Der Mensch – ein wildes Tier ?

Unter der Überschrift Zur Ethik schrieb Arthur Schopenhauer über den Charakter des Menschen einige bittere Worte, die, wenn auch nicht auf alle, aber leider wohl auf manche, vielleicht sogar auf viele Menschen zutreffen:

„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloß und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist …

Gobineau hat den Menschen das böse Tier genannt, welches die Leute übel nehmen, weil sie sich getroffen fühlen: Er hat aber recht: denn der Mensch ist das einzige Tier, welches Andern Schmerz verursacht, ohne weiteren Zweck, als eben diesen. Die andern Tiere tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes. Wenn dem Tiger nachgesagt wird, er töte mehr, als er auffresse: so würgt er alles doch nur in der Absicht, es zu fressen …

Kein Tier jemals quält, bloß um zu quälen; aber dies tut der Mensch, und dies macht den teuflischen Charakter aus, der weit ärger ist, als der bloß tierische …

Darum fürchten alle Tiere instinktmäßig den Anblick, ja die Spur des Menschen. Der Instinkt trügt hier nicht: denn allein der Mensch macht Jagd auf das Wild, welches ihm weder nützt noch schadet.
Wirklich also liegt im Herzen eines Jeden ein wildes Tier, das nur auf Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es Andern wehe tun und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt; und eben das, welches zu bändigen und einigermaßen in Schranken zu halten die Erkenntnis … stets vollauf zu tun hat.“ *

Der letzte Satz ist, wie mir scheint, etwas zu optimistisch: Allein schon die äußerst blutigen Kriege, die seit Schopenhauers Zeit weltweit zu Tod und Vernichtung führten, zeigen, wie wenig die Erkenntnis die Menschen zu bändigen und in den Schranken zu halten vermochte. Jedenfalls die Erkenntnis, die ich aus dieser Tatsache gewonnen habe, deutet eher darauf hin, dass der Mensch, was Krieg und Aggression angeht, nichts Wesentliches dazu gelernt hat. Die Kriegstechnik ist zwar immer wirkungsvoller geworden, aber der Mensch ist geblieben, wie er schon zur Zeit des englischen Philosophen Thomas Hobbes war: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf!

Der Wolf ist ein wildes Tier, und der Mensch mag mitunter auch ein wildes Tier sein. Jedoch wie ein böses Tier kann der Mensch nicht sein, denn es gibt zwar gefährliche, aber keine „bösen“ Tiere!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkung
* Aus: Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IX: Parerga und Paralipomena II, Kap. 8: Zur Ethik, S. 230 ff.

Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier

120 Jahre Deutscher Tierschutzbund – aus diesem Anlass hielt der damalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau am 30. Juni 2001 eine Rede, in welcher er auf das Verhältnis von Mensch und Tier näher einging. Hierbei wies er auf Arthur Schopenhauer hin, der „als Vater des modernen Tierschutzes gilt“. 1

Für Schopenhauer, so meinte der Bundespräsident, „unterschied sich der Mensch vom Tier nur durch den höheren Intellekt, durch die Vernunft und durch die Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu bilden. Grundsätzlich sah Schopenhauer eine Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier, und diese Wesensgleichheit verpflichte den Menschen.“ 2

Der Hinweis des Bundespräsidenten auf die in Schopenhauers Philosophie ausführlich begründete Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier ist höchst bemerkenswert. Diese Wesensgleichheit steht im völligen Gegensatz zu der Auffassung, die im Abendland seit der Herrschaft des Christentums weithin verbreitet ist, dass Mensch die „Krone der Schöpfung“ sei.

Nach Schopenhauers Philosophie sind Mensch und Tier wie alles in der Natur Erscheinungsformen („Objektivationen“) eines metaphysischen „Willens“ und somit in ihrem innersten Wesen gleich. Schopenhauer konnte sich hierbei auch auf das Tat-twam-asi der von ihm überaus geschätzten altindischen Upanishaden berufen, denn im Tat-twam-asi „liegt der Grundgedanke der Upanishaden beschlossen: die Erkenntnis, daß jedes Einzelwesen in seinem Kern mit dem Allwesen eines ist“. 3 Auf diesem Grundgedanken beruht letztlich auch die allumfassende Ethik Arthur Schopenhauers und damit auch seiner Tierethik. 4

„Bei den Hindu und Buddhaisten“, so schrieb Schopenhauer, „gilt die Mahavakya (das große Wort) Tat-twam-asi (das bist du), welches allezeit über jedes Tier auszusprechen ist, um uns die Identität des innern Wesens in ihm und uns gegenwärtig zu erhalten, zur Richtschnur unsers Tun.“ 5

Ganz in diesem Sinne erklärte der buddhistische Lama Anagarika Govinda, der über Schopenhauer zum Buddhismus kam, die Weisheit von der Wesensgleichheit:

„Indem wir unsere eigene Natur … erkennen, realisieren wir, daß sie sich nicht unterscheidet von der innersten Natur aller anderen lebendigen Wesen. Dies ist die „Weisheit der Wesensgleichheit„, durch die wir uns von der kühlen und unbeeinflußten Haltung eines Beobachters dem warmen menschlichen Gefühl allumfassender Liebe und Mitempfindens für alles, was lebt, zuwenden.“ 6

Wenn der Bundespräsident, wie eingangs zitiert, meinte, die „Wesensgleichheit verpflichte den Menschen“, so ist der Mensch dieser Verpflichtung bisher kaum, ja eigentlich überhaupt nicht nachgekommen, denn auch heute noch – nach fast 150 Jahre Deutscher Tierschutzbund – sind Tiere völlig rechtlos. Nach wie vor gilt Arthur Schopenhauers Wort:

„Erst, wenn jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit, daß die Tiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, wie wir, in´s Volk gedrungen sein wird, werden die Tiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn.“ 7

H.B.

Weiteres zu > Schopenhauer und den > Upanishaden .

