Wahrheit und gekränkte Eitelkeit

Wahrheit und Eitelkeit vertragen sich nicht. Besonders Arthur Schopenhauer musste das erfahren, denn in seiner Philosophie gilt der Grundsatz: Ehrwürdig ist die Wahrheit; nicht was ihr entgegensteht. 1 So kam es dann, dass nicht wenige Menschen sich durch seine Wahrheiten in ihrer Eitelkeit verletzt fühlten.

Wo ist eine Eitelkeit, die ich nicht gekränkt hätte? – fragte Arthur Schopenhauer in einem Brief an seinen Freund und aktivsten Anhänger Julius Frauenstädt. 2 Seine Frage war durchaus berechtigt, denn es waren viele Eitelkeiten. Jedoch die größte Eitelkeit, die Schopenhauer gekränkt hatte, war der Wahn der Menschen, ihr Glaube, mehr als nur ein Teil der Natur zu sein. Die Menschen sahen sich, und viele sehen sich wohl auch heute noch so, wie die christliche Kirche es sie lehrte, nämlich als Ebenbild Gottes, als Krönung der Schöpfung und dementsprechend auch als Herrscher über die Natur. Martin Luther zum Beispiel bestärkte sie in diesem Glauben, indem er in einer seiner „Tischreden“ sagte: Alle Wälder und Hölzer sind unsere Jägerei … Denn es ist alles um unser, der Menschen Willen geschaffen. 3

Entgegen dem Luther-Zitat vertrat Schopenhauer eine völlig andere Meinung, die er im Rahmen seiner Philosophie metaphysisch sehr tief begründete. Der Philosoph und Schopenhauer-Forscher Heinrich Hasse schrieb hierzu:

„Schonungslos und freimütig, wie wenige Betrachter der eigenen [also der menschlichen] Gattung es gewesen sind, hat Schopenhauer auch auf diesem Gebiet allen falschen Respekt überwunden. Er sieht und schildert das Typische am Menschen mit dem durchdringenden Blick eines Forschers, welchem die Rücksicht auf Wahrheit höher steht als die Rücksicht auf menschliches Vorurteil und menschliche Eitelkeit.

Ohne Bedenken wird die moderne Wissenschaft und die auf ihr fußende Weltanschauung sich den Gedanken anschließen, mit welchen Schopenhauer die Einordnung des Menschen in die Reihe der höheren Wirbeltiere vollzieht.

Obwohl seine Hypothese über den Ursprung des Menschen nur als interessantes Vorspiel einer wissenschaftlich gesicherten Deszendenztheorie [Abstammungslehre] gelten kann, bildet die philosophische Zurückweisung einer supranaturalistisch [übernatürlich] begründeten Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren und die damit verbundene Anerkennung der Wesensverwandtschaft des Menschen mit der Tierwelt eine innerhalb des abendländischen Denkens höchst verdienstvolle Tat.

Ihre Bedeutung erscheint noch größer bei der Erwägung, daß (im Gegensatz zur indischen Weltauffassung) das christlich-europäische Denken mit der Leugnung dieser Wesensverwandtschaft die Einheit des organischen Lebens gesprengt, den Menschen von der Tierreihe willkürlich losgerissen und die Tiere zu moralischer Rechtlosigkeit verurteilt hatte.“ 4

Auch Hasses Hinweis auf die Rechtlosigkeit der Tiere entspricht völlig Schopenhauers Philosophie, denn dort begründete Schopenhauer sehr eingehend, „daß die Thiere, in der Hauptsache und im Wesentlichen, ganz das Selbe sind, was wir, und daß der Unterschied bloß im Grade der Intelligenz, d. i. Gehirntätigkeit liegt […] Erst wann jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit in´s Volk gedrungen sein wird, werden die Thiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn und demnach der bösen Laune und Grausamkeit jedes rohen Buben preisgegeben sein; und wird es nicht jedem Medikaster freistehn, jede abenteuerliche Grille seiner Unwissenheit durch die gräßlichste Qual einer Unzahl Thiere auf die Probe zu stellen; wie heut zu Tage geschieht.“ 5 Übrigens, was Schopenhauer hier ansprach, sind die qualvollen Tierversuche, die damals so wie leider auch heute noch wissenschaftlicher Alltag und Ergebnis jener Auffassung sind, dass der Mensch unendlich weit über dem Tier stehe.

