Zur Bedeutung der indischen Weisheitslehren

Den indischen Weisheitslehren kam bereits beim Entstehen der Philosophie Schopenhauers große Bedeutung zu. Er glaube nicht, so schrieb Arthur Schopenhauer um 1816, also noch vor Veröffentlichung seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung, in sein Manuskript, „daß meine Lehre je hätte entstehn können, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten“. 1 Aufschlussreich ist, dass Schopenhauer dort die Upanishaden, welche die wohl ältesten Weisheitslehren Indiens enthalten, an erster Stelle nannte. Mit den Upanishaden begann nicht nur die Philosophie Schopenhauers, sondern vor weit mehr als 2500 Jahren auch die Indiens.

Philosophie ist, wie Arthur Schopenhauer erklärte, „wesentlich Weltweisheit“. 2 Insofern können die indischen Weisheitslehren auch als Philosophie bezeichnet werden. Schopenhauer war ein großer Bewunderer der indischen Philosophie, und zwar schon zu einer Zeit, als man im Abendland mitunter noch zögerte, sie überhaupt als „Philosophie“ anzuerkennen. 3 Eine solche Geringschätzung der indischen Philosophie ist völlig unberechtigt, denn so schrieb der Religionswissenschaftler und Indologe Helmuth v. Glasenapp:

„Indem die indische Philosophie in ihren größten Vertretern zu der Einsicht vorgedrungen ist, daß alle unsere Welterkenntnis von subjektiven Faktoren abhängig ist, hat sie den höchsten Gipfel nüchterner Wirklichkeitsbetrachtung erreicht, zu welcher alle kritische Wahrheitsforschung nach jedem metaphysischen Höhenflug immer wieder zurückkehren muß …

Dem Erforscher der Geistesgeschichte der Menschheit bietet sie eine unerschöpfliche Quelle der Erkenntnis … Bei der großen Mannigfaltigkeit der indischen Gedankenwelt fühlen sich abendländische Denker sehr verschiedener Art zu ihren Erscheinungen hingezogen. Der Naturwissenschaftler bewundert ihre kosmologischen Perspektiven, der Ethiker die Erhabenheit ihrer Vorstellungen von einer sittlichen Weltordnung, … der Mystiker die berauschende Kraft ihrer All-Einheitsschau, der kritische Geist die abgrundtiefe Als-ob-Philosophie des buddhistischen Relativismus.

Aber auch derjenige, der sich nicht eine der großen indischen Heilslehren zu eigen macht, wird aus der Begegnung und Auseinandersetzung mit ihnen großen Gewinn ziehen und der unerhörten Kühnheit der indischen Weisen seine Anerkennung zollen, die es wagten, mit vollkommener Gelassenheit das Dasein in Frage zu stellen und seine Aufhebung für möglich zu halten.

Von ihren Anfängen bis zur Gegenwart ist die Philosophie der Inder nie eine rein theoretische Weltdeutung geblieben, sondern hat sich stets in einer praktischen Lebensgestaltung ausgewirkt. Dadurch, daß die meisten ihrer repräsentativen Vertreter den Weg nach innen einschlugen und den Mysterien der eigenen Seele ihr vornehmstes Interesse zuwandten, sind die Inder frühzeitig auf dem Gebiet der Psychologie zu Erkenntnissen vorgedrungen, die der Westen sich erst in neuerer Zeit in der Gestalt der ´Psycho-Analyse`, des ´autogenen Training`usw. nutzbar gemacht hat.“

Gegen Ende seiner obigen Ausführungen zur Bedeutung der indischen Philosophie stellte von Glasenapp fest, dass es zwar „ein schwerer Fehler wäre, von den Indern alles kritiklos zu übernehmen“, doch „unterliegt es keinem Zweifel, daß der Westen in dieser Beziehung noch viel von den Indern zu lernen hat“. 4

Für Arthur Schopenhauer waren es vor allem die Lehre des Buddha, den er als „Siegreich-Vollendeten“ hoch schätzte und die Philosophie der altindischen Upanishaden, die er als „Frucht der höchsten menschlichen Erkenntnis und Weisheit“ überaus schätzte. 5 Ja sogar für das Verständnis seiner eigenen Philosophie hielt er die indischen Weisheitslehren für sehr hilfreich. So heißt es in der Vorrede zur ersten Auflage seines Hauptwerkes: „Hat … der Leser auch schon [neben dem Studium der Werke Kants und Platons] die Weihe uralter Indischer Weisheit empfangen und empfänglich aufgenommen, dann ist er auf das allerbeste bereitet zu hören, was ich ihm vorzutragen habe.“ 6

Die indischen Weisheitslehren, insbesondere die Upanishaden und der Buddhismus, beruhen auf uralten, auch heute noch durchaus wertvollen spirituellen Erfahrungen. Vor allem der Buddhismus geht von der Tatsache aus, dass das Leben für Mensch und Tier mit viel Leid verbunden ist. Dementsprechend steht die Erlösung vom Leid der Vergänglichkeit im Mittelpunkt der buddhistischen Lehre. So erklärte der Buddha: „Wie das Meer nur einen Geschmack hat, den des Salzes, so hat auch meine Lehre nur einen Geschmack – den der Erlösung.“ 7

Auch Schopenhauer ging es um Erlösung. Im „Sansara“ (womit die Buddhisten den Kreislauf der Existenzen, das Weltleben, bezeichnen) treten, wie er meinte, „wiewohl sehr sporadisch, aber doch stets von Neuem uns überraschend, Erscheinungen der Redlichkeit, der Güte, ja des Edelmuts … auf. Nie gehen diese ganz aus: sie schimmern uns wie einzelne glänzende Punkte aus der großen Masse entgegen. Wir müssen sie als ein Unterpfand nehmen, daß ein gutes und erlösendes Prinzip in diesem Sansara steckt, welches zum Durchbruch kommen und das Ganze erfüllen und befreien kann“. 8

Somit stimmte der angebliche „Pessimist“ Arthur Schopenhauer mit dem Buddha und anderen indischen Weisen in der Erkenntnis überein, dass Erlösung letztlich möglich ist. 9 In dieser höchst optimistischen und trostvollen Erkenntnis liegt meiner Meinung nach die größte Bedeutung der indischen Weisheitslehren.

H.B.

Weiteres zu > Arthur Schopenhauer und den > Upanishaden sowie zum > Buddhismus.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 1, München 1985, S. 422.
2 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 219.
3 „Obwohl sich die abendländische Wissenschaft seit einhundertfünfzig Jahren um die Philosophie der Inder bemüht, haben bisher nur wenige Denker des Westens den metaphysischen Systemen des Gangeslandes gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Dies hat seinen Grund zum Teil darin, daß viele von ihnen auch heute noch unbewußt dem Einfluß des mittelalterlichen Weltbildes unterliegen, für welches die um den Mittelmeerraum erwachsene Kultur das Maß der Dinge darstellt und das geistige Leben des südlichen und östlichen Asiens diesem nicht gleichwertig und deshalb nur von vorwiegend ethnographischem Interesse ist“ (Helmuth von Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 3. Aufl., Stuttgart 1974, S. IX).
4 Ebd., S. 453 f.
5 Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 442.
6 Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 11.
7 Anguttara-Nikaya 8, 19, 16, zit. aus: Pfad zur Erleuchtung, Buddhistische Grundtexte übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln 1974, S. 56.
8 Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II, S. 238.
9 Ausführlicher > Arthur Schopenhauer : Leid und Erlösung.