Ganzheit – Holismus und Schopenhauers Philosophie

Mensch, Tier oder Pflanze sind jeweils mehr als die Summe ihrer Einzelteile, denn werden sie in ihre Körperteile zerlegt, so sind sie keine Lebewesen mehr, sondern tot, also zu einer Sache geworden. Schon hieraus wird deutlich, dass Lebewesen nicht vollständig aus ihren einzelnen Bestandteilen erklärt werden können.

Somit liegt es nahe, Lebewesen nicht aus ihren einzelnen Teilen, sondern als Ganzheit zu verstehen. Dementsprechend erklärt das Philosophische Wörterbuch: „Seit der Jahrhundertwende [ab 1900], bedient man sich dieses Begriffes [Ganzheit], um alle Dinge zunächst in ihrem ursprünglich unversehrten Zusammenhang und ihrer Struktur zu betrachten, um auf diese Weise der Tatsache gerecht zu werden, daß eine Aufweisung der Eigenschaften der Einzelteile niemals Gesamtbestand bzw. Gesamtwirkung einer Sache erklären können; denn das einzelne, der ´Teil`, ist nur aus dem Ganzen heraus zu verstehen, das Ganze aber ist, wie bereits Aristoteles lehrte, mehr als die Summe seiner Teile. Das Ganze ist nicht aus Teilen ´zusammengesetzt`, es werden nur Teile an ihm unterschieden, in deren jedem das Ganze ist und wirkt.“ 1

Die wissenschaftliche Richtung, der eine ganzheitliche Betrachtung zugrunde liegt, wird Holismus genannt, und zwar abgeleitet vom griech. zo holon, „das Ganze“. Kurz und vereinfacht zusammengefasst: Holismus ist Ganzheitslehre, wobei die Ganzheit mehr als die Summe ihrer Teile ist.

Laut Philosophischem Wörterbuch „stimmen alle holistischen Systeme in allen Epochen darin überein, daß alle Wirklichkeitsbereiche – das Physische, Organismische, Psychische usw. – trotz grundsätzlicher Verschiedenheit eine echte Ganzheit bilden“. 2 Zum Psychischen erläutert das Wörterbuch: „Besonders die Psychologie hatte das Bedürfnis, von der mechanistischen, atomistischen Betrachtungsweise des 18. und 19. Jh. loszukommen und das unentstellte ursprüngliche Seelische zum Gegenstand der Forschung zu machen, bis dahin war ihr das besondere Seelische, nämlich Sinn und Bedeutung entgangen.“ 1

Arthur Schopenhauer ging in seiner Philosophie nicht von dem problematischen Begriff „Seele“ aus. Für ihn waren alle Erscheinungsformen dieser Welt „Objektivationen“ eines metaphysischen Willens. Dieser Wille manifestiere sich in allen Lebewesen als Wille zum Leben, als Lebenskraft. 3

Diese Auffassung Schopenhauers von der Lebenskraft wurde von der damaligen Naturwissenschaft nicht geteilt. Die „stupide Ableugnung der Lebenskraft“ und die Erklärung der „Erscheinungen des Lebens“ allein „aus physikalischen und chemischen Kräften“ beruhe, so meinte Schopenhauer, auf der „Unwissenheit“ des „rohen Materialismus“. 4 Auf Materialismus waren jedoch die Naturwissenschaften zur Zeit Schopenhauers und auch noch danach gegründet. Daher kommt Schopenhauers Lehre von der Lebenskraft dem Holismus sehr viel näher, als es den materialistisch-mechanistischen Naturwissenschaften möglich ist.

Der Schopenhauer-Forscher Arthur Hübscher ging in einem Buch, in welchem er die weitreichenden Wirkungen der Philosophie Schopenhauers untersuchte, auf die Entwicklung der biologischen Wissenschaften im 19./20. Jahrhundert ein:

„Seit der Jahrhundertwende hat man bereits begonnen, die Berechtigung einer rein mechanischen Erklärung aller Lebensvorgänge in Frage zu stellen, man suchte und man fand Beweise, die gegen die Maschinentheorie des Lebens sprechen, Beweise für eine Autonomie, eine Selbstbestimmtheit oder Eigengesetzlichkeit des Lebendigen, die alle einzelnen Funktionen zu einer Ganzheit ordnet. Dieses ordnende und leitende Prinzip im lebendigen Organismus aber … ist dem Urwillen [also dem metaphysischen Willen] Schopenhauers nah verwandt …

Der Ganzheitstheoretiker von heute faßt durchaus im Sinne Schopenhauers die Lebenserscheinungen als aktive Offenbarungen eines unaufhörlich andauernden Ganzes auf. Auch wenn die Biologie des 19. Jahrhunderts noch im höchsten Leben die maschinellen Ablaufregeln des niedrigsten wiederfinden möchte, so führt die Biologie des 20. Jahrhunderts in die Nachfolge Schopenhauers, wenn sie noch im einfachsten Leben Suren des Seelischen zu finden sucht.“ 5

Die holistische Naturerklärung, wonach die Lebewesen eine Ganzheit und demnach keine zerlegbaren Sachen seien, ist vor allem auch in ethischer Hinsicht von großer Bedeutung: Wenn Tiere keine Sachen sind, dann ist es nicht zu rechtfertigen, sie als bloße Sachen zu behandeln, wie es leider aufgrund fehlender oder völlig unzureichender Tierschutzgesetze noch immer weitgehend der Fall ist. 6 Schopenhauer war einer der ersten weltbekannten Philosophen der Neuzeit, der die Behandlung der Tiere als Sachen anprangerte und Gerechtigkeit auch für Tiere forderte. So wurde Arthur Schopenhauer nicht nur zu einem Förderer der damals gegründeten Tierschutzvereine, sondern auch zu einem der Wegbereiter für die heutige Tierrechtsbewegung.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Philosophisches Wörterbuch, begr. von Heinrich Schmidt, 21. Aufl., neu bearb. von Georgi Schischkoff, Stuttgart 1982, Stichwort: Ganzheit , S. 211 f.
2 Ebd., Stichwort: Holismus , S. 285 f.
3 Zu den Begriffen Objektivation und Wille in Schopenhauer Philosophie > hier und > Lebenskraft.
Die Lebenskraft ist – laut Schopenhauer – „identisch mit dem Willen: allein auch alle anderen Naturkräfte sind es auch; obgleich dies weniger augenfällig ist“ ( Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 346).
4 Schopenhauer , a. a. O., Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 169.
5 Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom: Schopenhauer : gestern – heute – morgen, 4. Aufl., Bonn 1988, S. 268.
6 Das Tier – eine Sache? Schopenhauer sah in dieser Frage einen „Grundfehler des Christentums“: Ein „zu erwähnender, aber nicht weg zu erklärender und seine heillosen Folgen täglich manifestierender Grundfehler des Christentums ist, daß es widernatürlicherweise den Menschen losgerissen hat von der Tierwelt, welcher er doch wesentlich angehört, und ihn nun ganz allein gelten lassen will, die Tiere geradezu Sachen betrachtend“ ( Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 408).