Die altindischen Upanishaden – Schopenhauers Trost

„Ich gestehe“, notierte Arthur Schopenhauer 1816 in sein Manuskript, “ daß ich nicht glaube, daß meine Lehre je hätte entstehn können, ehe die Upanishaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten.“(1)

Schopenhauer nannte im obigen Zitat die Upanishaden an erster Stelle, also noch vor den von ihm hochgeschätzten Philosophen Platon und Kant. Das ist kein Zufall, denn die Upanishaden, diese Weisheitstexte aus dem alten Indien, die als Teil der heiligen Veden zum Kern der Philosophie des heutigen Hinduismus wurden, waren für Schopenhauers Leben und Werk von zentraler Bedeutung.(2)

Upanishaden : Symbol OM

Upanishaden
Symbol OM

Schopenhauer lernte jedoch die Upanishaden nicht in ihrer ursprünglichen Sprache, dem altindischen Sanskrit, sondern zunächst nur in ihrer lateinischen Übersetzung, Oupnekhat genannt, kennen. Jedoch diese Fassung in Latein ist auch nur eine Übersetzung, und zwar aus dem Persischen, welches vorher aus dem Sanskrit übersetzt wurde. Trotz dieser mehrfachen sprachlichen Übertragung, die zugleich auch eine Interpretation und Auswahl aus den ursprünglichen Upanishaden bedeutete, war Schopenhauer gerade von dieser Fassung überaus beeindruckt. So schrieb er voll innerer Ergriffenheit noch in seinem Spätwerk:

„Denn, wie atmet doch der Oupnekhat durchweg den heiligen Geist der Veden! Wie wird doch Der, dem, durch fleißiges Lesen, das Persisch-Latein dieses unvergleichlichen Buches geläufig geworden, von jenem Geist im Innersten ergriffen! Wie ist doch jede Zeile so voll fester, bestimmter und durchgängig zusammenstimmender Bedeutung! Und aus jeder Seite treten uns tiefe, ursprüngliche, erhabene Gedanken entgegen, während ein hoher und heiliger Ernst über dem Ganzen schwebt. Alles atmet hier Indische Luft und ursprüngliches, naturverwandtes Dasein. … Es ist die belohnendeste und erhebendeste Lektüre, die (den Urtext ausgenommen) auf der Welt möglich ist: sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.“(3)

Schopenhauer sah in den Upanishaden, vor allem in der Fassung des Oupnekhats, nicht nur eine Bestätigung, sondern darüber hinaus auch eine wichtige Ergänzung seiner Philosophie:

„Wer … zu der Erkenntnis, bis zu welcher allein die Philosophie [und damit auch seine eigene] ihn leiten kann, … Ergänzung wünscht, der findet sie am schönsten und reichlichsten im Oupnekhat.“(4)

Die Menschen haben, wie Schopenhauer zurecht darauf hinwies, gerade im Hinblick auf die „erschreckende Gewissheit des Todes“ ein „metaphysisches Bedürfnis„.(5) Die Upanishaden können dieses Bedürfnis weitgehend erfüllen, denn sie geben Antworten auf metaphysische, die Grenzen von Schopenhauers Philosophie überschreitende Fragen. Sie gehören zur Metaphysik, bei der es laut Schopenhauer um „die letzte Erklärung der Urphänome“ und somit auch darum geht, „Aufschluß zu ertheilen über Das, was hinter der Natur steckt“.(6) Es sind existenzielle Fragen, welche die Menschheit seit jeher bedrängen:

  • Woher komme ich und wohin gehe ich?
  • Was ist nach meinem Tode?
  • Gibt es einen Weltanfang und einen Weltuntergang, die sich vielleicht sogar ständig einander ablösen?
  • Was ist das Innerste, die Seele, des Menschen, ja aller Wesen?
  • Beruht letztlich alles auf einer EINHEIT – egal ob man sie Wille, das Brahman oder anders nennt – die unvergänglich ist und sich in allen vergänglichen Erscheinungen dieser Welt manifestiert?

Wie sehr solche und ähnliche Fragen sowie die Antworten, welche die Upanishaden auf sie geben, schon fast in den religiösen Bereich übergehen, zeigte sich am Beispiel Schopenhauers. Über ihn berichtete sein Biograf, Wilhelm v. Gwinner, der Schopenhauer noch persönlich kannte:

„Das Oupnekhat lag auf seinem Tisch, und vor dem Schlafengehen verrichtete er darin seine Andacht.“(7)

Überall in der Welt ist furchtbares Leid von Mensch und Tier – eine Tatsache, die völlig unvereinbar ist mit der angeblichen Existenz eines allgütigen und zugleich allmächtigen Gottes. Schopenhauer hat diesen Zusammenhang, der als Theodizee bezeichnet und von den theistischen Religionen möglichst verdrängt wird, in seiner Philosophie ausführlich dargelegt.(8) Es ist deshalb naheliegend, dass das Christentum für Schopenhauer keinen Trost bieten konnte. Den gaben ihm hingegen die Upanishaden, die Quelle spiritueller Weisheit des alten Indiens, dem „Vaterlande der Metaphysik“ :

Arthur Schopenhauer : Indien - Vaterland der Metaphysik

Bildausschnitt aus Schopenhauers Manuskript (9)

Schopenhauer war vom Wahrheitsgehalt in den metaphysischen Aussagen der Upanishaden, insbesondere des Oupnekhats, zutiefst überzeugt, und zwar auch deshalb, weil sie von den altindischen „Sehern“, den Rishis, stammten, die dem „Urquell der organischen Natur bedeutend näher standen, als wir“. Sie hatten, wie Schopenhauer meinte, „auch noch teils größere Energie der intuitiven Erkenntniskräfte, teils eine richtigere Stimmung des Geistes …, wodurch sie einer reineren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Natur fähig … waren … so entstanden in den Urvätern der Brahmanen [Priester], den Rishis, die fast übermenschlichen Konzeptionen, welche später in den Upanishaden, der Veden niedergelegt wurden“.(10) Auch daher wird verständlich, warum Arthur Schopenhauer gerade dort, also im Kern der Philosophie des Hinduismus, den Trost seines Lebens gefunden hatte.

H.B.

Weiteres zu den Upanishaden und zu
Schopenhauer und seiner Philosophie .

Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. v. Arthur Hübscher, Band I, München 1985, S. 422.
(2) S. hierzu auch > Die Veden und Schopenhauers Philosophie.
(3) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 437. (Hinweis: Zur besseren Lesbarkeit wurde die Schopenhauer-Zitate mitunter leicht an die moderne Rechtschreibung angepasst.)
(4) Schopenhauer , a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 716.
(5)S. hierzu auch >Todesfurcht und metaphysisches Bedürfnis .
(6) Schopenhauer-Register von Gustav Friedrich Wagner, neu hrsg. v. Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, S. 271 f.
(7) Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben, 3. Aufl., Leipzig 1910, S. 342.
(8) S. Schopenhauer zur > Theodizee .
(9) Ausschnitt aus: Arthur Schopenhauer , Manuskriptbuch Adversaria (1829), S. 332.
Quelle > Handschriftlicher Nachlaß (Univ.-Bibl. Frankfurt a. M. /Stand: 14.02.2021).
(10) Arthur Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 189.
Das Sanskritwort Rishis ist im Hinduismus die „allgemeine Bezeichnung für Seher, Heilige und inspirierte Dichter“ (Lexikon der östlichen Weisheitslehren, Bern/München/Wien 1986, S. 309).