h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern … Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen. Sobald dieses Mitleid rege wird, liegt mir das Wohl und Wehe des Andern unmittelbar am Herzen, ganz in der selben Art, wenn auch nicht stets in demselben Grade, wie sonst allein das meinige: also ist jetzt der Unterschied zwischen ihm und mir kein absoluter mehr.

        Allerdings ist dieser Vorgang erstaunenswürdig, ja, mysteriös. Er ist, in Wahrheit, das große Mysterium der Ethik …“(1)

          Noch erstaunlicher und ein wohl noch größeres „Mysterium der Ethik“ ist die Tatsache, dass sich das „alltägliche Phänomen des Mitleids“ nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere erstrecken kann. Mitleid mit Tieren ist – wie der Tierschutz überhaupt-  ein wichtiges Thema in Schopenhauers Ethik, denn so hob er in seiner Preisschrift hervor: „Die von mir aufgestellte moralische Triebfeder [das Mitleid] bewährt sich als die ächte ferner dadurch, daß sie auch die Thiere in ihren Schutz nimmt, für welche  in den andern Europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist.“(2). Durch die Einbeziehung des Tierschutzes – und zwar nicht nur als Randthema – in seine Ethik wurde Schopenhauer einer der bedeutendesten Wegbereiter der heutigen Tierethik: „Zu seiner Zeit war Schopenhauer mit seiner Tierethik ein ´Rufer in der Wüste`. Er war zugleich einer der wenigen, die dafür sorgten, dass sich die Wüste belebte“.(3)

       Nur wenige Philosophen von Weltrang sind derart mit Vorurteilen belastet wie Arthur Schopenhauer. So wird ihm zum Beispiel ein zu negatives Menschenbild nachgesagt. Um so überraschender ist deshalb das folgende Zitat, weil es zeigt, wie sehr Schopenhauer auf das Gute im Menschen, das Mitleid, vertraute:

         “ Zwei Tugenden, die der Gerechtigkeit und die der Menschenliebe, … wurzeln in dem natürlichen Mitleid. Dieses Mitleid selbst aber ist eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewußtseyns, ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen, Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen, Erziehung und Bildung; sondern ist ursprünglich und unmittelbar, liegt in der menschlichen Natur selbst.“(4)

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Quellen:
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden,
Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe),
Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik /
Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 247 f.
(2) Schopenhauer , a. a. O., S. 278.
(3) Dieter Birnbacher , Schopenhauer ( Grundwissen Philosophie ),
Stuttgart 2009, S. 131.
* S. dazu auch > Tierethik und Schopenhauers Mitleidsethik .
(4) Schopenhauer , a. a. O., S. 252.

 

Arthur Schopenhauer : Mitleid – Grausamkeit – Tierrechte

Mitleid war für Arthur Schopenhauer „das Fundament der Moral“, das sich, so hob er nachdrücklich hervor, auf alles beziehe, was Leben hat. So nehme jede echte Moral „auch die Tiere in ihren Schutz, für welche in den anderen europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist“.  Schopenhauer, der unsere  Welt so sah, wie sie ist, wies aber auch auf das Gegenteil von Mitleid hin: die Grausamkeit.

Ein Beipiel für Grausamkeit, für Vergnügen am Leid des anderen Wesens ist der Stierkampf. Kürzlich war dazu in einer Berliner Tageszeitung unter der Überschrift „Kleiner Stierkämpfer in Portugal gestoppt – Sieg der Tierschützer“  folgende Meldung zu lesen:

„Die Tierschutzorganisation ´Animal ` hat einen Auftritt des elfjährigen (!) Stierkämpfers Michelito gestoppt. Auf deren Betreiben verbot die portugiesische Kinderschutz-Kommission ein … in Lissabon geplantes Spektakel … ´Die Teilnahme  von Kindern an Stierkämpfen ist in doppelter Hinsicht absurd. Sie stellt nicht nur eine Verletzung der Tierrechte, sondern auch eine Verletzung der Kinderrechte dar`… Der in Mexiko geborene Franzose Michel versichert gern, dass er auf der Arena keine Angst verspüre. Der Stierkampf sei eine Tradition, die nicht verschwinden dürfe, sagte Michelito vor Journalisten. Schade sei nur, dass man in Portugal die Tiere nicht töten dürfe. ´Das macht weniger Spaß`„.

