Zur Bedeutung der indischen Weisheitslehren

Den indischen Weisheitslehren kam bereits beim Entstehen der Philosophie Schopenhauers große Bedeutung zu. Er glaube nicht, so schrieb Arthur Schopenhauer um 1816, also noch vor Veröffentlichung seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung, in sein Manuskript, „daß meine Lehre je hätte entstehn können, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten“. 1 Aufschlussreich ist, dass Schopenhauer dort die Upanishaden, welche die wohl ältesten Weisheitslehren Indiens enthalten, an erster Stelle nannte. Mit den Upanishaden begann nicht nur die Philosophie Schopenhauers, sondern vor weit mehr als 2500 Jahren auch die Indiens.

Philosophie ist, wie Arthur Schopenhauer erklärte, „wesentlich Weltweisheit“. 2 Insofern können die indischen Weisheitslehren auch als Philosophie bezeichnet werden. Schopenhauer war ein großer Bewunderer der indischen Philosophie, und zwar schon zu einer Zeit, als man im Abendland mitunter noch zögerte, sie überhaupt als „Philosophie“ anzuerkennen. 3 Eine solche Geringschätzung der indischen Philosophie ist völlig unberechtigt, denn so schrieb der Religionswissenschaftler und Indologe Helmuth v. Glasenapp:

„Indem die indische Philosophie in ihren größten Vertretern zu der Einsicht vorgedrungen ist, daß alle unsere Welterkenntnis von subjektiven Faktoren abhängig ist, hat sie den höchsten Gipfel nüchterner Wirklichkeitsbetrachtung erreicht, zu welcher alle kritische Wahrheitsforschung nach jedem metaphysischen Höhenflug immer wieder zurückkehren muß …

Dem Erforscher der Geistesgeschichte der Menschheit bietet sie eine unerschöpfliche Quelle der Erkenntnis … Bei der großen Mannigfaltigkeit der indischen Gedankenwelt fühlen sich abendländische Denker sehr verschiedener Art zu ihren Erscheinungen hingezogen. Der Naturwissenschaftler bewundert ihre kosmologischen Perspektiven, der Ethiker die Erhabenheit ihrer Vorstellungen von einer sittlichen Weltordnung, … der Mystiker die berauschende Kraft ihrer All-Einheitsschau, der kritische Geist die abgrundtiefe Als-ob-Philosophie des buddhistischen Relativismus.

Aber auch derjenige, der sich nicht eine der großen indischen Heilslehren zu eigen macht, wird aus der Begegnung und Auseinandersetzung mit ihnen großen Gewinn ziehen und der unerhörten Kühnheit der indischen Weisen seine Anerkennung zollen, die es wagten, mit vollkommener Gelassenheit das Dasein in Frage zu stellen und seine Aufhebung für möglich zu halten.

Von ihren Anfängen bis zur Gegenwart ist die Philosophie der Inder nie eine rein theoretische Weltdeutung geblieben, sondern hat sich stets in einer praktischen Lebensgestaltung ausgewirkt. Dadurch, daß die meisten ihrer repräsentativen Vertreter den Weg nach innen einschlugen und den Mysterien der eigenen Seele ihr vornehmstes Interesse zuwandten, sind die Inder frühzeitig auf dem Gebiet der Psychologie zu Erkenntnissen vorgedrungen, die der Westen sich erst in neuerer Zeit in der Gestalt der ´Psycho-Analyse`, des ´autogenen Training`usw. nutzbar gemacht hat.“

Gegen Ende seiner obigen Ausführungen zur Bedeutung der indischen Philosophie stellte von Glasenapp fest, dass es zwar „ein schwerer Fehler wäre, von den Indern alles kritiklos zu übernehmen“, doch „unterliegt es keinem Zweifel, daß der Westen in dieser Beziehung noch viel von den Indern zu lernen hat“. 4

Für Arthur Schopenhauer waren es vor allem die Lehre des Buddha, den er als „Siegreich-Vollendeten“ hoch schätzte und die Philosophie der altindischen Upanishaden, die er als „Frucht der höchsten menschlichen Erkenntnis und Weisheit“ überaus schätzte. 5 Ja sogar für das Verständnis seiner eigenen Philosophie hielt er die indischen Weisheitslehren für sehr hilfreich. So heißt es in der Vorrede zur ersten Auflage seines Hauptwerkes: „Hat … der Leser auch schon [neben dem Studium der Werke Kants und Platons] die Weihe uralter Indischer Weisheit empfangen und empfänglich aufgenommen, dann ist er auf das allerbeste bereitet zu hören, was ich ihm vorzutragen habe.“ 6

Die indischen Weisheitslehren, insbesondere die Upanishaden und der Buddhismus, beruhen auf uralten, auch heute noch durchaus wertvollen spirituellen Erfahrungen. Vor allem der Buddhismus geht von der Tatsache aus, dass das Leben für Mensch und Tier mit viel Leid verbunden ist. Dementsprechend steht die Erlösung vom Leid der Vergänglichkeit im Mittelpunkt der buddhistischen Lehre. So erklärte der Buddha: „Wie das Meer nur einen Geschmack hat, den des Salzes, so hat auch meine Lehre nur einen Geschmack – den der Erlösung.“ 7

Auch Schopenhauer ging es um Erlösung. Im „Sansara“ (womit die Buddhisten den Kreislauf der Existenzen, das Weltleben, bezeichnen) treten, wie er meinte, „wiewohl sehr sporadisch, aber doch stets von Neuem uns überraschend, Erscheinungen der Redlichkeit, der Güte, ja des Edelmuts … auf. Nie gehen diese ganz aus: sie schimmern uns wie einzelne glänzende Punkte aus der großen Masse entgegen. Wir müssen sie als ein Unterpfand nehmen, daß ein gutes und erlösendes Prinzip in diesem Sansara steckt, welches zum Durchbruch kommen und das Ganze erfüllen und befreien kann“. 8

Somit stimmte der angebliche „Pessimist“ Arthur Schopenhauer mit dem Buddha und anderen indischen Weisen in der Erkenntnis überein, dass Erlösung letztlich möglich ist. 9 In dieser höchst optimistischen und trostvollen Erkenntnis liegt meiner Meinung nach die größte Bedeutung der indischen Weisheitslehren.