Eitelkeit, so meinte Arthur Schopenhauer, entstehe, indem der Mensch sich mit anderen Wesen vergleicht. Dabei sei er „auf keine Vorzüge … so stolz wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen sein Vorzug vor den Tieren.“ 6

Seit Schopenhauer muss jedoch die Wissenschaft immer deutlicher zur Kenntnis nehmen, dass die geistigen Fähigkeiten mancher Tiere mitunter die des Menschen übertreffen können. 7 Die Wissenschaft liefert fast täglich neue Beweise, dass hoch entwickelte Tiere in ihrem Denken und Fühlen den Menschen wesentlich näher stehen, als viele Tiernutzer es wahrhaben wollen. 8

So ist der Glaube des Menschen, er sei berechtigt, sich ohne irgendwelche moralischen Bedenken über das Tier und die übrige Natur zu erheben, ein Irrglaube. Schopenhauer hatte diesem Irrglauben entschieden wie kaum ein anderer weltberühmter Philosoph widersprochen und dabei die Eitelkeit des sich als „Krone der Schöpfung“ fühlenden Menschen gekränkt.

Die Kränkung wurde ihm übel genommen. Arthur Schopenhauer blieb dabei – der Wahrheit wegen. Wohl nicht ganz zu Unrecht schrieb er in seinem eingangs erwähnten Brief: Man dient nicht der Welt und der Wahrheit zugleich.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band V: Ueber den Willen in der Natur, Zürich 1977, S. 237.
(2) Brief vom 21.08.1852, in: Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 292.
(3) D. Martin Luther´s sämtliche Schriften, XXII. Band. Enthaltend: Die Colloquia oder Tischreden, hrsg. und erl. von Karl Eduard Förstemann, Leipzig 1844, S. 141.
(4) Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 450 f. Dieses Buch ist auch heute noch eine der besten Darstellungen zu Schopenhauers Leben und Werk (> mehr).
(5) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 15: Ueber Religion, § 177: Ueber das Christenthum, S. 415.
(6) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, a. a. O., Band VIII: Parerga und Paralipomena I, Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 501 f.
(7) Abgesehen davon, sind geistige Fähigkeiten noch keine moralischen Qualitäten, weil es darauf ankommt, ob sie für moralisch gute oder verwerfliche Zwecke eingesetzt werden.
(8) S. hierzu Beispiele:
(a) Der Geist der Tiere , Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, hrsg, von Dominik Perler und Markus Wild, Frankfurt am Main 2005.
(b) James Serpell, Das Tier und wir, Rüschlikon-Zürich 1990.
(c) Frans de Waal, Der Affe in uns, München-Wien 2006.

Wahrheit und Zeitgeist

Arthur Schopenhauer veröffentlichte sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung 1819 im Brockhaus-Verlag, und zwar, so schrieb er an den Verleger, in der „festen Überzeugung“, dass sein Buch „nachher die Quelle und der Anlaß von hundert andern Büchern werden“ würde. Das Buch enthalte „nicht eine neue Darstellung des schon Vorhandenen: sondern eine im höchsten Grad zusammenhängende Gedankenreihe, die bisher noch  nie in irgend eines Menschen Kopf gekommen“ sei.(1) Dementsprechend hoffnungsvoll erwartete dann Schopenhauer den Verkauf seines Buches und das Echo der philosophisch interessierten Öffentlichkeit.

Etwa zehn Jahre danach erkundigte sich Schopenhauer beim Verleger nach dem Absatz seines Werkes.(2) Der antwortete ihm, dass noch 150 Exemplare des Werkes vorrätig seien, wie viele verkauft worden seien, könnte er aber nicht sagen, da er vor mehreren Jahren eine bedeutende Anzahl zu Makulatur gemacht habe. (3)  Eine wirklich niederschmetternde Antwort für Schopenhauer.

Dennoch ließ sich Schopenhauer nicht entmutigen. Er wandte sich 1843 erneut an den Brockhaus-Verlag, um diesem den zweiten Band seines Hauptwerkes zur Veröffentlichung anzubieten. Dieser Band habe  „bedeutende Vorzüge vor dem ersten und verhält sich zu diesem, wie das ausgemalte Bild zur bloßen Skizze … Jedenfalls ist es das Beste, was ich geschrieben habe“ (4).