Anmerkungen
(1) Website des Bundespräsidenten > Webarchiv.
(2) Ebd.
(3) Helmuth von Glasenapp, Die Religionen Indiens, Stuttgart 1943, S. 113.
(4) „Die Leser meiner Ethik wissen“, schrieb Arthur Schopenhauer, „daß bei mir das Fundament der Moral zuletzt auf jener Wahrheit beruht, welche im Veda und Vedanta ihren Ausdruck hat an der stehend gewordenen mystischen Formel Tat twam asi (dies bist du), welche mit Hindeutung auf jedes Lebende, sei es Mensch oder Tier, ausgesprochen wird und dann die Mahavakya, das große Wort, heißt“. (Arthur Schopenhauer´s sämmtliche Werke , hrsg. von Julius Frauenstädt, 2. Aufl., Band 6: Parerga und Paralipomena II, Kap. VIII. Zur Ethik, Leipzig 1919, S. 234.)
(5) Schopenhauers Werke, a. a. O., Kap. XV. Ueber Religion, S. 399 f.
(6) Lama Anagarika Govinda, Schöpferische Meditation und Multidimensionales Bewusstsein, 2. Aufl., Freiburg i. B. 1982, S. 72 f.
(7) Schopenhauers Werke, a. a. O., S. 403.


Atma – Schopenhauers Pudel

Wer nie einen Hund gehalten hat,
weiß nicht was lieben und geliebt seyn ist. 1

Für Arthur Schopenhauer, der dieses Zitat aus dem Spanischen übersetzte, war das keine Übertreibung, denn er fand darin seine eigenen Erfahrungen während vieler Jahre bestätigt.

Schon in der Studentenzeit gehörte ein Pudel zu Schopenhauers Leben. So berichtete der Schopenhauer-Biograf Wilhelm von Gwinner, der den Philosophen noch persönlich kannte: „Mit Platon und Kants Werken, mit Sokrates Büste und Goethes Porträt, zogen damals bereits der Pudel und dessen Lager in die Studierstube ein.“ 2

Unter den Hunden, mit denen Schopenhauer sein weiteres Philosophenleben teilte, waren auch ein weißer und dann ein brauner Pudel. Beide nannte er Atma, was durchaus eine tiefere Bedeutung hatte und eng mit seiner den altindischen Upanishaden sehr nahe stehenden Philosophie zusammenhing: Atman, die individuelle Seele jedes Lebewesens, und Brahman, die Weltseele, sind laut Schopenhauer und den Upanishaden in ihrem tiefsten Wesenskern identisch.

Heinrich Hasse, Philosoph und Schopenhauer-Forscher, schrieb in seiner vorzüglichen Darstellung von Schopenhauers Leben und Werk zu den Lebensverhältnissen Schopenhauers und seines Pudels:

„Das Arbeitszimmer des Philosophen, in seiner Einrichtung von größter Anspruchslosigkeit, verrät schon äußerlich die charakteristische Gemeinschaft wissenschaftlicher, künstlerischer und ethisch-religiöser Wesenszüge seines Inhabers. Bildnisse von Descartes, Kant, Goethe und Shakespeare liefern seinen Schmuck, zu dem außer Kants Büste in den letzten Lebensjahren Schopenhauers eine vergoldete Statuette Buddhas kommt, die auf einer Marmorkonsole thront.

Sinnbildliche Bedeutung hat auch die Gesellschaft seines beständigen Lebensgenossen, des Pudels, der neben seinem profanen Namen den Titel Atma (d. h. etwa „Selbst“) führt. In dieser Wahl bekundet sich praktisch Schopenhauers dem jüdisch-christlichen Dogma entgegengesetzte Auffassung, welche in letzter Instanz zwischen Mensch und Tier keinen Wesensunterschied anerkennt, das ewige Urwesen in allem Lebenden erblickt, ja das Tier durch größere Unschuld, Ursprünglichkeit und Treuherzigkeit seines Verhaltens den Menschen übertreffen läßt.“ 3

Daher ist es wohl verständlich, wenn Arthur Schopenhauer seine Erfahrungen mit seinen „vierbeinigen Freundschaften“ und den Mitmenschen in folgendem Epigramm zum Ausdruck brachte:

Wundern darf es mich nicht,
daß Manche die Hunde verläumden:
Denn es beschämt zu oft leider

den Menschen den Hund. 4

H.B.

Weiteres
zu > Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie
sowie den > Upanishaden.

Arthur Schopenhauer mit seinem Pudel 5

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VII: Parerga und Paralipomena I, § 12: Die Philosophie des Neueren, Zürich 1977, S. 87.
(2) Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben, 3. Ausgabe, Leipzig 1910, S. 66.
(3) Heinrich Hasse, Schopenhauer , München 1926, S. 53.
(4) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga II, S. 716.
(5) Holzschnitt von Johann Jakob Ettling. 1888 in der Frankfurter Latern erschienen.

Schopenhauer : Wahre Ethik

Wahre Ethik fängt an, wo der Gebrauch der Worte aufhört. 1

Dieses Zitat von Albert Schweitzer wird oft gebracht, aber in der Politik zum Beispiel scheint mitunter eher das Gegenteil zu gelten, nämlich:

Tue Gutes und sprich darüber, und zwar möglichst oft und möglichst laut.

Jedoch gute Taten, die allein der politischen Karriere oder anderer persönlichen Vorteile wegen getan wurden, haben nichts zu tun mit wahrer Ethik, jedenfalls nicht im Sinne von Albert Schweitzer und Arthur Schopenhauer.

Für Schopenhauer waren, wie er in seinen Schriften oftmals hervorhob, moralische Handlungen nur solche, die aus dem Mitleid kamen. Hingegen habe jede Handlung, welche aus Rücksicht auf Lohn oder Strafe im Diesseits oder Jenseits geschieht, keinen moralischen Wert. Daher ergibt sich die höchst problematische Frage, ob Religionen wahre Ethik überhaupt besitzen können, denn sie stellen Belohnung oder Strafe in Aussicht, wenn die von ihnen verkündeten Ge- und Verbote befolgt oder nicht befolgt werden.

Schopenhauer war durchaus Realist und Menschenkenner. Er wusste, will man Menschen zu vermeintlich moralischen Handlungen veranlassen, so kann das nur geschehen, wenn man ihnen den Glauben vermittelt, dass solches Tun für sie vorteilhaft ist. Jedoch wäre das dann, genau genommen, nicht Moral, sondern Berechnung, also Egoismus.

