Heilt die Zeit alle Wunden ?

        Das sonst ganz Unverdauliche, alle Betrübnis, Ärger, Verlust, Kränkung, verdaut allein die Zeit – meinte Arthur Schopenhauer *, und eine Volksweisheit stimmt ihm da zu: Die Zeit heilt alle Wunden. Solche und ähnliche Sprüche sind optimistisch und mögen mitunter hilfreich sein, aber sind sie auch wahr? Das Leben kann derart schwere Wunden zufügen, dass die Zeit diese Wunden vielleicht vorübergehend etwas verdecken, aber nicht dauerhaft heilen kann. Dennoch – auch das zeigt das Leben – lassen sich viele Probleme zumindest mildern, wenn mit etwas Geduld abgewartet wird, denn oft stellt sich im Laufe der Zeit heraus, dass sie nicht so schwerwiegend sind, wie es am Anfang den Anschein hatte. Insofern kann die Zeit durchaus hilfreich sein. Arthur Schopenhauer bezog sich wohl auf diese Lebenserfahrung, als er schrieb:

        „Wie, im Raum, die Entfernung Alles verkleinert, indem sie es zusammenzieht, wodurch dessen Fehler und Übelstände verschwinden, weshalb auch in einem Verkleinerungsspiegel, oder in der camera obscura [Lochguckkasten], sich alles viel schöner, als in der Wirklichkeit, darstellt; – eben so wirkt in der Zeit die Vergangenheit: die weit zurückliegenden Scenen und Vorgänge, nebst agirenden Personen, nehmen sich in der Erinnerung, als welche alles Unwesentliche und Störende fallen läßt, allerliebst aus. Die Gegenwart, solchen Vortheils entbehrend, steht stets mangelhaft da.

        Und wie, im Raume, kleine Gegenstände sich in der Nähe groß darstellen; wenn sehr nahe, sogar unser ganzes Gesichtsfeld einnehmen; aber, sobald wir uns etwas entfernt haben, klein und unscheinbar werden; ebenso, in der Zeit, erscheinen die in unserm täglichen Leben und Wandel sich ereignenden kleinen Vorfälle, Unfälle und Begebenheiten, so lange sie, als gegenwärtig, dicht vor uns liegen, uns groß, bedeutend, wichtig, und erregen demgemäß unsere Affekte, Sorge, Verdruß, Leidenschaft: aber sobald der unermüdliche Strom der Zeit sie nur etwas entfernt hat, sind sie unbedeutend, keiner Beachtung werth und bald vergessen, indem ihre Größe bloß auf ihrer Nähe beruht.“**

        So relativiert die Zeit zwar nicht alle, aber manche Probleme – eine Lebenserfahrung (nicht nur) Schopenhauers, die helfen kann, sich viele Aufregungen des Alltags zu ersparen. Auch das gehört zur Lebensphilosophie Arthur Schopenhauers.

H.B.

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Zitatquellen
*  Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band X, S. 454.
** Arthur Schopenhauer , a. a. O., S. 658.