H.B.

Weiteres zu > Arthur Schopenhauer und den > Upanishaden sowie zum > Buddhismus.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 1, München 1985, S. 422.
2 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 219.
3 „Obwohl sich die abendländische Wissenschaft seit einhundertfünfzig Jahren um die Philosophie der Inder bemüht, haben bisher nur wenige Denker des Westens den metaphysischen Systemen des Gangeslandes gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Dies hat seinen Grund zum Teil darin, daß viele von ihnen auch heute noch unbewußt dem Einfluß des mittelalterlichen Weltbildes unterliegen, für welches die um den Mittelmeerraum erwachsene Kultur das Maß der Dinge darstellt und das geistige Leben des südlichen und östlichen Asiens diesem nicht gleichwertig und deshalb nur von vorwiegend ethnographischem Interesse ist“ (Helmuth von Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 3. Aufl., Stuttgart 1974, S. IX).
4 Ebd., S. 453 f.
5 Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 442.
6 Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 11.
7 Anguttara-Nikaya 8, 19, 16, zit. aus: Pfad zur Erleuchtung, Buddhistische Grundtexte übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln 1974, S. 56.
8 Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II, S. 238.
9 Ausführlicher > Arthur Schopenhauer : Leid und Erlösung.

Grenzen des Wissens

Eine Philosophie, meinte Arthur Schopenhauer, „die keine Frage mehr übrig ließe“, wäre eine „Allwissenheitslehre“. Diese aber sei unmöglich, denn „es gibt eine Grenze, bis zu welcher das Nachdenken vordringen und … die Nacht unseres Daseins erhellen kann, wenngleich der Horizont stets dunkel bleibt …“. 1 Ein seriöser Philosoph vermeidet es daher, die Grenzen seines Wissens zu überschreiten und ein angebliches Wissen vorzutäuschen, das in Wahrheit nur Glaube ist.

Dementsprechend wies Schopenhauer darauf hin, dass seine Philosophie nicht in dem Sinne zu verstehen sei, „daß sie kein Problem zu lösen übrig, keine mögliche Frage unbeantwortet ließe. Dergleichen zu behaupten, wäre eine vermessene Ableugnung der Schranken menschlicher Erkenntnis überhaupt. Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgrenzt bleiben … Daher muß die wirkliche, positive Lösung des Rätsels der Welt etwas sein, daß der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist; so daß wenn ein Wesen höherer Art käme und sich alle Mühe gäbe, es uns beizubringen, wir von seinen Eröffnungen durchaus nichts würden verstehen können. Diejenigen sonach, welche vorgeben, die letzten, d. i. die ersten, Gründe der Dinge … zu erkennen, treiben Possen, sind Windbeutel, wo nicht gar Scharlatane.“ 2

Einerseits hat das menschliche Wissen mehr oder weniger enge Grenzen, doch andererseits möchten die Menschen diese Grenzen überschreiten und wollen wissen, „was die Welt zusammenhält“, was jenseits allen Physischen sein könnte. Sie haben, wie Schopenhauer es nannte, „ein metaphysisches Bedürfnis“. Hierbei verstand er unter Metaphysik „jede angebliche Erkenntnis … über das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht“. 3

Im Hinblick auf dieses Bedürfnis gab Schopenhauer den Rat: Wer zu der „Erkenntnis, bis zu welcher allein die Philosophie ihn leiten kann, … Ergänzung wünscht, der findet sie am schönsten und reichlichsten im Oupnekhat4, der lateinischen Fassung der Upanishaden. Diese philosophischen Schriften aus dem alten Indien geben Antworten auf metaphysische Fragen, wie z. B.: Woher komme ich und wohin gehe ich? Es sind spirituelle Texte mit Erkenntnissen, zu denen altindische Weise (Rishis), einsam meditierend, wohl durch Intuition gekommen waren. Deren Wissen ging deshalb weit über das „normaler“ Alltagsmenschen hinaus, denn es seien, meinte Schopenhauer, „fast übermenschliche Konzeptionen, welche später in den Upanishaden der Veden niedergelegt wurden“. 5

Für viele „normale“ Menschen aber wird das „metaphysische Bedürfnis“ vor allem durch die jeweils vorherrschenden Landesreligionen mehr oder weniger erfolgreich erfüllt. Hierbei warnte Schopenhauer vor aufgezwungenen religiösen und anderen weltanschaulichen Dogmen: „Nichts kann jedoch der Auffassung auch nur des Problems der Metaphysik so fest entgegenstehen, wie eine ihm vorhergängige, aufgedrungene und dem Geist früh eingeimpfte Lösung desselben: denn der notwendige Ausgangspunkt von allem echten Philosophieren ist die tiefe Empfindung des Sokratischen: Dies eine weiß ich, daß ich nichts weiß.6

Obige Worte werden oft zitiert, doch vielleicht noch etwas treffender scheint mir das folgende Zitat zu sein:

Wenige wissen, wie viel man wissen muß,
um zu wissen, wie wenig man weiß.
7

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie sowie den Upanishaden > hier .