Inwieweit egoistische oder uneigennützige Motive im Einzelfall das menschliche Handeln letztlich bestimmen, lässt sich oft schwer beurteilen. Jedoch in einem Bereich kann ziemlich sicher vermutet werden, dass Mitleid der entscheidende Beweggrund ist, nämlich im Tierschutz. Die im Abendland vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Religionen, wie zum Beispiel das Christentum, versprechen für den Tierschutz keine Belohnungen im Diesseits oder Jenseits. So ist es wohl vor allem das Mitleid, das Menschen dazu bewegt, Tieren zu helfen. Demnach wäre zumindest Tierethik wahre Ethik.

Sozial positive Verhaltensweisen lassen sich lernen, lehren und erforderlichenfalls auch erzwingen, nicht aber das im jeweiligen Charakter gegründete Mitleid. Dieses hat in Schopenhauers Verständnis von wahrer Ethik größte Bedeutung:

„Denn grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten … Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig keinen verletzen, keinen beeinträchtigen, keinem wehe tun … und alle seine Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen.“ 2

Somit beruht laut Schopenhauer wahre Ethik auf Mitleid mit Mensch und Tier. In diesem Sinne ist wohl auch Theodor Fontane zu verstehen, der im Brief vom 24. August 1893 an seine Tochter Mete schrieb:

Schopenhauer hat ganz recht: das Beste, was wir haben, ist Mitleid. 3

Immanuel Kant, der seit Platon bedeutendste Philosoph des Abendlandes und Lehrer Schopenhauers, meinte, der Mensch ist von Natur böse und übernahm diese Erkenntnis sogar als Titel in seine Abhandlung Über das radikal Böse in der menschlichen Natur. 4 Sein Schüler Arthur Schopenhauer wusste von diesem Bösen. Er wusste aber auch vom Gegenteil, denn zeugt nicht Schopenhauers Mitleidsethik von seinem Glauben an das Gute im Menschen?

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Mitleidsethik > hier.

H.B.


Anmerkungen
1 Das Große Krüger Zitaten Buch, hrsg. von J. H. Kirchberger, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, S. 345.
2 Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik / Preisschrift über die Grundlage der Moral, Zürich 1977, S. 275.
3 Zit. aus: Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom. Schopenhauer gestern – heute – morgen, 4. Aufl., Bonn 1968, S. 297.
4 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Erstes Stück, III, Königsberg 1793.

Mensch besinne dich – eine vergebliche Hoffnung?

Seit Arthur Schopenhauer sind über 150 Jahre vergangen. Während dieser Zeit hat sich die Weltbevölkerung vervielfacht, und zwar in einem solchen Maße, wie es früher kaum vorstellbar war. Zugleich griff der Mensch immer stärker in die Natur ein und zerstörte dabei immer mehr seine Lebensgrundlagen. Ja, er setzt sein Vernichtungswerk an der Natur sogar mit steigender Tendenz weiter fort. Die Folgen sind verhängnisvoll und werden für jeden von uns deutlich sicht- und fühlbar. Deshalb ist der Rat des Naturphilosophen Jakob Böhme, der vor etwa 400 Jahren lebte und von Schopenhauer hoch geschätzt wurde, keineswegs veraltet, sondern aktueller denn je:

Thue deine Augen auf, und gehe zu einem Baum, und siehe den an und besinne dich. 1

Also: Mensch besinne dich und warte nicht, bis auch der letzte Baum verdorrt ist!

Besinnt sich der Mensch? Allein schon im Hinblick auf den weltweiten Anstieg der Fleischproduktion, die aus Gründen des Umweltschutzes und vor allem auch der Tierethik höchst problematisch ist, kann ich diese Frage leider nicht so ohne weiteres bejahen.2 Gerade in diesem Zusammenhang habe ich wenig Hoffnung, dass der Mensch sich besinnt und zur Einsicht kommt, denn kürzlich las ich folgendes:

„Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO prognostizierte die weltweit produzierte Menge an Fleisch für das Jahr 2022 auf rund 360,5 Millionen Tonnen. Im Vergleich zum Jahr 2000 wuchs die produzierte Fleischmenge somit um mehr als 100 Millionen Tonnen an.“ 3

Nicht weniger alarmierend heißt es in einem anderen statistischen Bericht: „Die intensive Nutztierhaltung ist gekennzeichnet durch einen hohen Flächen- und Wasserverbrauch, belastet Böden und Gewässer und trägt mit ihren Emissionen zum Klimawandel bei. Dennoch wird die Tierhaltung weltweit ausgeweitet: Die Weltbevölkerung wächst, zugleich verändert der zunehmende Wohlstand in vielen Schwellen- und Entwicklungs­ländern das Ernährungsverhalten. Der jährliche Fleischverbrauch hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. … Weltweit wurden 2020 rund 337,2 Millionen Tonnen Fleisch erzeugt. Das war ein Anstieg um 45 % gegenüber dem Jahr 2000.“ 4

Der einzelne Mensch mag sich besinnen und dementsprechend besonnen verhalten, aber gilt das auch für die Allgemeinheit, die Menschheit? Ich habe Zweifel, zumal wenn zutrifft, was Arthur Schopenhauer in der Einleitung seiner Aphorismen zur Lebensweisheit schrieb:

„Im Allgemeinen freilich haben die Weisen aller Zeiten immer das Selbe gesagt, und die Thoren, d. h. die unermeßliche Majorität aller Zeiten, haben immer das Selbe, nämlich das Gegentheil, gethan: und so wird es denn auch ferner bleiben.“ 5

H.B.

Weiteres > Besonnenheit und Lebensphilosophie und
zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Gleichnis vom Baum, zit. aus: Dieter Liebig, Kommentar zu Jakob Böhmes Aurora oder Morgenröte im Aufgang (Vers 32) Dittersbach auf dem Eigen 1999, S. 41.
(2) Zur ethischen Problematik > Tierethik und > Tierrechte.
(3) Archiv / Stand: 24.07.2022.
(4) Archiv / Stand: 24.07.2022.
(5) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 344.

Wahrheit und gekränkte Eitelkeit

Wahrheit und Eitelkeit vertragen sich nicht. Besonders Arthur Schopenhauer musste das erfahren, denn in seiner Philosophie gilt der Grundsatz: Ehrwürdig ist die Wahrheit; nicht was ihr entgegensteht. 1 So kam es dann, dass nicht wenige Menschen sich durch seine Wahrheiten in ihrer Eitelkeit verletzt fühlten.