Die Antwort des Verlegers war noch trostloser als beim ersten Band: Der Verlag könne auf Schopenhauers Antrag nicht eingehen, auch nicht wenn dieser auf sein Honorar verzichte. Der Verlag habe mit seinem Werk von 1819 „ein zu schlechtes Geschäft“ gemacht.  (Von den nach der letzten Makulierung im Jahre zurückgebliebenen 50 Exemplaren war noch immer eine „für die Nachfrage genügende“ Anzahl vorhanden.) Nur wenn Schopenhauer noch Druckkosten übernehme, wolle der Verlag die beiden Bände in Kommission nahmen.(5) Jedenfalls deutlicher konnte der Verlag kaum zum Ausdruck bringen, wie gering er den Wert von Schopenhauers Hauptwerk für die Öffentlichkeit einschätzte.

Es dürfte verständlich sein, wenn Schopenhauer diese fehlende Wertschätzung seiner bisherigen Lebensarbeit verbitterte und meinte: „Mein Zeitalter und ich passen nicht für einander.“ (6) Der von Hegel und anderen Fortschrittsgläubigen sowie der Theologie beherrschte philosophische Zeitgeist stand Schopenhauers Philosophie entgegen. Mochte sie noch so sehr der Wahrheit entsprechen, die akademisch etablierte „Philosophie“ nahm Schopenhauer nicht oder nur am Rande zur Kenntnis.

Die fast völlige Nichtbeachtung Schopenhauers  änderte sich grundlegend erst in dessen letztem Lebensjahrzehnt, und zwar weniger durch die Universitätsphilosophie als vielmehr durch seine 1851 veröffentlichten Aphorismen zur Lebensweisheit. „Dieser weise-gelassene und zugleich blendende Rechenschaftsbericht eines ganzen Lebens, mit dem wir dem menschlichen Bilde Schopenhauers näher sind als je“ (7) brachte – und bringt auch heute noch – Schopenhauer eine  weit über den akademischen Bereich hinaus reichende Vielzahl von Lesern. Auch für diesen Blog zu Schopenhauers Lebensphilosophie sind dessen Aphorismen eine Schatzkammer voller tiefer und dabei immer sehr lebensnah bleibender Weisheiten.

Ein Beispiel für das zunehmende Interesse der Öffentlichkeit an Schopenhauers Wahrheiten ist eine Rezension, die 1855 in einer Belletristischen Beilage einer Frankfurter Zeitung erschien:

„Schopenhauers Philosophie steht schon seit 1818 am Himmel der philosophischen Forschung, ohne daß sie wie sie es verdient beachtet wurde. Die Nebel der bisherigen Philosophien hinderten sie zu erblicken. Jetzt, da diese Nebel gefallen sind, steht sie klar am Himmel, wie die Sonne, und wird nicht untergehen. Sie ist eine Bestätigung des Wortes: die Wahrheit wird euch frei machen. Niemand hat sie bis jetzt widerlegen können. Alle Versuche, die hie und da von schwachen Händen gemacht worden, sind wie von einem Felsen abgeprallt. Wer Schopenhauers Philosophie kennt, wird dieses begreiflich finden. Was will Schopenhauer? Was gibt seiner Philosophie die unwiderstehliche Gewalt? Es ist die einfache Thatsache, daß diese Philosophie, welche aus der Erfahrung schöpft, mit der Erfahrung übereinstimmt, daß sie ihre Bestätigung aus beinahe allen empirischen Wissenschaften erhält. Dies und die seltene Wahrhaftigkeit ihres Urhebers macht sie so unwiderstehlich.“ (8)

Für Schopenhauer waren solche positiven Beurteilungen eine Entschädigung für die vielen Jahren, in welchen er sich als Kaspar Hauser der Philosophie fühlen musste. So hatte er nun „den Philosophieprofessoren eine betrübte Nachricht mitzuteilen. Ihr Kaspar Hauser, den sie beinahe vierzig Jahre hindurch, von Licht und Luft so sorgfältig abgesperrt und so fest eingemauert hatten, daß kein Laut sein Daseyn der Welt verrathen konnte, – ihr Kaspar Hauser ist entsprungen!“ (9)

Nun konnte sich Schopenhauer in seiner Überzeugung bestätigt finden, dass die Wahrheit trotz aller Hindernisse, die der Zeitgeist ihr entgegenzustellen vermag, sich zwar langsam, aber letztlich durchsetzen wird:

„Die Wahrheit kann warten: denn sie hat ein langes Leben vor sich. Das Aechte und ernstlich Gemeinte geht stets langsam seinen Gang und erreicht sein Ziel, freilich fast wie durch ein Wunder … Wenn die Wahrheit, um wahr zu seyn, bei Denen um Erlaubniß zu bitten hätte, welchen ganz andere Dinge am Herzen liegen; da könnte man freilich an ihrer Sache verzweifeln.“ (10.)