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 693.
2 Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt … II, S. 216 f.
3 Ebd., S. 191.
4 Schopenhauer, a. a. O., Band IV: Die Welt … II, S. 716.
5 Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt … II, S. 189.
6 Ebd., S. 218.
7 Zitat aus: Kurt Schmidt, Leer ist die Welt – Buddhistische Studien, Konstanz 1953, S. 75.

Tiefe Einsicht

Zur weltweiten Ausstrahlung der Philosophie Arthur Schopenhauers schrieb der englische Philosoph Bryan Magee in seiner Geschichte der Philosophie:

„Die Gründe für seine [Schopenhauers] außerordentliche Ausstrahlung waren komplex und vielfältig, wobei der entscheidende Grund vielleicht der war, dass es Schopenhauer gelungen war, eine unvergleichlich tiefe Einsicht in die menschliche Situation mit einem großartigen Stil zu verbinden.“ 1

Was den zu Recht oft gelobten „großartigem Stil“ Schopenhauers angeht, meinte Magee:

„Der Reiz der Philosophie Schopenhauers wird für den Leser noch erheblich durch die Qualität seiner Prosa gesteigert. Er gehörte zu der kleinen Gruppe großer Philosophen, die auch große Literaten waren … Weil seine Formulierungen oft so brillant sind, wurden viele von ihnen aus dem Zusammenhang gerissen und zu kleinen Sammlungen zusammengestellt, in denen sie wie Epigramme präsentiert werden. Dies vermittelt indes eine völlig falsche Vorstellung von seinem Denken, ist er doch neben Kant einer der größten Systembildner unter den Philosophen.“ 2

Besonders viele Anhänger hatte und hat Schopenhauer unter den Künstlern, denn er „behandelt die einzelnen Künste viel eingehender und verständiger als irgendein anderer bedeutender Philosoph … Musik hielt er für eine Art Überkunst, die alle anderen Künste an metaphysischer Bedeutung übertrifft. Einige der größten ihm nachfolgenden Komponisten, zum Beispiel Wagner und Mahler, betrachteten seine Schriften über Musik als die tiefsten überhaupt.“ 3

Aber auch als Brücke zwischen westlicher und östlicher Philosophie ist Schopenhauers Werk von bleibender Bedeutung:

„Obwohl seine [Schopenhauers] Gedanken nicht grundlegend durch den Hinduismus und Buddhismus geprägt waren, war er doch der erste bekannte europäische Autor, der seinen Lesern, allein dadurch, dass und wie er darüber schrieb, den ernst zu nehmenden intellektuellen Gehalt jener Religionen nahebrachte. Und bis heute ist er der einzige bedeutende westliche Philosoph geblieben, der die östliche Philosophie wirklich kannte und in ihren Tiefen verstand.“ 4

Schopenhauers Schriften wurden so ein Tor zu den Schätzen östlicher, insbesondere indischer Weisheit. 5 Jedenfalls ist das für mich ein weiterer Grund, Arthur Schopenhauer zu lesen!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Bryan Magee, Geschichte der Philosophie, München 2007, S. 145. Ergänzend hierzu: Bryan Magee, The philosophy of Schopenhauer, revised edition, Oxford / New York 1997.
2 Magee, Geschichte, a. a. O., S. 144.
3 Ebd., S. 144.
4 Ebd., S. 143.
5 S. hierzu auch > Schopenhauer und Buddhismus.

Buddhismus und Toleranz

Arthur Schopenhauer lernte den Buddhismus erst in späteren Lebensjahren näher kennen. Hierbei hatte für ihn das 1850 erschienene „höchst lesenswerthe Buch“ Eastern monachism große Bedeutung, sodass er es auch in seinen Schriften besonders weiterempfahl. 1 Der Verfasser, Robert Spence Hardy, war englischer Pfarrer, der längere Zeit als methodistischer Missionar in Ceylon (Sri Lanka) lebte, wo er den dort vorherrschenden alten (Theravada-) Buddhismus studierte und dabei viele buddhistische Manuskripte sammelte. 2

In seinem oben genannten, wie Schopenhauer meinte, „vortrefflichen Buch“ lobte Hardy „die außerordentliche Toleranz der Buddhaisten und fügt die Versicherung hinzu, daß die Annalen des Buddhaismus wenigere Beispiele von Religionsverfolgung liefern, als irgend einer andern Religion“. 3

Diese für einen christlichen Missionar sehr bemerkenswerte Feststellung erläuterte Schopenhauer durch den Hinweis: „In der That ist Intoleranz nur dem Monotheismus wesentlich: ein alleiniger Gott ist, seiner Natur nach, ein eifersüchtiger Gott, der keinem andern [Gott] das Leben gönnt. Hingegen sind polytheistische Götter, ihrer Natur nach, tolerant: sie leben und lassen leben … Daher sind es die monotheistischen Religionen allein, welche uns das Schauspiel der Religionskriege, Religionsverfolgungen und Ketzergerichte liefern … “ 4

Die Lehre des Buddha ist weder monotheistisch noch polytheistisch, sondern – wie Schopenhauers Philosophie – in ihrem Kern atheistisch. Soweit dort überhaupt von „Göttern“ die Rede ist, sind diese nicht mit denen der monotheistischen Religionen vergleichbar. Der Buddha hatte die überlieferte Götterlehre zwar anerkannt, aber „hinsichtlich ihrer religiösen Bedeutung stark herabgesetzt“. 5 Dementsprechend neigt der Buddhismus, wie die Religionsgeschichte deutlich beweist, weit mehr zur Toleranz als die großen monotheistischen Religionen.