Wo ist eine Eitelkeit, die ich nicht gekränkt hätte? – fragte Arthur Schopenhauer in einem Brief an seinen Freund und aktivsten Anhänger Julius Frauenstädt. 2 Seine Frage war durchaus berechtigt, denn es waren viele Eitelkeiten. Jedoch die größte Eitelkeit, die Schopenhauer gekränkt hatte, war der Wahn der Menschen, ihr Glaube, mehr als nur ein Teil der Natur zu sein. Die Menschen sahen sich, und viele sehen sich wohl auch heute noch so, wie die christliche Kirche es sie lehrte, nämlich als Ebenbild Gottes, als Krönung der Schöpfung und dementsprechend auch als Herrscher über die Natur. Martin Luther zum Beispiel bestärkte sie in diesem Glauben, indem er in einer seiner „Tischreden“ sagte: Alle Wälder und Hölzer sind unsere Jägerei … Denn es ist alles um unser, der Menschen Willen geschaffen. 3

Entgegen dem Luther-Zitat vertrat Schopenhauer eine völlig andere Meinung, die er im Rahmen seiner Philosophie metaphysisch sehr tief begründete. Der Philosoph und Schopenhauer-Forscher Heinrich Hasse schrieb hierzu:

„Schonungslos und freimütig, wie wenige Betrachter der eigenen [also der menschlichen] Gattung es gewesen sind, hat Schopenhauer auch auf diesem Gebiet allen falschen Respekt überwunden. Er sieht und schildert das Typische am Menschen mit dem durchdringenden Blick eines Forschers, welchem die Rücksicht auf Wahrheit höher steht als die Rücksicht auf menschliches Vorurteil und menschliche Eitelkeit.

Ohne Bedenken wird die moderne Wissenschaft und die auf ihr fußende Weltanschauung sich den Gedanken anschließen, mit welchen Schopenhauer die Einordnung des Menschen in die Reihe der höheren Wirbeltiere vollzieht.

Obwohl seine Hypothese über den Ursprung des Menschen nur als interessantes Vorspiel einer wissenschaftlich gesicherten Deszendenztheorie [Abstammungslehre] gelten kann, bildet die philosophische Zurückweisung einer supranaturalistisch [übernatürlich] begründeten Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren und die damit verbundene Anerkennung der Wesensverwandtschaft des Menschen mit der Tierwelt eine innerhalb des abendländischen Denkens höchst verdienstvolle Tat.

Ihre Bedeutung erscheint noch größer bei der Erwägung, daß (im Gegensatz zur indischen Weltauffassung) das christlich-europäische Denken mit der Leugnung dieser Wesensverwandtschaft die Einheit des organischen Lebens gesprengt, den Menschen von der Tierreihe willkürlich losgerissen und die Tiere zu moralischer Rechtlosigkeit verurteilt hatte.“ 4

Auch Hasses Hinweis auf die Rechtlosigkeit der Tiere entspricht völlig Schopenhauers Philosophie, denn dort begründete Schopenhauer sehr eingehend, „daß die Thiere, in der Hauptsache und im Wesentlichen, ganz das Selbe sind, was wir, und daß der Unterschied bloß im Grade der Intelligenz, d. i. Gehirntätigkeit liegt […] Erst wann jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit in´s Volk gedrungen sein wird, werden die Thiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn und demnach der bösen Laune und Grausamkeit jedes rohen Buben preisgegeben sein; und wird es nicht jedem Medikaster freistehn, jede abenteuerliche Grille seiner Unwissenheit durch die gräßlichste Qual einer Unzahl Thiere auf die Probe zu stellen; wie heut zu Tage geschieht.“ 5 Übrigens, was Schopenhauer hier ansprach, sind die qualvollen Tierversuche, die damals so wie leider auch heute noch wissenschaftlicher Alltag und Ergebnis jener Auffassung sind, dass der Mensch unendlich weit über dem Tier stehe.

Eitelkeit, so meinte Arthur Schopenhauer, entstehe, indem der Mensch sich mit anderen Wesen vergleicht. Dabei sei er „auf keine Vorzüge … so stolz wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen sein Vorzug vor den Tieren.“ 6

Seit Schopenhauer muss jedoch die Wissenschaft immer deutlicher zur Kenntnis nehmen, dass die geistigen Fähigkeiten mancher Tiere mitunter die des Menschen übertreffen können. 7 Die Wissenschaft liefert fast täglich neue Beweise, dass hoch entwickelte Tiere in ihrem Denken und Fühlen den Menschen wesentlich näher stehen, als viele Tiernutzer es wahrhaben wollen. 8

So ist der Glaube des Menschen, er sei berechtigt, sich ohne irgendwelche moralischen Bedenken über das Tier und die übrige Natur zu erheben, ein Irrglaube. Schopenhauer hatte diesem Irrglauben entschieden wie kaum ein anderer weltberühmter Philosoph widersprochen und dabei die Eitelkeit des sich als „Krone der Schöpfung“ fühlenden Menschen gekränkt.

Die Kränkung wurde ihm übel genommen. Arthur Schopenhauer blieb dabei – der Wahrheit wegen. Wohl nicht ganz zu Unrecht schrieb er in seinem eingangs erwähnten Brief: Man dient nicht der Welt und der Wahrheit zugleich.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band V: Ueber den Willen in der Natur, Zürich 1977, S. 237.
(2) Brief vom 21.08.1852, in: Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 292.
(3) D. Martin Luther´s sämtliche Schriften, XXII. Band. Enthaltend: Die Colloquia oder Tischreden, hrsg. und erl. von Karl Eduard Förstemann, Leipzig 1844, S. 141.
(4) Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 450 f. Dieses Buch ist auch heute noch eine der besten Darstellungen zu Schopenhauers Leben und Werk (> mehr).
(5) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 15: Ueber Religion, § 177: Ueber das Christenthum, S. 415.
(6) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, a. a. O., Band VIII: Parerga und Paralipomena I, Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 501 f.
(7) Abgesehen davon, sind geistige Fähigkeiten noch keine moralischen Qualitäten, weil es darauf ankommt, ob sie für moralisch gute oder verwerfliche Zwecke eingesetzt werden.
(8) S. hierzu Beispiele:
(a) Der Geist der Tiere , Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, hrsg, von Dominik Perler und Markus Wild, Frankfurt am Main 2005.
(b) James Serpell, Das Tier und wir, Rüschlikon-Zürich 1990.
(c) Frans de Waal, Der Affe in uns, München-Wien 2006.

