Wahrheit und gekränkte Eitelkeit

Wahrheit und Eitelkeit vertragen sich nicht. Besonders Arthur Schopenhauer musste das erfahren, denn in seiner Philosophie gilt der Grundsatz: Ehrwürdig ist die Wahrheit; nicht was ihr entgegensteht. 1 So kam es dann, dass nicht wenige Menschen sich durch seine Wahrheiten in ihrer Eitelkeit verletzt fühlten.

Wo ist eine Eitelkeit, die ich nicht gekränkt hätte? – fragte Arthur Schopenhauer in einem Brief an seinen Freund und aktivsten Anhänger Julius Frauenstädt. 2 Seine Frage war durchaus berechtigt, denn es waren viele Eitelkeiten. Jedoch die größte Eitelkeit, die Schopenhauer gekränkt hatte, war der Wahn der Menschen, ihr Glaube, mehr als nur ein Teil der Natur zu sein. Die Menschen sahen sich, und viele sehen sich wohl auch heute noch so, wie die christliche Kirche es sie lehrte, nämlich als Ebenbild Gottes, als Krönung der Schöpfung und dementsprechend auch als Herrscher über die Natur. Martin Luther zum Beispiel bestärkte sie in diesem Glauben, indem er in einer seiner „Tischreden“ sagte: Alle Wälder und Hölzer sind unsere Jägerei … Denn es ist alles um unser, der Menschen Willen geschaffen. 3

Entgegen dem Luther-Zitat vertrat Schopenhauer eine völlig andere Meinung, die er im Rahmen seiner Philosophie metaphysisch sehr tief begründete. Der Philosoph und Schopenhauer-Forscher Heinrich Hasse schrieb hierzu:

„Schonungslos und freimütig, wie wenige Betrachter der eigenen [also der menschlichen] Gattung es gewesen sind, hat Schopenhauer auch auf diesem Gebiet allen falschen Respekt überwunden. Er sieht und schildert das Typische am Menschen mit dem durchdringenden Blick eines Forschers, welchem die Rücksicht auf Wahrheit höher steht als die Rücksicht auf menschliches Vorurteil und menschliche Eitelkeit.

Ohne Bedenken wird die moderne Wissenschaft und die auf ihr fußende Weltanschauung sich den Gedanken anschließen, mit welchen Schopenhauer die Einordnung des Menschen in die Reihe der höheren Wirbeltiere vollzieht.

Obwohl seine Hypothese über den Ursprung des Menschen nur als interessantes Vorspiel einer wissenschaftlich gesicherten Deszendenztheorie [Abstammungslehre] gelten kann, bildet die philosophische Zurückweisung einer supranaturalistisch [übernatürlich] begründeten Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren und die damit verbundene Anerkennung der Wesensverwandtschaft des Menschen mit der Tierwelt eine innerhalb des abendländischen Denkens höchst verdienstvolle Tat.

Ihre Bedeutung erscheint noch größer bei der Erwägung, daß (im Gegensatz zur indischen Weltauffassung) das christlich-europäische Denken mit der Leugnung dieser Wesensverwandtschaft die Einheit des organischen Lebens gesprengt, den Menschen von der Tierreihe willkürlich losgerissen und die Tiere zu moralischer Rechtlosigkeit verurteilt hatte.“ 4

Auch Hasses Hinweis auf die Rechtlosigkeit der Tiere entspricht völlig Schopenhauers Philosophie, denn dort begründete Schopenhauer sehr eingehend, „daß die Thiere, in der Hauptsache und im Wesentlichen, ganz das Selbe sind, was wir, und daß der Unterschied bloß im Grade der Intelligenz, d. i. Gehirntätigkeit liegt […] Erst wann jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit in´s Volk gedrungen sein wird, werden die Thiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn und demnach der bösen Laune und Grausamkeit jedes rohen Buben preisgegeben sein; und wird es nicht jedem Medikaster freistehn, jede abenteuerliche Grille seiner Unwissenheit durch die gräßlichste Qual einer Unzahl Thiere auf die Probe zu stellen; wie heut zu Tage geschieht.“ 5 Übrigens, was Schopenhauer hier ansprach, sind die qualvollen Tierversuche, die damals so wie leider auch heute noch wissenschaftlicher Alltag und Ergebnis jener Auffassung sind, dass der Mensch unendlich weit über dem Tier stehe.

Eitelkeit, so meinte Arthur Schopenhauer, entstehe, indem der Mensch sich mit anderen Wesen vergleicht. Dabei sei er „auf keine Vorzüge … so stolz wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen sein Vorzug vor den Tieren.“ 6

Seit Schopenhauer muss jedoch die Wissenschaft immer deutlicher zur Kenntnis nehmen, dass die geistigen Fähigkeiten mancher Tiere mitunter die des Menschen übertreffen können. 7 Die Wissenschaft liefert fast täglich neue Beweise, dass hoch entwickelte Tiere in ihrem Denken und Fühlen den Menschen wesentlich näher stehen, als viele Tiernutzer es wahrhaben wollen. 8

So ist der Glaube des Menschen, er sei berechtigt, sich ohne irgendwelche moralischen Bedenken über das Tier und die übrige Natur zu erheben, ein Irrglaube. Schopenhauer hatte diesem Irrglauben entschieden wie kaum ein anderer weltberühmter Philosoph widersprochen und dabei die Eitelkeit des sich als „Krone der Schöpfung“ fühlenden Menschen gekränkt.

Die Kränkung wurde ihm übel genommen. Arthur Schopenhauer blieb dabei – der Wahrheit wegen. Wohl nicht ganz zu Unrecht schrieb er in seinem eingangs erwähnten Brief: Man dient nicht der Welt und der Wahrheit zugleich.

H.B.

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Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band V: Ueber den Willen in der Natur, Zürich 1977, S. 237.
(2) Brief vom 21.08.1852, in: Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 292.
(3) D. Martin Luther´s sämtliche Schriften, XXII. Band. Enthaltend: Die Colloquia oder Tischreden, hrsg. und erl. von Karl Eduard Förstemann, Leipzig 1844, S. 141.
(4) Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 450 f. Dieses Buch ist auch heute noch eine der besten Darstellungen zu Schopenhauers Leben und Werk (> mehr).
(5) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 15: Ueber Religion, § 177: Ueber das Christenthum, S. 415.
(6) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, a. a. O., Band VIII: Parerga und Paralipomena I, Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 501 f.
(7) Abgesehen davon, sind geistige Fähigkeiten noch keine moralischen Qualitäten, weil es darauf ankommt, ob sie für moralisch gute oder verwerfliche Zwecke eingesetzt werden.
(8) S. hierzu Beispiele:
(a) Der Geist der Tiere , Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, hrsg, von Dominik Perler und Markus Wild, Frankfurt am Main 2005.
(b) James Serpell, Das Tier und wir, Rüschlikon-Zürich 1990.
(c) Frans de Waal, Der Affe in uns, München-Wien 2006.