Heroischer Lebenslauf ?

Arthur Schopenhauers Philosophie hat viele Freunde, zugleich aber auch viele Gegner. Manchen von ihnen scheint es bei ihrer Kritik an sachlichen Argumenten zu mangeln, denn sie versuchen, Schopenhauer als Person anzugreifen. Das ist nicht besonders schwierig, weil – wie bei jedem Menschen – sich auch bei Schopenhauer menschliche Schwächen finden, die sich dann in Vergrößerung herausstellen lassen. Selbst diejenigen, welche einen, wie es Schopenhauer nannte, heroischen Lebenslauf vorzuweisen haben, sind nicht ohne Fehler. Paul Deussen, Professor der Philosophie und Herausgeber von Schopenhauers Schriften, schrieb dazu in seinem Buch Neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer (3. Aufl., Leipzig 1922, S. 422 ff.):

„Als Mensch war Schopenhauer, wie jeder Mensch, nicht ohne Schwächen [… er hatte] Charakterzüge, die man wegwünschen möchte und an ihm ertragen muss. Aber diese Züge verschwinden wie leichte Wolkenschatten vor der strahlenden Sonne, über der herrlichen Fülle der tiefsten Aufschlüsse über Welt und Leben, wie sie kein anderer Philosoph alter und neuer Zeit in dem Maße wie Schopenhauer zu bieten weiß, sie verschwinden vor der herrlichen Schilderung, welche Schopenhauer [in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung II, 2. Buch, Kap. 19] von dem moralischen Menschen entwirft:

Wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blass und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann sie den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, dass man solche vermisst zu haben sich schämt. Sogar der beschränkteste Verstand, wie auch die groteske Hässlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich in ihrer Begleitung kundgetan, gleichsam verklärt, umstrahlt von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muss. Denn die Güte des Herzens ist eine transzendente Eigenschaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichenden Ordnung der Dinge an und ist mit jeder andern Vollkommenheit inkommensurabel [unvergleichbar].

Schopenhauer hätte die Güte des Herzens nicht mit dieser tiefen Einsicht schildern können, wenn er sie nicht in sich selbst gefunden und erlebt hätte. Unter einer oft rauhen Außenseite verbarg er ein edles, wohlwollendes, stets zur Hilfe bereites Herz.

[…] Er übte, wie sein Biograph Gwinner berichtet, Mildtätigkeit in einem für seine Verhältnisse ungewöhnlichen Grade: Keine Gelegenheit zur Milderung fremder Not, insbesondere bei Unglücksfällen, das Seinige beizutragen, ließ er vorübergehen ; ja er scheute selbst größere Opfer nicht, wenn es zu helfen galt

[…] Sein ganzes Leben hindurch widerstand er den Lockungen, sich bei den sogenannten Großen der Welt, bei den Regierungen und den Stimmführern der öffentlichen Meinung zu empfehlen, und bei aller Sehnsucht nach Anerkennung ließ er sich doch nicht verleiten, den Neigungen des Zeitalters irgendwelche Konzessionen zu machen, dem Publikum zu schmeicheln und den Wünschen des Lesers in irgend etwas anderm entgegenzukommen als in der mühsam erreichten Klarheit und Schönheit seiner Darstellung.

Das Höchste, was der Mensch erlangen kann, sagt er [in Parerga II, § 172 a], ist ein heroischer Lebenslauf. Einen solchen führt der, welcher, in irgendeiner Art und Angelegenheit, für das allen irgendwie zugute Kommende, mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird.“
H.B.

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Schopenhauer : Alles nur Zufall ?

Wer auf ein langes Leben voller Ereignisse zurückblicken kann, wundert sich zuweilen, wie oft sein Leben durch einen Zufall entscheidend bestimmt wurde, ja mitunter verlief das Leben dadurch in eine ganz andere Richtung. War das alles wirklich nur Zufall? Je älter ich werde und je mehr ich über manche schicksalhafte Begebenheiten in meinem Leben nachdenke, desto bedeutsamer werden für mich die Gedanken und Einsichten, die Arthur Schopenhauer unter der Überschrift „Über die anscheinende Absicht im Schicksale des Einzelnen“ geäußert hatte. 

Für die Frage, ob alles nur Zufall sei, müssen wir von unserem Lebenslauf ausgehen. Wenn wir dabei „manche Szenen unserer Vergangenheit genau durchdenken“, dann, so meinte Schopenhauer, würde „uns alles wie in einem recht planmäßig angelegten Roman“ erscheinen.  Hierbei  könnten manche Begebenheiten in unserem Leben, besonders wenn sie häufiger vorkamen, uns allmählich zu der Ansicht, ja zur Überzeugung führen, dass unser „Lebenslauf, so verworren er auch scheinen mag, ein in sich übereinstimmendes Ganzes sei“ und dieses Ganze eine „bestimmte Tendenz“ und einen „belehrenden Sinn“ habe.

Es geschieht oft sehr Sonderbares im Leben. Dann fällt es schwer, noch an bloßen Zufall zu glauben. Zum Beispiel hatte Wilhelm von Scholz in seinem Buch „Der Zufall und das Schicksal. Die geheimen Kräfte des Unwahrscheinlichen“ eine Sammlung solcher merkwürdiger Vorkommnisse zusammengetragen: So kaufte ein Kunstfreund in München ein altes Vasenfragment. Jahre später schenkte ihm ein Freund ein in Athen gekauftes Vasenfragment. Wie sich dann herausstellte, passte die Scherbe aus Athen genau in die Bruchstelle des in München erworbenen Stückes. Scholz fragte sich nun, ob das Zufall sei oder eine „geheime Kraft“ die beiden Bruchstücke, vielleicht nach Jahrtausenden, wieder zusammengeführt habe.

Arthur Schopenhauer dachte wohl an ähnliche höchst verwunderliche Fälle, denn er schrieb dazu: „Vielleicht wird jeder, bei gehörigem Nachdenken, in seinem eigenen Lebenslaufe analoge Fälle finden können … Gar mancher aber wird hiedurch zu der Annahme getrieben werden, dass eine geheime und unerklärliche Macht alle Wendungen und Windungen unseres Lebenslaufes, und zwar sehr oft gegen unsere einstweilige Absicht, … leitet.“  Dieser Gedanke kann, wie Schopenhauer meinte, sehr trostreich sein, denn zu unserer Beruhigung sei nichts wirksamer, „als das Betrachten des Geschehenen aus dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit, aus welchem alle Zufälle sich als Werkzeuge eines waltenden Schicksals darstellen“. 

In diesem Zusammenhang verwies Schopenhauer auf eine Redensart, die wohl jeder von uns schon gebraucht hat, wenn die Dinge ganz anders als geplant gelaufen sind: „… dann sollte es eben nicht sein!“ Vielleicht ist das nicht bloß eine Redensart, sondern Ausdruck einer instinktiv gespürten Wahrheit. Jedenfalls fand ich in meinem Leben oftmals bestätigt, was Schopenhauer durch ein Gleichnis beschrieben hatte:
Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen.
hb

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