Schopenhauer : Natur und Mensch

„Wie ästhetisch ist doch die Natur!“ – schrieb Arthur Schopenhauer voller Bewunderung angesichts der Schönheit der Natur:

„Jedes ganz unangebaute und verwilderte, d. h. ihr selber frei überlassene Fleckchen, sei es auch klein, wenn nur die Tatze des Menschen davon bleibt, dekoriert sie alsbald auf die geschmackvollste Weise, bekleidet es mit Pflanzen, Blumen und Gesträuchen, deren ungezwungenes Wesen, natürliche Grazie und anmutige Gruppierung davon zeugt, daß sie nicht unter der Zuchtrute des großen Egoisten aufgewachsen sind, sondern hier die Natur frei gewaltet hat.“ (1)

Der „große Egoist“, unter dessen „Zuchtrute“ die Natur leidet, ist der Mensch. Leider kann er sich hierbei durch die Religion gerechtfertigt fühlen, „denn es ist“, wie Martin Luther sagte, „Alles um unser, der Menschen, Willen geschaffen“. (2) Luther konnte sich dabei auf die Bibel berufen, wo es zum Beispiel in der Genesis (1,28) heißt:

„Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht!“

Im Gegensatz zu manchen ökologisch orientierten Christen, denen dieses Zitat ziemlich unangenehm ist, blieb Schopenhauer bei der Wahrheit und versuchte nicht, es zu beschönigen, also etwa durch abwegige Auslegungen den eindeutigen Wortlaut umzuinterpretieren. So sah Schopenhauer, dem das Wohl auch der Tiere am Herzen lag, in dieser Bibelstelle einen „Grundfehler des Christentums“, weil hiernach „der Schöpfer … sämtliche Tiere, ganz wie Sachen und ohne alle Empfehlung zu guter Behandlung, … dem Menschen übergibt, damit er über sie herrsche, also mit ihnen tue, was ihm beliebt“. (3)

„Mehret euch und füllet die Erde“ – die Menschen haben diesen vermeintlich göttlichen Auftrag erfüllt und erfüllen ihn weiter! Wohin diese unbegrenzte Vermehrung auf einer begrenzten Erde mit begrenzten Ressourcen führt, muss nicht näher erläutert werden. Die katastrophalen Folgen sind offenbar.

Weit mehr noch als zu Zeiten Schopenhauers wird immer deutlicher: die „Tatze des Menschen“ lässt kaum noch ein Fleckchen Natur unberührt. Das ist nicht nur zum Schaden der Natur, sondern auch des Menschen, denn er ist ja selbst – wie Tier und Pflanze – ein untrennbarer Teil der Natur!

Wie kaum ein anderer weltbekannter Philosoph hatte Arthur Schopenhauer die Einheit allen Lebens in seiner Philosophie hervorgehoben und dabei den angemaßten Anspruch des Menschen, Herrscher über die übrige Natur zu sein, entschieden zurückgewiesen.

Gerade die heutigen Diskussionen über mehr Umwelt- und Klimaschutz, über die Vernichtung der tropischen Regenwälder oder andere gewaltige Zerstörungen der Natur zeigen, wie Recht der Philosoph Max Horkheimer hatte, als er in einem Vortrag meinte:

Das Denken Schopenhauers ist unendlich aktuell. (4)

H.B.

Weiteres zum Thema Natur in Schopenhauers Schriften > hier .

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 33: Vereinzelte Bemerkungen über die Naturschönheit, S. 478.
(2) Vollständiges Luther-Zitat in: D. Martin Luther´s Tischreden oder Colloquia, hrsg. und erl. von Karl Eduard Förstemann, Leipzig 1844, S. 141.
(3) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, § 177: Ueber das Christenthum, S. 408 f.
Mehr zum Thema Schopenhauer und die Tiere > hier.
(4) Zit. aus: Über Arthur Schopenhauer , hrsg. von Gerd Haffmans, 3. Aufl., Zürich 1977, S. 159.

Mensch und Umwelt in Schopenhauers Philosophie

Arthur Schopenhauer hat wie kaum ein anderer weltberühmter Philosoph in seiner Philosophie die Einheit allen Lebens hervorgehoben und metaphysisch tief begründet. Alles Lebendige, ja alles, was wir wahrnehmen, sind Erscheinungsformen von etwas Metaphysischem: Die Theisten nennen es Gott, in den von Schopenhauer hoch geschätzten altindischen Upanishaden heißt es Brahman, Schopenhauer nannte es Wille.

Im Hinduismus wird die Einheit allen Lebens in drei Sanskritworten zusammengefasst: Tat Twam Asi, das heißt wörtlich übersetzt, Das bist Du! Obwohl sich alle Lebewesen mehr oder weniger äußerlich unterscheiden, sind sie in ihrem innersten Wesen gleich und werden – soweit der Hinduismus theistisch ist, als göttlich aufgefasst. Schopenhauer hat sich in seinen Werken mehrmals auf diese Sanskritworte bezogen und sie als eine Kernaussage seiner Philosophie hervorgehoben. Wir alle, ob Mensch, Tier oder Pflanze, sind  Manifestationen eines metaphysischen Willens und somit – auch wenn uns das nicht immer bewusst ist  – wesensgleich.

Aus der Erkenntnis der Wesensgleichheit von Mensch und übriger Natur ergibt sich ein anderes Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Es ist kein göttlich legitimiertes Herrschaftsverhältnis, das die Menschen von vornherein berechtigt, die Natur zu beherrschen und sich untertan zu machen.

Schädigt der Mensch die Natur, in der er lebt und deren Teil er ist, so schädigt er sich letztlich selbst – eine Erkenntnis, die mehr und mehr Menschen bewusst wird.  Mensch und Umwelt sind eine Einheit. Arthur Schopenhauer hat hierfür im Rahmen seiner Willensmetaphysik eine spirituell sehr tiefe und – wie ich meine – auch überzeugende Begründung gegeben.