Arthur Schopenhauer verzweifelte nicht. Er wusste aus eigener jahrzehntelanger Erfahrung „daß die Einsicht Einzelner sich nicht gelten machen kann, so lange der Geist der Zeit nicht reif ist, sie aufzunehmen.“ (11)  Wer die Wahrheit entgegen dem Zeitgeist den Menschen nahezubringen versucht, benötigt Geduld und nicht selten auch Mut:

Die Wahrheit steckt tief im Brunnen, – hat Demokritos gesagt, und die Jahrtausende haben es seufzend wiederholt: aber es ist kein Wunder; wenn man, sobald sie heraus will, ihr auf die Finger schlägt.“ (12)

H.B.

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Zitatquellen

(1) Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. v. Arthur Hübscher,
2. Aufl., Bonn 1987, S. 29 f.
(2) Ebd., S. 108.
(3) Ebd., S. 517.
(4) Ebd., S. 195.
(5) Ebd., S. 536.
(6) Aus Arthur Schopenhauer´s handschriftlichem Nachlaß,
hrsg. v. Julius Frauenstädt, Leipzig 1864, S. 477.
(7) Arthur Schopenhauer – Ein Lebensbild von Arthur Hübscher,
2. Aufl., Wiesbaden 1949, S. 96.
(8) Zit. n. Schopenhauer , Briefe, a. a. O., S. 697.
(9) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürch 1977
(Zürcher Ausgabe), Band V: Ueber den Willen in der Natur, S. 185.
(10) Ebd., S. 207 f.
(11) Schopenhauer , Werke, a. a. O.,
Band VII:Parerga und Paralipomena I, S. 14.
(12) Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band V,  S. 219.

 

 

 

 

 

Philosophieren – warum?

Es kann viele Gründe zum Philosophieren geben: Oft ist es die Schule oder die Universität, wo man sich mit Philosophie beschäftigt. Manche philosophieren aus beruflichen Gründen, also um damit ihr Brot zu verdienen. Arthur Schopenhauer hat sich über solche “ Philosophen “ etwas geringschätzig geäußert, denn diese würden nicht  für die Philosophie, sondern  von der Philosophie leben.

Jedoch was heißt Philosophieren ?  Das „Philosophische Wörterbuch” übersetzt das griechische Wort Philosophie mit Liebe zur Wahrheit, wobei das Wort „philosophos” zuerst vom vorsokratischen Philosophen Heraklit im Sinne von „ein nach der Natur der Dinge Forschender” verwendet worden sei. Demnach verstehe ich unter Philosophieren das Suchen nach der Wahrheit, nach der wahren Natur unseres Daseins. Hierzu gehört vor allem auch die Frage nach dem Ende des Daseins , dem Tod. Gerade diese Frage hat seit jeher die Menschen, und zwar seit sie wissen, dass sie sterblich sind, zutiefst bewegt.

So stand die Tatsache, dass unser Dasein untrennbar mit Leid und Tod verbunden ist, am Anfang des Philosophierens. Arthur Schopenhauer:

“ … ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt gibt. Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, würde es vielleicht Keinem einfallen zu fragen, warum die Welt gerade diese Beschaffenheit habe; sondern eben auch sich Alles von Selbst verstehen.“
Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Diogenes: Zürich 1977, Band III, S. 187 f.