Wie weit Toleranz im Buddhismus gehen kann, zeigt eine Begebenheit, über die in einer von der Altbuddhistischen Gemeinde herausgegebenen Schrift berichtet wird. Dort heißt es: „Die heiligen Texte des [alten Buddhismus] berichten von vielen Beispielen edler Toleranz. So wird unter anderem der reiche Hausvater Upali nach seinem Bekenntnis zum Buddha von diesem ermahnt, auch fürderhin den Jainamönchen, deren Lehre er früher anhing, zu spenden.“ 6 Im Hinblick darauf, dass der Jainismus eine dem Buddhismus zwar nah verwandte, aber vielleicht auch gerade deshalb konkurrierende Religion ist, dürfte diese „edle Toleranz“ besonders beachtenswert und im Verhältnis der Religionen wohl nur selten anzutreffen sein. 7

Toleranz, so erklärt das Philosophische Wörterbuch, ist ein Zeichen „für eine weltoffene Haltung, die den Vergleich mit anderen Meinungen nicht scheut und dem geistigen Wettbewerb nicht aus dem Wege geht“. 8 Hierfür ist der Buddha das beste Beispiel, denn er wurde zum Symbol „weltüberlegener Ruhe“ und zum „größten Vertreter indischer Weisheit“. 9

H.B.

Weiteres zu > Schopenhauer und seiner Philosophie sowie zum > Buddhismus.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 5, München 1985, S. 328 f.
2 Robert Spence Hardy (Kurzbiografie).
3 Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 15. Ueber Religion, § 174. Der Dialog, Zürich 1977, S. 395 f.
4 Ebd., S. 396.
5 Hierzu ausführlicher in: Helmuth von Glasenapp, Die Weisheit des Buddha, Wiesbaden o. J., S. 24 f.
6 M. Keller-Grimm und Max Hoppe (Br. Dhammapalo), Im Lichte des Meisters – Die Lehre des Buddha in Frage und Antwort, 3. verb. Aufl., Hrsg.: Altbuddhistische Gemeinde, Utting/Ammersee 1986, S. 153.
7 S. dazu > Jainismus – Religion ohne Gewalt (Blogbeitrag).
8 Philosophisches Wörterbuch, begr. von Heinrich Schmidt, 21. Aufl., neu bearb. von Georgi Schischkoff, Stuttgart 1978, S. 700 (Stichwort: Toleranz).
9 Vgl. Helmuth von Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart 1960, S. 185.

Ganzheit – Holismus und Schopenhauers Philosophie

Mensch, Tier oder Pflanze sind jeweils mehr als die Summe ihrer Einzelteile, denn werden sie in ihre Körperteile zerlegt, so sind sie keine Lebewesen mehr, sondern tot, also zu einer Sache geworden. Schon hieraus wird deutlich, dass Lebewesen nicht vollständig aus ihren einzelnen Bestandteilen erklärt werden können.

Somit liegt es nahe, Lebewesen nicht aus ihren einzelnen Teilen, sondern als Ganzheit zu verstehen. Dementsprechend erklärt das Philosophische Wörterbuch: „Seit der Jahrhundertwende [ab 1900], bedient man sich dieses Begriffes [Ganzheit], um alle Dinge zunächst in ihrem ursprünglich unversehrten Zusammenhang und ihrer Struktur zu betrachten, um auf diese Weise der Tatsache gerecht zu werden, daß eine Aufweisung der Eigenschaften der Einzelteile niemals Gesamtbestand bzw. Gesamtwirkung einer Sache erklären können; denn das einzelne, der ´Teil`, ist nur aus dem Ganzen heraus zu verstehen, das Ganze aber ist, wie bereits Aristoteles lehrte, mehr als die Summe seiner Teile. Das Ganze ist nicht aus Teilen ´zusammengesetzt`, es werden nur Teile an ihm unterschieden, in deren jedem das Ganze ist und wirkt.“ 1

Die wissenschaftliche Richtung, der eine ganzheitliche Betrachtung zugrunde liegt, wird Holismus genannt, und zwar abgeleitet vom griech. zo holon, „das Ganze“. Kurz und vereinfacht zusammengefasst: Holismus ist Ganzheitslehre, wobei die Ganzheit mehr als die Summe ihrer Teile ist.

Laut Philosophischem Wörterbuch „stimmen alle holistischen Systeme in allen Epochen darin überein, daß alle Wirklichkeitsbereiche – das Physische, Organismische, Psychische usw. – trotz grundsätzlicher Verschiedenheit eine echte Ganzheit bilden“. 2 Zum Psychischen erläutert das Wörterbuch: „Besonders die Psychologie hatte das Bedürfnis, von der mechanistischen, atomistischen Betrachtungsweise des 18. und 19. Jh. loszukommen und das unentstellte ursprüngliche Seelische zum Gegenstand der Forschung zu machen, bis dahin war ihr das besondere Seelische, nämlich Sinn und Bedeutung entgangen.“ 1

Arthur Schopenhauer ging in seiner Philosophie nicht von dem problematischen Begriff „Seele“ aus. Für ihn waren alle Erscheinungsformen dieser Welt „Objektivationen“ eines metaphysischen Willens. Dieser Wille manifestiere sich in allen Lebewesen als Wille zum Leben, als Lebenskraft. 3

Diese Auffassung Schopenhauers von der Lebenskraft wurde von der damaligen Naturwissenschaft nicht geteilt. Die „stupide Ableugnung der Lebenskraft“ und die Erklärung der „Erscheinungen des Lebens“ allein „aus physikalischen und chemischen Kräften“ beruhe, so meinte Schopenhauer, auf der „Unwissenheit“ des „rohen Materialismus“. 4 Auf Materialismus waren jedoch die Naturwissenschaften zur Zeit Schopenhauers und auch noch danach gegründet. Daher kommt Schopenhauers Lehre von der Lebenskraft dem Holismus sehr viel näher, als es den materialistisch-mechanistischen Naturwissenschaften möglich ist.