Ein den Menschen – nicht nur metaphysisch – besonders verbundener Teil der Natur sind die Tiere. Schopenhauer hob das vor allem in seiner Ethik hervor. So bezog er in seine Mitleidsethik die Tiere ausdrücklich mit ein. Durch das Mitleid werden die sonst im Alltag empfundenen Grenzen zwischen den Menschen, aber auch, wenngleich seltener, zwischen Mensch und Tier mehr und mehr aufgehoben.  Am Ende werden diese Grenzen nicht mehr bewusst wahrgenommen, so dass durch das Mitleid die von Schopenhauer metaphysisch begründete Einheit allen Lebens auch im Alltag in Erscheinung tritt. So steht Schopenhauers Mitleidsethik ganz im Einklang mit einem allumfassenden Schutz der Natur, was zugleich eine möglichst weitgehende Schonung der Umwelt bedeutet. In diesem Sinne  enthält Schopenhauers Philosophie, auch wenn er diesen Namen nicht verwendet hat, eine metaphysisch begründete Umweltethik.

Selbst wenn nicht alle Umweltschäden durch menschliches Handeln verursacht werden, so sind doch viele Umweltkatastrophen zumindest mittelbar Folgen einer skrupellosen Ausbeutung der Natur, die in unserer Zeit durch eine lediglich an Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaft immer noch gesteigert wird. Somit ist die von Schopenhauer angeprangerte unersättliche Gier des Menschen einer der wesentlichen Ursachen für die Zerstörung des Lebensraumes von Mensch, Tier und Pflanze.

Riesige Weltbrände, wie etwa kürzlich in Australien mit weit mehr als einer Milliarde verbrannter Tiere, sind traurige Beipiele dafür, wie sehr unsere Zeit, und zwar mit zunehmender Tendenz, bestimmt wird durch gewaltige Umweltkatastrophen. Gerade im Hinblick auf die immer katastrophaler werdende Umweltzerstörung ist Schopenhauers Philosophie von größter Aktualität.

Was einen Menschen zum Philosophen  macht, schrieb der 26-jährige Schopenhauer in eines seiner Manuskripte, sei „der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten“. (1) Dementsprechend nahm er schon vor bald 200  Jahren zu einer Frage Stellung, die, wie es scheint, heute  fast als Tabu gilt, nämlich Frage nach den Folgen der geradezu explosionsartigen Zunahme der Weltbevölkerung. Die „Übervölkerung des ganzen Planeten“ sei ein Resultat, „dessen entsetzliche Übel sich jetzt nur eine kühne Einbildungskraft zu vergegenwärtigen vermag“. (2) Die Folgen der immer weiter steigenden Übervölkerung des Erdballs für die Umwelt sind überaus beängstigend und lassen kaum Hoffnung auf nachhaltige Fortschritte im Umweltschutz.

Die weltweite Zerstörung der Umwelt, wie zum Beispiel die hemmungslose Vernichtung der für die ganze Menschheit  lebenswichtigen Urwälder am Amazonas,  zeigt leider sehr deutlich, wie Recht der Philosoph Max Horkheimer in seiner Rede zum 100. Todestag Arthur Schopenhauers hatte, wenn er meinte: „Das Denken Schopenhauer ist unendlich aktuell.“(3)

Gegen Schluss seiner Ansprache meinte Horkheimer, dass Schopenhauers Philosophie zwar angesichts der Realitäten illusionslos sei, aber dennoch nicht in Hoffnungslosigkeit endet: „Es gibt wenige Gedanken, deren die Zeit mehr bedürfte und die bei aller Hoffnungslosigkeit, wie er sie ausspricht, mehr von Hoffnung wissen als die seinen.“ (4) Worauf diese Hoffnung des vermeintlichen „Pessimisten“ Arthur Schopenhauer gegründet ist, habe ich  in meinem Beitrag Leid und Erlösung etwas näher erläutert.

H.B.

S. auch > Tierethik und Schopenhauers Philosophie

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer : Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. v. Arthur Hübscher, München 1985, Band 1, Frühe Manuskripte (1804-1818), S. 126,

(2) Arthur Schopenhauer : Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band II, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 436.

(3)  Max Horkheimer : Die Aktualität Schopenhauers , Vortrag, gehalten zum 100. Todestag Schopenhauers am 21. September 1960 in der Paulskirche zu Frankfurt a. M., zit. aus: Über Arthur Schopenhauer , hrsg. v. Gerd Haffmans, 3. Aufl., Zürich 1981, S. 159.

(4) Ebd.,  S. 164.

 

 

Unsterbliche Seele in Mensch und Tier ?

Das, was  Seele genannt werde, so schrieb Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung sei „seit Sokrates´ Zeit und bis auf unsrige“ ein „Hauptgegenstand des unaufhörlichen Disputierens der Philosophen.“(1)

Auch Schopenhauer ging in seiner Philosophie auf die immer wieder beunruhigende Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ein:

„Die sogenannte Seele“, so erklärte Schopenhauer in seiner Schrift Über den Willen in der Natur, „ist die Verbindung des Willens mit dem Intellekt.“(2)

Der Intellekt als bloße Gehirnfunktion des Denkens und Erkennens gehört dem Bereich des Physischen an. Er ist nur eine Erscheinungsform, eine Manifestation des Willens, der jedoch laut Schopenhauer metaphysisch und der eigentliche Kern jedes Lebewesens ist.

Durch den Tod wird nur das Physische und somit auch das Gehirn mit seiner Funktion, dem Intellekt, zerstört. Der metaphysische  Kern hingegen bleibt vom Tod unberührt.  Insofern ist die Seele, wenn man diesen Begriff auf den metaphysischen Kern, den Willen, beschränkt, unsterblich.

Bereits 1821 schrieb Schopenhauer in eines seiner Manuskripte zu der Frage, ob die Seele unsterblich ist: „In Folge meiner Lehre ist die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele dahin zu beantworten, daß das Ende der Person ebenso real ist, als ihr Anfang und wir nach dem Tode in eben dem Sinn nicht mehr sein werden, als wir vor der Geburt nicht waren. Aber die Person erschöpft nicht das Wesen, welches sich Ich nennt: sondern die Person ist bloß die Manifestation, eine Äußerung jenes Wesens, welches daher vom Anfang und Ende solcher Äußerung nicht berührt wird.“(3)

Somit manifestiert sich in jedem Menschen und in jedem Tier (!) das Unsterbliche – egal ob man es als Wille , als Seele oder  (wie in den von Schopenhauer hoch geschätzten altindischen Upanishaden) als Atman bzw. Brahman bezeichnet.

