Philosophie und blinder Glaube

Philosophie als eine Wissenschaft hat laut Arthur Schopenhauer „durchaus nichts damit zu tun, was geglaubt werden darf, oder soll, oder muß; sondern bloß damit, was sich wissen läßt … Ist man aber etwa überzeugt, daß die ganze und volle Wahrheit in der Landesreligion enthalten und ausgesprochen sei; nun, so halte man sich daran und begebe sich alles Philosophierens“.1 Dementsprechend hat Schopenhauers Philosophie nichts mit blindem Glauben zu tun, sondern mit Wissen, insbesondere mit den Grenzen des Wissens, also mit Erkenntnis und deren Wurzeln.

Alle tiefe Erkenntnis, sogar die eigentliche Weisheit, so meinte Schopenhauer, wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge.2

Die Anschauung ist jedoch nur dann das Tor zur Weisheit, wenn sie nicht durch Wollen, Wünsche, Zwecke, Ziele und dergleichen getrübt wird, wenn sie also reine Anschauung ist. Eine solche reine Anschauung ist aber nicht der normale Zustand des Anschauens, sondern eher die Ausnahme. Schon der Dichter Friedrich von Logau, der etwa zweihundert Jahre vor Schopenhauer lebte, wusste das, denn er schrieb:

Was wir sehen in der Welt, sehen alles wir durch Brillen;
Gut- und Böses wird ersehn, wie es vorkommt unsrem Willen.
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Erkenntnis durch reine Anschauung – die Möglichkeit steht zwar allen offen, doch die Frage ist, ob die Menschen auch gewillt sind, von ihr Gebrauch zu machen. Der von Schopenhauer als „Muster eines Selbstdenkers“ hochgeschätzte Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg hatte wohl Zweifel, denn er meinte:

Man spricht viel von Aufklärung, und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?4

Hier gilt dann das Sprichwort: Keiner ist so blind wie der, welcher nicht sehen will.

Wer aber nicht sehen will, dem ist der Weg zur Erkenntnis verschlossen. Oft ist es dann blinder Glaube, der das Bemühen um eigene Erkenntnis zu ersetzen scheint. Das mag besonders auf manche Religionen zutreffen, in denen blinder Glaube an religiöse Dogmen von früher Kindheit an gleichsam eingeimpft wird. Schopenhauer nannte das „Abrichtung“, wobei er sogar meinte, dass an „Abrichtungsfähigkeit“ der Mensch alle Tiere übertreffen würde.5

Völlig anders hingegen in dem von Schopenhauer hochgeschätzten Buddhismus. Dort kommt es nicht auf blindem Glauben, sondern auf eigene Erkenntnis an, denn so heißt es zum Beispiel in einer „Lehrrede“ des Buddha:

Richtet euch nicht nach bloßem Hörensagen, nach heiligen Überlieferungen – sondern was ihr selbst als richtig oder schlecht erkannt habt, das nehmt an oder gebt auf. 6

Den Weg zu einer solchen „richtigen“ Erkenntnis sah Arthur Schopenhauer im Buddhismus. In einem Gespräch meinte er: Wenn man den Buddhaismus aus seinen Quellen studiert, da wird es einem hell im Kopfe.7 Ein „heller Kopf“ ist jedoch Voraussetzung jedes Philosophierens, den blinden Glauben aber überlasse man der Religion, die es nötig hat.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier
sowie zum Thema > Buddhismus .

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VII: Parerga und Paralipomena I, Zürich 1977, S. 161.
2 Schopenhauer , a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 448.
3 Deutsche Epigramme aus fünf Jahrhunderten, hrsg. von Klemens Altmann, o. J. und O., S. 24.
4 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch L, 1796-1799.
5 Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 655.
6 Anguttara-Nikaya 3,65,8, gekürzt zit. aus: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte, übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln 1974, S. 57 f.
7 Arthur Schopenhauer , Gespräche, neue Ausg. hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 104.