Der Schopenhauer-Forscher Arthur Hübscher ging in einem Buch, in welchem er die weitreichenden Wirkungen der Philosophie Schopenhauers untersuchte, auf die Entwicklung der biologischen Wissenschaften im 19./20. Jahrhundert ein:

„Seit der Jahrhundertwende hat man bereits begonnen, die Berechtigung einer rein mechanischen Erklärung aller Lebensvorgänge in Frage zu stellen, man suchte und man fand Beweise, die gegen die Maschinentheorie des Lebens sprechen, Beweise für eine Autonomie, eine Selbstbestimmtheit oder Eigengesetzlichkeit des Lebendigen, die alle einzelnen Funktionen zu einer Ganzheit ordnet. Dieses ordnende und leitende Prinzip im lebendigen Organismus aber … ist dem Urwillen [also dem metaphysischen Willen] Schopenhauers nah verwandt …

Der Ganzheitstheoretiker von heute faßt durchaus im Sinne Schopenhauers die Lebenserscheinungen als aktive Offenbarungen eines unaufhörlich andauernden Ganzes auf. Auch wenn die Biologie des 19. Jahrhunderts noch im höchsten Leben die maschinellen Ablaufregeln des niedrigsten wiederfinden möchte, so führt die Biologie des 20. Jahrhunderts in die Nachfolge Schopenhauers, wenn sie noch im einfachsten Leben Suren des Seelischen zu finden sucht.“ 5

Die holistische Naturerklärung, wonach die Lebewesen eine Ganzheit und demnach keine zerlegbaren Sachen seien, ist vor allem auch in ethischer Hinsicht von großer Bedeutung: Wenn Tiere keine Sachen sind, dann ist es nicht zu rechtfertigen, sie als bloße Sachen zu behandeln, wie es leider aufgrund fehlender oder völlig unzureichender Tierschutzgesetze noch immer weitgehend der Fall ist. 6 Schopenhauer war einer der ersten weltbekannten Philosophen der Neuzeit, der die Behandlung der Tiere als Sachen anprangerte und Gerechtigkeit auch für Tiere forderte. So wurde Arthur Schopenhauer nicht nur zu einem Förderer der damals gegründeten Tierschutzvereine, sondern auch zu einem der Wegbereiter für die heutige Tierrechtsbewegung.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Philosophisches Wörterbuch, begr. von Heinrich Schmidt, 21. Aufl., neu bearb. von Georgi Schischkoff, Stuttgart 1982, Stichwort: Ganzheit , S. 211 f.
2 Ebd., Stichwort: Holismus , S. 285 f.
3 Zu den Begriffen Objektivation und Wille in Schopenhauer Philosophie > hier und > Lebenskraft.
Die Lebenskraft ist – laut Schopenhauer – „identisch mit dem Willen: allein auch alle anderen Naturkräfte sind es auch; obgleich dies weniger augenfällig ist“ ( Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 346).
4 Schopenhauer , a. a. O., Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 169.
5 Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom: Schopenhauer : gestern – heute – morgen, 4. Aufl., Bonn 1988, S. 268.
6 Das Tier – eine Sache? Schopenhauer sah in dieser Frage einen „Grundfehler des Christentums“: Ein „zu erwähnender, aber nicht weg zu erklärender und seine heillosen Folgen täglich manifestierender Grundfehler des Christentums ist, daß es widernatürlicherweise den Menschen losgerissen hat von der Tierwelt, welcher er doch wesentlich angehört, und ihn nun ganz allein gelten lassen will, die Tiere geradezu Sachen betrachtend“ ( Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 408).

Philosophie statt Religion ?

Wenn der Glauben schwindet, so meinte Arthur Schopenhauer, habe der Mensch ein wachsendes Bedürfnis nach Erkenntnis und Philosophie:

„Mit der Unfähigkeit zum Glauben wächst das Bedürfnis der Erkenntnis. Es gibt einen Siedepunkt auf der Skala der Kultur, wo aller Glaube, alle Offenbarung, alle Autoritäten sich verflüchtigen, der Mensch nach eigener Einsicht verlangt, belehrt, aber auch überzeugt sein will.

Das Gängelband der Kindheit ist von ihm abgefallen: er will auf eigenen Beinen stehen. Dabei aber ist sein metaphysisches Bedürfnis so unvertilgbar, wie irgendein physisches. Dann wird es Ernst mit dem Verlangen nach Philosophie, und die bedürftige Menschheit ruft alle denkenden Geister, die sie jemals aus ihrem Schoß erzeugt hat, an. Mit hohlem Wortkram … ist da nicht mehr auszureichen, sondern es bedarf einer ernstlich gemeinten, d. h. einer auf Wahrheit, nicht auf Gehalte und Honorare gerichteten Philosophie.“ 1

Schopenhauer war offenbar der Überzeugung, dass er mit seiner Philosophie das menschliche Bedürfnis nach Wahrheit befriedigen konnte. Er hatte wohl nicht Unrecht, denn viele Menschen, denen ihr traditioneller Kirchenglauben und mit ihm ihre angestammte Religion verloren gingen, fanden und finden in Schopenhauers Philosophie, insbesondere seiner Metaphysik, Hoffnung und Trost, und zwar ohne – wie in den im Abendland vorherrschenden Religionen – blinden Glauben vorauszusetzen.