Solche Äußerung aus einem Kindermund legt die Frage nahe, ob nicht nur das Mitleid, sondern auch die Neigung zur Grausamkeit – wie jede wesentliche Charaktereigenschaft – angeboren und damit unveränderbar ist. Schopenhauer vertritt diese Meinung und steht damit im Gegensatz zu vielen „Erziehern“, die glauben, dass der Mensch als „leeres Blatt“ auf die Welt käme. Insbesondere die Hirnwissenschaft hat da erhebliche Zweifel. Um so wichtiger ist deshalb die Rolle der Gesetze. „Der einzige Zweck der Gesetze“, so Schopenhauer „ist die Abschreckung von Beeinträchtigung fremder Rechte“.  Solche „fremden Rechte“, sind, wie immer mehr Menschen fordern, auch die Rechte der Tiere auf Leben und Gesundheit.  Die Anerkennung von Tierrechten in unserer Rechtsordnung würde zwar nichts an der Grausamkeit im Charakter mancher Menschen ändern, doch könnte sie grausame öffentliche Schauspiele, von denen der Stierkampf nur ein Beispiel ist, weitgehend verhindern.  Das wäre ein Fortschritt ganz im Sinne des ansonsten eher skeptischen Schopenhauer.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauerund zu seiner Philosophie
> www.arthur-schopenhauer-studienkreis.de
und Tierrechten > www.tierrechte-tv.de

Arthur Schopenhauer : Mitleidsethik

Arthur Schopenhauer – Ethik und Mitleid

Wie kaum ein anderer Philosoph hat Arthur Schopenhauer das Mitleid in den Mittelpunkt seiner Ethik gestellt. Mitleid, so Schopenhauer in seinen Schriften zur Ethik, ist ein „alltägliches Phänomen“, nämlich die ganz unmittelbare Teilnahme am Leiden eines anderen Wesens. Wir leiden mit ihm, also in ihm. Hierdurch wird die vorher unüberwindbare Mauer zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ mehr und mehr abgebaut:

„Wie ist es möglich“, fragt Schopenhauer, „dass ein Leiden, welches nicht meines ist, nicht mich trifft, doch ebenso unmittelbar wie sonst nur mein eigenes, Motiv für mich werden, mich zum Handeln bewegen soll? Es ist möglich nur dadurch, dass ich es  …mitempfinde, es als meines fühle, und doch nicht in mir, sondern in einem andern … Dies aber setzt voraus, dass ich mich mit dem andern gewissermaßen identifiziert habe, und folglich die Schranke zwischen dem Ich und Nicht-Ich für den Augenblick aufgehoben sei….Dieser Vorgang ist mysteriös; denn er ist etwas, wovon die Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft geben kann…“

Das Mitleid – und hierbei unterscheidet sich Schopenhauer von fast allen anderen Philosophen seiner Zeit – bezieht sich auf alles, was Leben hat und damit auch auf Tiere. Es ist, was Schopenhauer immer wieder betonte, die wahre Grundlage der Moral. Das Mitleid „ist eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewusstseins, ist diesem  wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen, Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen, Erziehung und Bildung“.

Schopenhauer hat in seiner  „Preisschrift über die Grundlage der Moral“ die zentrale Bedeutung des Mitleids für jedes ethische Verhalten hervorgehoben, und zwar mit Worten, die nahegehen:

„Denn grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner Kasuistik. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig keinen verletzen, keinen beeinträchtigen, keinem wehe tun, vielmehr mit jedem Nachsicht haben, jedem verzeihen, jedem helfen, so viel er vermag, und alle Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen.“
hb

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Arthur Schopenhauer : Ist Ethik lehrbar?

Am 26. April 2009 wurde in Berlin in einer Volksabstimmung entschieden, dass das Unterrichtsfach Ethik in den Klassen 7-10 in der bisherigen Form – als Pflichtfach für alle -weiter besteht. Ethik wird somit auch weiterhin an den Berliner Schulen in argumentativem Dialog unterrichtet. Die Initiatoren der Volksabstimmung („Pro Reli“) wollten erreichen, , dass in den Klasenstufen 7-10 die SchülerInnen zwischen den Fächern Ethik und Religion wählen können, also Religion zum Wahlpflichtfach wird. Unabhängig davon, ob Ethik in einem religionsneutralen oder konfessionellen Fach unterrichtet wird, stellt sich die grundsätzliche Frage: Ist Ethik überhaupt lehrbar? Arthur Schopenhauer gab hierzu die Antwort: „Die Tugend geht zwar aus der Erkenntnis hervor, aber nicht aus der abstrakten, durch Worte mitteilbaren. Wäre dieses, so ließe sie sich lehren, und indem wir hier ihr Wesen und die zum Grunde liegende Erkenntnis abstrakt aussprechen, hätten wir jeden, der dies faßt, auch ethisch gebessert. So ist es aber keineswegs. Vielmehr kann man so wenig durch ethische Vorträge oder Predigten einen Tugendhaften zustande bringen, als alle Ästhetiken, von der des Aristoteles an, je einen Dichter gemacht haben.“ So ist laut Schopenhauer Tugend nicht lehrbar, sie ist angeboren. Um tugendhaft zu sein, brauche man keine Ethik gelernt zu haben. Auf die Tugend seien die abstrakten Dogmen ohne Einfluss. Alle Professoren der Ethik könnten nicht einen unedlen Charakter zu einem tugendhaften umformen. Wenn Tugend durch Morallehre verbessert werden könnte, müsste der ältere Teil der Menschheit besser als der jüngere sein.

H.B.

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