In der Frühzeit der Menschheit war es aber nicht die Philosophie, sondern die Religion, mit der die Menschen versuchten, Antworten auf Leid, Not und Tod, also auf ihre existentiellen Probleme, zu finden. Jedoch irgendwann reichte ihnen die Religion nicht, denn – so Arthur Schopenhauer:

„Mit der Unfähigkeit zum Glauben wächst das Bedürfnis der Erkenntnis. Es gibt einen Siedepunkt auf der Skala der Kultur, wo aller Glaube, alle Offenbarung, alle Auktoriäten (Autoritäten) sich verflüchtigen, der Mensch nach eigener Einsicht verlangt, belehrt, aber auch überzeugt sein will. Das Gängelband der Kindheit ist von ihm abgefallen. Dabei ist sein metaphysisches Bedürfnis so unvertilgbar, wie irgend ein physisches. Dann wird es Ernst mit dem Verlangen nach Philosophie … Mit hohlem Wortkram und impotenten Bemühungen geistiger Kastraten ist da nicht mehr auszureichen; sondern es bedarf dann einer ernstlich gemeinten, d. h. einer auf Wahrheit, nicht auf Gehalt und  Honorare gerichteten Philosophie, die daher nicht frägt, ob sie Ministern oder Räten gefalle, oder dieser oder jener Kirchenpartei der Zeit in ihren Kram passe…“
Arthur Schopenhauer, a. a. O., Band V, S. 138 f.

So wurde – vielleicht nicht für alle Menschen, zumindest aber für eine geistige Elite – das Philosophieren zu einem Bedürfnis. Da es hierbei um die Suche nach der Wahrheit geht, fällt mir dazu ein Ausspruch des ZEN – Meisters Sosan ein, der vor fast 1500 Jahren erklärte:

Ihr braucht die Wahrheit nicht zu suchen,
Wenn ihr nur keinen vorgefassten
Urteilen und Meinungen anhängt.

Ja, LOSLASSEN, darauf kommt es an! Doch können wir so einfach loslassen? Mit dieser Frage, die letztlich eine metaphysische ist, sind wir wieder beim Philosophieren.
hb

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Lebensweisheit : Verborgene Wahrheit

Bei Arthur Schopenhauer las ich eine alte Lebensweisheit, die wohl jeder, der mit kritischem Blick unsere Welt betrachtet, bestätigen kann:

Die Wahrheit steckt tief im Brunnen, hat Demokritos gesagt, und die Jahrtausende haben es seufzend wiederholt: aber es ist kein Wunder; wenn man, sobald sie heraus will, ihr auf die Finger schlägt.
hb

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Schopenhauer : Paradoxe Wahrheit

Das Eigenschaftswort “ paradox “ bedeutet laut DUDEN „(scheinbar) widersinnig“  oder umgangssprachlich „sonderbar“. Diese Erklärung trifft auf manche Aussagen von Arthur Schopenhauer zu, denn bei oberflächlicher Betrachtung scheint gerade der Kern der Philosophie Schopenhauers mitunter widersinnig, zumindest aber sonderbar zu sein. Ob eine Aussage vielen Menschen auf den ersten Blick widersinnig  oder sonderbar erscheint, sagt jedoch nichts über ihren Wahrheitsgehalt aus. Ja, es ist sogar eine alte Lebenserfahrung, dass Wahrheiten, die zunächst den üblichen Ansichten widersprechen und deshalb abgelehnt wurden, ihre Zeit brauchen, bis sie, wenigstens von Einsichtigen, als wahr anerkannt werden.  So schrieb dazu Arthur Schopenhauer:

In allen Jahrhunderten hat die arme Wahrheit darüber erröten müssen, dass sie paradox war: und es ist doch nicht ihre Schuld. Sie kann nicht die Gestalt des thronenden allgemeinen Irrtums annehmen. Da sieht sie seufzend auf zu ihrem Schutzgott, der Zeit, welcher ihr Sieg und Ruhm zuwinkt, aber dessen Flügelschläge so groß und langsam sind, dass das Individuum darüber hinwegstirbt, So bin denn auch ich mir des Paradoxen (in meiner Philosophie) …sehr wohl bewusst, kann jedoch nicht der Wahrheit Gewalt antun.
( Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Band VI, Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 22, S. 314)

Sich auf den sogenannten gemeinen Menschenverstand zu berufen, hielt auch der von Schopenhauer hoch verehrte Kant für problematisch, weil dieses wäre „bei Lichte besehen … nichts anderes, als die Berufung auf das Urteil der Menge; ein Zuklatschen, über das der Philosoph errötet.“   Platon, der wohl bedeutendste aller abendländischen Philosophen, weigerte sich sogar den innersten Kern seiner Lehre einer Schrift anzuvertrauen und damit dem Unverständnis der Menge preiszugeben. Mich erinnert das an einen anderen altgriechischen Philosophen, der auf dem Marktplatz seine Erkenntnisse verkündete und dafür großen Beifall der Menge erhielt. Er fragte daraufhin einen seiner Schüler: „Was habe ich falsch gesagt?“ 