Schopenhauer, so berichtete Wilhelm v. Gwinner, der selbst noch den Philosophen persönlich kannte, „legte Wert darauf, daß seine Schriften von Dilettanten und, nach deren Art, mit Enthusiasmus ergriffen wurden: nur bei ihnen hoffte er den zum Verständnisse nötigen Grad von Unbefangenheit und Unabhängigkeit finden zu können, und am meisten freute es ihn, wenn er stets neue Beweise erhielt, daß seine scheinbar irreligiösen Lehren ´als Religion anschlugen` und den leergewordenen Platz des verlorenen Glaubens ausfüllend, zur Quelle innerster Beruhigung und Befriedigung wurden“. 2

Der im obigen Zitat verwendete Begriff „Dilettanten“ ist keinesfalls im abwertenden Sinne zu verstehen. Er bezieht sich lediglich auf Menschen, die nicht Universitätsprofessoren oder andere Berufsphilosophen sind, zumal Schopenhauer denen, die nur von statt für die Philosophie leben, äußerst kritisch gegenüberstand. 3

Schopenhauer sah sich als Philosoph und nicht als Religionsstifter. Daher ist es bemerkenswert, dass er und seine Lehre in Nachschlagewerken über Religion besonders erwähnt werden. So weist zum Beispiel das Wörterbuch der Religionen auf Schopenhauers Nähe zu „buddhistischen Gedanken“ hin, „die wesentlich durch ihn weiteren Kreisen des Abendlandes vermittelt wurden“. 4 Anschließend zitiert das Wörterbuch aus der 2. Auflage von Die Religion in Geschichte und Gegenwart:

„Trotz ihres formellen Atheismus und metaphysischen Pessimismus ist Schopenhauers Philosophie zutiefst religiös-ethische Erlösungslehre.“ 5 Doch ist zu fragen: Wie kann eine Erlösungslehre metaphysisch pessimistisch sein, ist sie nicht vielmehr höchst optimistisch?

Der Buddhismus wird zumeist als Religion und Philosophie verstanden. Schopenhauer sah den Buddhismus in sehr weitgehender Übereinstimmung mit seiner Lehre. Hierzu meinte der Religionswissenschaftler und Indologe Helmuth von Glasenapp: „Gemeinsam ist beiden [also der Lehre Schopenhauers und Buddhas] die Überzeugung, daß das sich beständig erneuernde irdische Dasein einen Läuterungsprozeß darstellt, der schrittweise zur Erlösung führt oder wenigstens führen kann.“ 6 Welch´ein Optimismus!

Inwieweit Schopenhauers Lehre als Philosophie oder Religion verstanden wird, hängt auch von der Definition dieser Begriffe ab. Für viele Anhänger Arthur Schopenhauers ist sie vor allem eine Lebenslehre, oft sogar eine Begleiterin ihres Lebens. Für Thomas Mann, war sie ein bleibendes „Wahrheitserlebnis, so annehmbar, so hieb- und stichfest, so richtig, wie ich es sonst in der Philosophie nicht gefunden habe“. 7 Ja, ein bleibendes Wahrheitserlebnis ist die Bekanntschaft mit Schopenhauers Lehre, mitunter tief bewegend und die Sicht auf Mensch und Welt verändernd – ist es dann noch wichtig, ob man sie Philosophie oder Religion nennt?

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band V: Ueber die vierfache Wurzel vom zureichenden Grunde, Zürich 1977, S. 138 f.
2 Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben, 3. Aufl., Leipzig 1910, S. 393.
3 Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band VII: Parerga und Paralipomena I, Ueber die Universitäts-Philosophie, S. 200.
4 Wörterbuch der Religionen, begr. von Alfred Bertholet in Verb. mit Hans Frhr. v. Campenhausen, 3. Aufl., Stuttgart 1976, Stichwort: Schopenhauer, S. 527.
5 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., V, S .249, zit. nach Wörterbuch der Religionen, Ebd.
6 Helmuth von Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart 1960, S. 94.
7 Thomas Mann, zit. aus: Über Arthur Schopenhauer, hrs. von Gerd Haffmans, Zürich 1977, S. 112.

Guter Charakter ?

Vertrauen, so meinte Arthur Schopenhauer, beruht auf der Unveränderlichkeit des Charakters, wobei „sogar die tägliche Erfahrung uns deutlich lehrt, daß jeder seinen moralischen Charakter schon fertig mit auf die Welt bringt und ihm bis ans Ende unwandelbar treu bleibt“. 1

Wenn der gute Charakter eines Menschen erwiesen ist, so kann man – gemäß Schopenhauer – darauf vertrauen, dass dieser gute Charakter auch in Zukunft erhalten bleibt und sich somit im Wesentlichen nicht negativ entwickeln wird. Dieses Vertrauen ist im Umgang und Zusammenleben mit Menschen von größter Bedeutung.

Leider haben nicht alle Menschen einen guten Charakter. Laut obigem Schopenhauer-Zitat ist das eine Tatsache, die nicht zu verändern ist. Anderseits bekannte sich Schopenhauer als „Buddhaist“ zur Lehre des Buddha. Dieser lehrte den Edlen Achtfachen Pfad, auf welchem eine positive Änderung des Charakters möglich sein soll. 2 Allerdings erfordert eine solche positive Charakterwandlung überaus viel Zeit, denn nach der buddhistischen Lehre vom Karma kann dieser Läuterungsprozess sich über sehr viele Leben erstrecken. 3

