Die Upanishaden – Quelle altindischer Weisheit

Die Upanishaden waren nicht nur die Quelle der Weisheit im alten Indien, sondern auch die der Philosophie Schopenhauers. Ohne die Upanishaden, so schrieb Arthur Schopenhauer, wäre seine Lehre nicht entstanden. Er erwähnte in diesem Zusammenhang zwar auch Kant und Platon, die Upanishaden aber standen für ihn an erster Stelle. 1

Die altindischen Upanishaden sind auch heute noch die Grundlage der Philosophie des Hinduismus. Sie sind – laut dem Religionswissenschaftler und Indologen Helmuth von Glasenapp – Schriften „mystischen Inhalts, welche höhere Erkenntnisse über Gott, Welt und Seele überliefern“. 2 Die ältesten von ihnen entstanden vermutlich zwischen 1000 und 500 v. Chr., also noch vor der Zeit des Buddha.

Somit vollzog sich etwa während dieser Zeit der Übergang von der Magie zur Philosophie. Das bisher allein vorherrschende Opferwesen mit Zauberriten und Zaubersprüchen wurde mehr und mehr abgelöst von der Suche nach der Wahrheit. Es trat, so meinte v. Glasenapp, „immer deutlicher das Bestreben hervor, durch die Hüllen der Ritualwissenschaft hindurch zu philosophischen Erkenntnissen vorzudringen.

In oft noch recht schwerfälliger und unbeholfener Weise wird der Versuch gewagt, das Jenseitige, das hinter der Welt ist, zu erforschen. Dann erscheint alle Opferweisheit als eine niedere, vorbereitende Wissenschaft; die höhere Erkenntnis, um derentwillen Könige den Weisen Tausende von Rindern schenken, um derentwillen Hausväter ihren Besitz aufgeben und in den Wald hinausgehen, ist das Wissen um das, was den Kern alles Daseins ausmacht, um das Brahma [Weltseele] oder den Atman [Einzelseele].

Noch weiß die Sprache nicht diesen höchsten Begriff in voller Abstraktheit zu fassen, noch vermag das Denken nicht zwischen Geist und Materie einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen, aber doch leuchtet schon überall die erhabene Größe des Alleinheitsgedanken hervor.

In Gleichnissen wie dem vom Tonklumpen, durch den alles Tönerne begriffen wird, weil es eine Umformung von Ton darstellt, oder von dem gespaltenen Kern des Feigenbaums, in dem die unsichtbare feine Substanz das alldurchdringende, alles durchwebende Ens realissimum [das allerrealste Wesen, der Inbegriff der Realität] darstellt, wird das Geheimnis gelehrt, das in den ´großen Worten` gipfelt, Ich bin das Brahma, und das bist du (tat tvam asi). 3 In vollem Bewußtsein der Undefinierbarkeit des Ewigen wird von ihm ausgesagt, daß Worte es nicht zur erklären vermögen (neti, neti) und daß keinerlei irdische Bestimmungen auf es Anwendung finden …

Es war nicht bloßer, kühler Wissensdrang, der sie [die Wahrheitssucher der Upanishaden] veranlaßte, nach dem zu fragen, was allem zugrunde liegt, sondern sie verfolgten zugleich ein praktisches Ziel. Dieses Ziel aber war gegeben durch die neue Wertung des irdischen Daseins und die neuen eschatologischen [auf die letzten Dinge gerichteten] Anschauungen, die in dieser Zeit hervortraten.

Dem grübelnden Denker hatte sich die bange Frage was ist nach dem Tode, welche die lebensfreudigen Dichter der Hymnenzeit [also vor den Upanishaden] nur selten gestellt, mit immer wuchtigerer Gewalt aufgedrängt. In der Brihadaranyaka-Upanishad (3,2.13) gab Yajnavalkya, die erhabenste Sehergestalt, die uns in den Upanishaden entgegentritt, eine Antwort, die für die ganze Folgezeit den Ausschlag gab: Gut wird einer durch gutes Werk, böse durch böses, und in dem selben Text (6,2,15) und Chandogya-Upanishad (5,10) wird dann die große Lehre von der Wiedergeburt auseinandergesetzt …“ 2

Schopenhauer war von den Upanishaden tief beeindruckt. Dementsprechend bezog er sie in seine Philosophie ein. Hierbei wies er darauf hin, dass die in den Upanishaden enthaltene (oben erwähnte) „große Wahrheit“ des Tat-tvam-asi, vom Volke nicht verstanden werde. Deshalb könne sie von diesem nur als Mythos verkleidet aufgenommen werden, und das sei der Mythos von der Seelenwanderung: „Er lehrt, daß alle Leiden, welche man im Leben über andere Wesen verhängt, in einem folgenden Leben auf eben dieser Welt, genau durch die selben Leiden wieder abgebüßt werden müssen; welches so weit geht, daß wer nur ein Tier tötet, einst in der unendlichen Zeit auch als eben ein solches Tier geboren werden und den selben Tod erleiden wird … Als Belohnung aber verheißt er dagegen Wiedergeburt in besseren, edleren Gestalten, als Bramane [Priester], als Weiser, als Heiliger …
Nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigen zugänglichen, philosophischen Wahrheit enger anschließen, als diese uralte Lehre des edelsten und ältesten Volkes.“ 4

Ob diese Lehre der Upanishaden esoterisch, also nur wenigen Ausgewählten, als Tat-tvam-asi oder exoterisch und damit allgemeinverständlich als Seelenwanderung vermittelt wird, ändert nichts an der Bedeutung, die sie für Schopenhauer hatte, nämlich als die lebendige Erkenntnis der ewigen Gerechtigkeit. 4 So ist es dann verständlich, wenn die Weisheit der altindischen Upanishaden zu einer Quelle des Trostes und der Hoffnung im Leben des Philosophen Arthur Schopenhauer wurde.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie sowie den Upanishaden > hier.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. v. Arthur Hübscher, Band. 1, München 1985, S. 422.  
Schopenhauer nannte zwar die Upanishaden noch vor Kant. Dennoch beruht seine Philosophie nicht auf den Upanishaden, sondern auf der von Kant. Er sah sich als Vollender von Kants Philosophie und war hocherfreut, dass – wie er meinte – seine Philosophie im Ergebnis mit den indischen Philosophien (Upanishaden bzw. Vedanta und Buddhismus) weitgehend übereinstimmt.    
2 Helmuth von Glasenapp, Die Literaturen Indiens, Stuttgart 1961, S. 79 ff.
3 S. hierzu auch Das Tat-tvam-asi – die Grunderkenntnis der Upanishaden > Blogbeitrag.
Auf dieser Grunderkenntnis beruht Schopenhauers Ethik, und zwar einschließlich seiner Tierethik. Sie begründet seine Aussage über die Wesensgleichheit von Mensch und Tier, „jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit, daß die Tiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, wie wir“ (> Blogbeitrag).
4 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zürich 1977, S. 442 ff.
In dem von Schopenhauer oben beschriebenen Mythos der Seelenwanderung kommt auch die enge und untrennbare Verbindung von Mensch und Tier zum Ausdruck. Schon in dieser Hinsicht zeigt sich der fundamentale Unterschied zu den im Abendland vorherrschen Religionen, den Schopenhauer in seiner Philosophie mehrmals deutlich hervorgehoben hat.
S. dazu auch: Unsterbliche Seele in Mensch und Tier ?