Es ist daher nicht verwunderlich, dass zwar Schopenhauers leicht verständliche Aphorismen zur Lebensweisheit große Verbreitung und Anerkennung gefunden haben, dass aber sein philosophisch weit tieferes und bedeutenderes Werk, nämlich Die Welt als Wille und Vorstellung, erheblich weniger von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Das hängt wohl damit zusammen, dass, wie Schopenhauer meinte, seine Lehre denen „paradox … scheinen mag, die nicht auf den Kern der Sache gehn, sondern bei der Schale stehn bleiben„.
( Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Band IX, Parerga und Paralipomena II, Kap. 14, § 163, S. 342)

Wahrheiten können derart paradox erscheinen, dass sie auf den Unkundigen schon lächerlich wirken. Eine solche Schrift voll paradoxer Wahrheiten ist das TAO TE KING des Laotse. Dessen 41. Spruch beginnt mit den Worten:

Hören hohe Meister vom TAO,
Werden sie angeregt und handeln danach,
Hören mittlere Meister vom TAO,
So bewahren sie es  bald, bald verlieren sie es,
Hören niedere Meister vom TAO
So lachen sie gewaltig darüber.
Würden sie nicht lachen,
So wäre es nicht das TAO.

Übrigens, sollte ich je auf eine einsame Insel verbannt werden und dürfte ich dabei nur ein einziges Buch mitnehmen, so wäre es das TAO TE KING. Warum? – Gerade weil es voller lachhafter Weisheiten ist.
hb

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Schopenhauer : Wahrheit – Anschauung – Erkenntnis

Worauf beruht Wahrheit? Wie können wir sie erkennen? Wie kommt es zu einer solchen Erkenntnis?  Ganz im Sinne von Arthur Schopenhauer gab dazu  Pestalozzi die Antwort: Die Anschauung ist das Fundament aller Erkenntnis.

Schopenhauer hatte sich hierzu ausführlicher geäußert:
Es kann keine Wahrheit geben, die unbedingt allein durch Schlüsse herauszubringen wäre; sondern die Notwendigkeit, sie bloß durch Schlüsse zu begründen, ist immer nur relativ, ja subjektiv. Da alle Beweise Schlüsse sind, so ist für eine neue Wahrheit nicht zuerst ein Beweis, sondern unmittelbare Evidenz (= Augenscheinlichkeit, höchste, im Bewusstsein erlebte und zur  Gewissheit führende Einsichtigkeit) zu suchen… Durch und durch beweisbar kann keine Wissenschaft sein; so wenig als ein Gebäude in der Luft stehn kann: alle ihre Beweise müssen auf ein Anschauliches … zurückführen. Denn die ganze Welt der Reflexion (= prüfendes  und vergleichendes Nachdenken) ruht und wurzelt auf der anschaulichen Welt.
(Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 1. Buch, § 14, S.104)

Schopenhauers obige Darlegungen sind ziemlich einleuchtend, aber sie sind auch problematisch: Wenn die Erkennntnis der Wahrheit von der Anschauung abhängt, dann kann diese Erkenntnis nur insoweit richtig sein wie die Anschauung richtig ist. Daher ist z. B. rechte Anschauung ein sehr wichtiger Teil des Edlen Achtfachen Pfades, der im Mittelpunkt der von Arthur Schopenhauer so hoch geschätzten buddhistischen Lehre steht. “ Rechte Anschauung “ ist dort Meditation, bei Schopenhauer das kontemplative („willensfreie“) Betrachten.