Im Abendland hingegen war es bis weit in die Neuzeit hinein wegen des herrschenden Christentums keineswegs üblich, auch den Tieren eine unsterbliche Seele zuzuerkennen. So heißt es hierzu in einem Beitrag zum Sammelwerk Mensch und Tier in der Geschichte Europas: „Zwar sprachen die meisten christlichen Theologen den Tieren nicht die Seele ab, qualifizierten sie aber als sterblich (so auch die heutige Dogmatik).“(4)

Es waren weniger die dogmatisch festgelegten Theologen als vielmehr Menschen, die  durch ihr Mitgefühl mit Tieren deren innere Nähe zu den Menschen erkannten. Selbstverständlich wäre da vor allem Arthur Schopenhauer zu erwähnen, aber auch Jakob Grimm, ein Zeitgenosse Schopenhauers, ist hierfür ein Beispiel, denn er erklärte:

„Es ist nicht bloß die äußere menschenähnlichkeit der thiere, der glanz ihrer augen, die fülle und schönheit ihrer gliedmaßen, was uns anzieht, auch die wahrnehmung ihrer mannigfaltigen triebe, kunstvermögen, begehrungen leidenschaften und schmerzen zwingt in ihrem innern ein analogon [ein Ähnliches] von seele anzuerkennen.“(5)

Selbst wenn man diese hier erörterte, im Grunde metaphysische Frage rational nicht eindeutig beantworten kann, so ist es doch eine Anmaßung zu behaupten, der Mensch hätte eine unsterbliche Seele, das Tier aber nicht. Arthur Schopenhauer war wohl der erste weltbedeutende Philosoph der Neuzeit, der sich sehr entschieden  gegen solche  anthropozentrische Überheblichkeit wandte. Für Schopenhauer war im „innern Kern“, den man im allgemeinen Sprachgebrauch als Seele bezeichnen könnte, zwischen Tier und Mensch kein Unterschied. Ausführlich und sehr tiefsinnig begründete er in seiner Philosophie, daß das „Wesentliche und Hauptsächliche im Thiere und im Menschen das Selbe“ sei. (6)

Hierbei geht es nicht bloß um Fragen von theoretischer Bedeutung, weil je nach ihrer Beantwortung die praktischen Konsequenzen durchaus erheblich sein können. Wer auch den Tieren eine unsterbliche Seele zuerkennt, hat ein anderes Verhältnis zu Tieren und wird deshalb wohl weniger geneigt sein, sie gleichsam als Sachen anzusehen und  dementsprechend zu behandeln.

Im übrigen kann der Gedanke an das Unsterbliche, und zwar unabhängig davon, ob man  hierbei an das Wort Seele denkt, sehr viel Tröstliches bieten. Offenbar hatte solchen Trost der alte Buddenbrook gesucht, als er in den letzten Stunden seines Lebens in Schopenhauers Hauptwerk das spirituell sehr tiefe und literarisch kaum zu übertreffende Kapitel Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich las. Diesen Trost dürfte er bei Arthur Schopenhauer gefunden haben, denn Thomas Mann, Autor des Romans Buddenbrooks, schrieb in einem Essay über Schopenhauers Philosophie:

Man kann damit leben und sterben, – namentlich sterben: ich wage zu behaupten, daß die Schopenhauersche Wahrheit, daß ihre Annehmbarkeit in der letzten Stunde standzuhalten, und zwar mühelos, ohne Denkanstrengung, ohne Worte standzuhalten geeignet ist.(7)

H.B.

Weiteres
zum Thema Seele > Arthur Schopenhauer : Seelenwanderung und Wiedergeburt
und zu  Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band III, S. 316.
(2) Schopenhauer , a. a. O., Band V, S. 219.
(3) Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 3, S. 85.
(4) Peter Dinzelbacher (Hg.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000, S. 268.
(5) Zit. aus: Dinzelbacher, a. a. O., S. IX.
(6) Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band VI, S. 280.
(7) Thomas Mann , Schopenhauer , zit. aus: Über Arthur Schopenhauer, , hrsg. von Gerd Haffmans, 3. Aufl., Zürich 1981,  S. 112.

 

 

 

 

 

Hund und Mensch

Ich muss es aufrichtig gestehen, schrieb Arthur Schopenhauer in seinen letzten Manuskripten, der Anblick   j e d e s  Tieres  erfreut mich unmittelbar, und mir geht dabei das Herz auf; am meisten der der Hunde …

Mit seiner Tierliebe, vor allem aber mit seiner großen Zuneigung zu Hunden, stand Schopenhauer einsam in der Reihe der bedeutenden Denker seiner Zeit, ja wahrscheinlich ist er in dieser Hinsicht auch heute noch unter den weltberühmten Philosophen einmalig.

Kein Zweifel, Schopenhauer liebte Hunde, insbesondere dann, wenn er an die hässlichen Eigenschaften mancher Menschen dachte: Woran sollte man, fragte er, sich von der endlosen Verstellung, Falschheit und Heimtücke der Menschen erholen, wenn die Hunde nicht wären, in deren ehrliches Gesicht man ohne Misstrauen schauen kann? Dieses Menschenbild wird sicher manche Leser schockieren. Andererseits dürfte Schopenhauer auch vielen aus dem Herzen gesprochen haben, und zwar vor allem denen, die mit anderen Menschen schlechte Erfahrungen machen mussten und nur noch einen einzigen Freund haben: ihren Hund.

Auf meinen Spaziergängen treffe ich oft Hunde, die mich – besonders wenn sie mich schon kennen – mit ihrem, wie es Schopenhauer beschrieb, „so eindrucksvollen, wohlwollenden grundehrlichen Wedeln“ begrüßen. Allerdings gehe ich dabei nicht ganz so weit wie Schopenhauer, der „auf das Schwanzwedeln eines ehrlichen Hundes“ mehr gab, „als auf hundert Demonstrationen und Gebärdenseiner Mitmenschen.