Daher ist es eher unwahrscheinlich, dass der Charakter eines Menschen sich innerhalb nur eines Lebens wesentlich verändert. Demnach wäre es nicht ratsam, darauf zu vertrauen, dass kurz- oder mittelfristig aus einem schlechten ein guter Charakter werden wird. Entscheidend ist – wie oft im Leben – auch in dieser Hinsicht gute Menschenkenntnis. Dennoch sind hierbei Enttäuschungen und Irrtümer kaum zu vermeiden, denn der wahre Charakter eines Menschen offenbart sich weniger in guten als vielmehr in schlechten Zeiten, also in Stunden der Not!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VII: Parerga und Paralipomena I, Zürich 1977, S. 141.
2 Vgl. > Schopenhauer und der Edle Achtfache Pfad des Buddha.
3 Die Lehre vom Karma (Sanskrit = Tat) bedeutet (vereinfacht erklärt): „Jede Tat, auch jedes Wort und jeder Gedanke wirkt nicht nur nach außen, auf die Außenwelt, sondern auch nach innen, auf den Täter selbst und hinterläßt in ihm eine Spur. Sie erzeugt die Neigung zur Wiederholung und ruft einen dauernden Zustand in dem Täter hervor. … Wer gut handelt, wird dadurch selbst gut, wer schlecht oder böse handelt, wird dadurch selbst schlecht oder böse. Wie nun der Mensch durch seine Taten, Worte und Gedanken im Augenblick des Todes geworden ist, so wird er … wiedergeboren“ (Kurt Schmidt, Buddhistisches Wörterbuch, Konstanz 1948, S. 48).

Bessere Welt ?

Zu den besonders interessierten Lesern Arthur Schopenhauers gehörte auch einer der Großen der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, nämlich Theodor Fontane. Dieser schrieb gegen Ende seines Lebens das folgende, mich sehr nachdenklich stimmende Gedicht:

Leben; wohl dem, der es spendet
Freude, Kinder, täglich Brot,
Doch das Beste, was es sendet,
Ist das Wissen, daß es endet,
Ist der Ausgang, ist der Tod.
1

Wenn ich diese Zeilen Fontanes lese, fällt mir ein Vers des während des Dreißigjährigen Krieges lebenden Dichters und Aphoristikers Friedrich von Logau ein:

Weißt du, was in dieser Welt
Mir am meisten wohlgefällt?
Daß die Zeit sich selbst verzehret
Und die Welt nicht ewig währet.
2

Ich weiß nicht, ob Schopenhauer diesen Vers kannte. Dennoch glaube ich, dass er ganz in seinem Sinne war, denn Schopenhauer hielt die Welt für einen „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist“. 3

Schopenhauers obige Beschreibung scheint mir nicht unrealistisch, aber vielleicht etwas einseitig zu sein, weil es inmitten dieser Welt des „Fressens und Gefressenwerdens“ auch etwas höchst Positives gibt, das in Schopenhauers Philosophie, insbesondere seiner Ethik, von größtem Wert ist: das Mitleid.

Mitleid sei, so hob Schopenhauer hervor, „ein alltägliches Phänomen und … ganz allein die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Wert.“ 4

Gerade in dieser Hinsicht stand Theodor Fontane der Ethik Arthur Schopenhauers sehr nahe. So schrieb er in einem Brief an seine Tochter:

Schopenhauer hat ganz recht: Das Beste, was wir haben, ist Mitleid. 5

Mitleid mit Mensch und Tier ist eine höchst edle Eigenschaft, die sich während der Evolution herausgebildet hat. Sie führte dazu, dass Mitleid zu einem – laut Schopenhauer – „alltäglichen Phänomen“ wurde. Wenn diese Entwicklung möglich war, besteht dann nicht auch Grund zur Hoffnung auf eine bessere Welt – oder bin ich da zu optimistisch? 6

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Theodor Fontanes Gedicht Leben, zit. aus: Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom, Schopenhauer: gestern – heute – morgen, 4. Aufl., Bonn 1988, S. 299. Weiteres > Fontane : Schopenhauer .
2 Friedrich von Logau, Das Beste der Welt, zit. aus: Deutsche Epigramme aus fünf Jahrhunderten, hrsg. von Klemens Altmann, o. Ort und J. und O. S. 23.
3 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 680.
4 Schopenhauer, Werke, a. a. O., Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik, Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 248.
5 Fontanes Brief an seine Tochter Mete vom 24.08.1893, zit. aus: Hübscher, Denker, a. a. O., S. 297.
6 Das bedeutet nicht, dass sich an dem Prinzip des „Fressens und Gefressenwerdens“, das von Anfang an diese Welt beherrscht, durch die Evolution grundsätzlich noch etwas ändern wird. Auch Schopenhauer glaubte nicht, dass sich unsere Welt von einem „Tummelplatz gequälter Wesen“ gleichsam zu einem Paradies auf Erden wandeln kann. Statt derartigem Wunschdenken zu folgen, endet die Philosophie des „Buddhaisten“ Arthur Schopenhauer mit dem Hinweis auf „das Pradschna-Paramita der Buddhaisten, das Jenseits aller Erkenntnis“, womit letztlich das Nirwana, das Ziel der buddhistischen Erlösungslehre, gemeint ist (s. dazu Schopenhauer, Werke, a. a. O., Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Anm. S. 508). Weiteres > Schopenhauer und Buddhismus .