Wenn in der Philosophie eine solche rechte Anschauung  fehlt und diese sich im rein Begrifflichen erschöpft, kann es leicht zu einer Denkakrobatik kommen, deren Ergebnisse kaum nachvollziehbar sind. Mir fällt dazu eine bissige Aussage Schopenhauers zu Fichte ein, nämlich eine Phrase …, welche Fichte, wann er seine dramatischen Talente auf dem Katheder produzierte, mit tiefem Ernst, imponierendem Nachdruck und überaus studentenverblüffender Miene so auszusprechen pflegte: „es ist, weil es ist; und ist wie es ist, weil es so ist.“
(Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Parerga und Paralipomena II, Kap. 3, S. 43)

Ehrlich gesagt, ich habe den tieferen Sinn – sollte es den überhaupt geben – von Fichtes Satz bisher nicht gefunden. Vielleicht ist dieser Satz, wie Schopenhauer meinte, nur eine „Phrase“. Dann allerdings hat sie mit  meinem Leben und mit Lebensphilosophie nichts zu tun. Lebensphilosophie ist ja keine „jämmerliche Kathederhanswurstiade“ (Schopenhauer), sondern beruht vor allem auf Lebenserfahrung, auf “ rechter Anschauung “ des Lebens. Jedoch ist für Wahrheiten, die so durch das Leben selbst gelehrt werden,  mitunter teures Lehrgeld zu zahlen. Im übrigen ist es mit der Wahrheit auch sonst nicht einfach, denn:
“ Die Wahrheit steckt tief im Brunnen“, hat Demokritos gesagt, und Jahrtausende haben es seufzend wiederholt: aber es ist kein Wunder; wenn man, sobald sie heraus will, ihr auf die Finger schlägt.“
(Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Über den Willen in der Natur, Physiologie und Pathologie, S. 219)

hb

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Friedrich Nietzsche : Arthur Schopenhauer

Friedrich Nietzsche in seinem Essay “ Schopenhauer als Erzieher „: Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen und jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun Jahren. Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte…

Welche Bedeutung  Arthur Schopenhauer und seine Philosophie für Friedrich Nietzsche hatte, wird deutlich, wenn man zum Stichwort “ Schopenhauer “ das von Richard Oehler zusammengestellte “ Nietzsche – Register “ aufschlägt. Dort sind derart viele Eintragungen zu Schopenhauer zu finden wie kaum zu einem anderen Namen. An Schopenhauer hatte sich Nietzsche offensichtlich, jedenfalls solange er noch hinreichend geistig gesund  war, „abgearbeitet“.

Nietzsche wußte, dass Schopenhauer Wahrheiten aussprach, die durchaus nicht populär sind, ja auch nicht sein können. Denn, so Laotse im Tao te king: Wahre Worte sind nicht schön, schöne Worte sind nicht wahr.

Ganz in diesem Sinne schloss Nietzsche sein Essay über Schopenhauer mit den Worten: … die Liebe zur Wahrheit ( ist) etwas Furchtbares und Gewaltiges … Dies und jenes bewies Schopenhauer – und wird es von Tag zu Tag mehr beweisen.

Eine dieser Wahrheiten, für die Nietzsches Wort gilt – Wer möchte nicht ganz anderer Meinung sein als Schopenhauer, im ganzen und großen – ist Schopenhauers Erkenntnis von der Unfreiheit des Willens. Kaum eine andere Aussage Schopenhauers ist derart umstritten und wird mit solcher Entschiedenheit abgelehnt wie diese. Jedoch über Wahrheiten kann nicht demokratisch, gewissermaßen per Volksabstimmung, entschieden werden. Die Wahrheit  muß von jedem Einzelnen selbst gefunden werden, wobei der sogenannte „gesunde Menschenverstand“ durchaus irren kann. Was es mit der  vermeintlichen „Willensfreiheit“  auf sich hat, brachte Nietzsche sehr anschaulich zum Ausdruck:

Was ist Wollen! – Wir lachen über den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: `Ich will, daß die Sonne aufgehe` und über den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: ´ich will, daß es rolle`und über den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: `hier liege ich, aber ich will hier liegen!`Aber trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders als einer von diesen Dreien, wenn wir das Wort gebrauchen: ´Ich will`?“

Zu seiner „Morgenröte“, aus der obiges Zitat stammt, schrieb Nietzsche als Motto:

Wer viel einst zu verkünden hat, Schweigt viel in sich hinein: Wer einst den Blitz zu zünden hat, Muß lange – Wolke sein. 

Mir scheint, Schopenhauer ist, trotz aller Berühmtheit, immer noch diese Wolke. Bei Einzelnen hat jedoch der Blitz schon gezündet – wie ich hoffe, auch bei mir.

hb

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