Arthur Schopenhauer war jedoch weit mehr als nur normaler Hundefreund, sondern er war wohl der erste westliche Philosoph, der Hunde und auch andere Tiere zum Thema philosophischer Betrachtungen machte. Seine damit verbundenen, sehr tiefen Erkenntnisse stehen im völligen Gegensatz etwa zur Bibel, aber auch zur Meinung des ansonsten von ihm hochverehrten Philosophen Kant, für die Tiere kaum mehr als seelenlose Gebrauchsgegenstände waren. Schopenhauer hingegen sah in den Tieren etwas ganz anderes, nämlich das hinter allen äußeren Erscheinungsformen liegende Metaphysische. Voller Verwunderung, ja Ergriffenheit rief er aus: Welch ein unergründliches Mysterium liegt doch in jedem Tiere!

So war für Schopenhauer auch der Hund ein Mysterium, denn aus seinen Augen leuchtet das unzerstörbare Prinzip in ihm, der  Archäus, also die Urkraft in allem Lebendigen. Es ist bezeichnend, dass Schopenhauer sich so in seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ äußerte, und zwar in einem der  wichtigsten Kapitel: „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsers Wesen an sich“.

Arthur Schopenhauer und seine Hunde, die Hundebilder in seinem Zimmer, die Pudel, die ihn auf seinen einsamen Spaziergängen begleiteten – alles das sind Themen, bei denen man auch heute noch glaubt, sich über Schopenhauer lustig machen zu dürfen. Mir scheint das weniger lustig als vielmehr Ausdruck dafür zu sein, wie wenig doch manche Leute von diesem Philosophen begriffen haben. Schon der Name Atma, den Schopenhauer  seinen Hunden gab, war den meisten seiner Zeitgenossen völlig unverständlich. Gerade diese Bezeichnung weist auf den Kern der Philosophie Schopenhauers und der von ihm überaus hoch geschätzten altindischen   > Upanishaden hin: Atma, genauer Atman, bedeutet in etwa Einzelseele. Dazu fassen die Upanishaden ihre tiefste Erkenntnis in die Worte:  > Tat twam asi Das bist Du – Die Einzelseele ( Atman ) ist identisch mit der Weltseele ( Brahman )! Das gilt für den Menschen, für den Hund, ja für jedes Lebewesen. Vielleicht, meiner Meinung nach sogar sicherlich, ist das,  was Schopenhauer als „unzerstörbares Prinzip“, als „Archäus“ (Urkraft), aus den Augen eines Hundes leuchten sah, nicht verschieden von dem, was die Upanishaden als Brahman, Weltseele, bezeichnen.

Ich muss zugeben, mir selbst waren solche Aussagen früher ziemlich unverständlich. Ich fand sie schon auf Grund meiner naturwissenschaftlichen Orientierung eher als weltfremde Spinnerei. Doch eines Tages blickte mir ein Hauskaninchen, das ich zu betreuen hatte, in die Augen. Es war wie eine Offenbarung und damit der entscheidende Schritt zu einem völlig neuen Verständnis des im Grunde esoterischen Kerns der Upanishaden und der Philosophie Schopenhauers!  So hatte ich von einem Tier mehr gelernt als es aus bloßem Bücherstudium möglich gewesen wäre. Seitdem bin ich – wie Arthur Schopenhauer – von der Wesensgleichheit alles Lebendigen überzeugt. Deshalb sehe ich auch das Verhältnis von Mensch und Hund nicht unter dem Gesichtspunkt von Über- und Unterordnung, wie sie etwa in der Bezeichnung “ Herrchen“ für die „Besitzer“ von Hunden zum Ausdruck kommt. Einen Hund zu „besitzen“ ist kein Naturrecht des Menschen, sondern – dessen sind sich leider viele nicht bewusst – die Übernahme einer Sorgepflicht!
hb

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Arthur Schopenhauer : Mensch und Tier

Wie kaum ein anderer Philosoph hat Arthur Schopenhauer dem Menschen einen Spiegel vor gehalten.  Er machte sich dadurch verständlicherweise unbeliebt.  Schopenhauer konnte das ertragen, denn es ging es ihm nicht um Gefälligkeit, sondern allein um Wahrheit und diese ist oft unangenehm.  Ein Beispiel dazu ist folgendes Schopenhauer-Zitat, von dem ich annehme, dass es in diesem Forum nicht allseitig auf begeisterte Zustimmung stoßen wird, denn der Mensch sieht sich ja selbst allzu oft als „Krone der Schöpfung“:

Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloß und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist …

Gobineau hat den Menschen … (das recht eigentlich böse Tier)… genannt, welche die Leute übelnehmen, weil sie sich getroffen fühlen: er hat aber recht: denn der Mensch ist das einzige Tier, welches andern Schmerz verursacht, ohne weitern Zweck als eben diesen. Die andern Tiere (!!!) tun nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen; oder im Zorn des Kampfes … Kein Tier jemals quält, bloß um zu quälen; aber dies tut der Mensch, und dies macht den teuflischen Charakter aus, der weit ärger ist als der bloß tierische …

Darum fürchten alle Tiere instinktmäßig den Anblick, ja  die Spur des Menschen …   Der Instinkt trügt auch hier nicht: denn allein der Mensch macht Jagd auf das Wild, welches ihm weder nützt noch schadet …

An diese Worte Schopenhauers musste ich denken, wenn ich an Anti-Jagd-Demos teilnahm, denn die Jagd ist oft nichts anderes als Befriedigung einer Lust, der Lust am Töten. Beim Stierkampf kommt dann noch eine besondere Art von Grausamkeit hinzu. So kann man noch viele weitere Beispiele anführen, die beweisen, dass Schopenhauers Menschenbild durchaus nicht unrealistisch  ist. Allerdings  hat Schopenhauer auch die entgegengesetzte Seite des menschlichen Charakters gezeigt, nämlich das Mitleid. Nicht bloß die Schlechtigkeit, sondern vielmehr diese überaus positive Eigenschaft des Menschen ist ein zentrales Thema von Schopenhauers Philosophie, der Mitleidsethik, die sich selbstverständlich auch auf Tiere bezieht.
hb

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