Getrübte Erkenntnis

Wir nehmen unsere Umwelt nicht so wahr, wie sie ist: Liebe und Hass, Sympathie und Antipathie, Wünsche, Vorurteile, ja sogar gute und schlechte Stimmungen – alle diese und andere Faktoren trüben unsere Anschauung. Da Anschauung die Grundlage aller Erkenntnis ist, wird hierdurch auch unsere Erkenntnis getrübt. Über diesen fundamentalen Zusammenhang schrieb Arthur Schopenhauer:

„Um einzusehn, daß eine rein objektive und daher richtige Auffassung der Dinge nur dann möglich ist, wann wir dieselben ohne allen persönlichen Anteil … betrachten, vergegenwärtige man sich, wie sehr jeder Affekt [d. h. jede heftige Gemütsbewegung] und Leidenschaft die Erkenntnis trübt und verfälscht, ja jede Neigung oder Abneigung nicht etwa bloß das Urteil, nein, schon die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt. Man erinnere sich, wie, wann wir durch einen glücklichen Erfolg erfreut sind, die ganze Welt sofort eine heitere Farbe und eine lachende Gestalt annimmt, hingegen düster und trübe aussieht, wann Kummer uns drückt.“ 1

Getrübte Erkenntnis bedeutet mehr oder weniger falsche Erkenntnis. Diese wiederum kann zu falschen Entscheidungen führen, und zwar mitunter sogar in lebenswichtigen Fragen. Dann ist es, wie Schopenhauer aufgrund seiner Lebenserfahrung meinte, ratsam, möglichst abzuwarten, denn mit den Stunden, Tagen und Jahreszeiten „wechselt, ändert sich unsere Stimmung und Ansicht … Daher erscheint uns dieselbe Sache zu verschiedenen Zeiten, Morgens, Abends, Nachmittags oder am andern Tage oft sehr verschieden“. 2

Wenn wir, so erklärte Schopenhauer weiter, „nach irgendeiner längeren Pause, wie neu und fremd in den alltäglichen Lauf der Dinge dieser Welt schauen und so einen frischen, ganz eigentlich unbefangenen Blick in sie tun, [wird] ihr Zusammenhang und ihre Bedeutung uns am reinsten und tiefsten klar“. Arthur Schopenhauer nannte das den „hellen Augenblick“, das heißt, der Blick und mit ihm die Erkenntnis waren klar, also nicht mehr getrübt. 3

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 442.
2 Ebd., S.160.
3 Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II, S. 59.

Lebensphilosophie und Alltag

Der Wert einer Lebensphilosophie zeigt sich nicht in theoretischen Diskussionen, sondern im Alltag der Menschen, die nach ihr leben. Das gilt besonders auch für Arthur Schopenhauers Philosophie. Deshalb sind Erfahrungsberichte von Menschen, die sich während eines großen Teils ihres Lebens an Schopenhauer orientierten, wichtig und aufschlussreich. Ein Beispiel hierfür ist das Buch des verdienstvollen Schopenhauer-Forschers Arthur Hübscher. Es trägt den bezeichnenden Titel Leben mit Schopenhauer. Dort kam der Verfasser, rückblickend auf sein Leben, zum Ergebnis:

„Ich habe viele Menschen und viel unnützes Gepäck auf meiner Lebensreise zurückgelassen. Schopenhauer habe ich mitgenommen, – er hat mich nie im Stich gelassen. Er wird auch da sein, wenn es an der Zeit ist abzutreten.“ 1

Zum 80. Geburtstag von Arthur Hübscher erschien zu dessen Ehren eine „Festgabe“ unter dem Titel Wege zu Schopenhauer. Dort berichteten Menschen aus sehr unterschiedlichen Berufen und sozialen Schichten, wie sie zu Schopenhauer kamen und welche Bedeutung dieser Philosoph für ihr Leben hatte. So schrieb zum Beispiel eine Theologin:

“ Ich lese Schopenhauer seit einigen Jahren, und er ist mir ein geistiger Vater und Lehrmeister geworden. So viele Gegenstände, über die ich früher falsche oder nur unklare Vorstellungen hatte, fand ich bei Schopenhauer richtig- und klargestellt, wie es mir vorher noch nie begegnet war. Oft hatte ich beim Lesen das Gefühl, ein großer Freund schaffe endlich Ordnung in meinem undeutlichen, von Vorurteilen und Zeitideen vernebelten Gedanken und er lehre mich, die Dinge so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit sind.

Ich möchte einige Gedanken Schopenhauers aufführen, die mich besonders beeindruckt haben:

Philosophie und Theologie sind zwei vollkommen getrennte Gegenstände. – Sehr viele Irrtümer sind mir durch die Erkenntnis erspart geblieben …

Die Natur, so schön wie sie anzusehen ist, wird dadurch aufrechterhalten, daß ein Wesen für das andere Leid bedeuten muß.- Wer in unserer westlichen Kultur spricht so wie Schopenhauer von den Tieren als von unseren leidenden Mitwesen? …

Unglücksfälle sind das Element unseres Lebens. – Diese Worte waren für mich ein Trost, denn sie befreiten mich wenigstens vorübergehend von dem ´Zwang zum Glück`, von der bei uns herrschenden Vorstellung, Wohlergehen sei das Normale und Mißgeschicke seien nur möglichst schnell zu beseitigende Störungen des Normalzustandes …

Die Bekanntschaft mit Schopenhauer hat meine Gedanken und meinen Blick geschärft, aber sie hat mich auch einsam gemacht … Und ich bin auch dem heutigen Zeitgeist fremd geworden, weil Schopenhauer in keinen Zeitgeist paßt, schon gar nicht in den unsrigen …“ 2

Ja, Arthur Schopenhauers Lebensphilosophie kann mitunter zur Vereinsamung im Alltag führen, denn sie ist kein bequemes Anpassen an einen Zeitgeist, dem sich viele, ja vielleicht sogar die meisten Menschen bereitwillig unterwerfen. Doch auch hier gilt die alte Weisheit: Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Arthur Hübscher, Leben mit Schopenhauer, Frankfurt am Main 1966, S. 141.
2 Maria Schmidt in: Wege zu Schopenhauer, Arthur Hübscher zu Ehren, Festgabe zum 80. Geburtstag, hrsg. von CLemens Köttelwesch, Wiesbaden 1978, S. 94 f.


Der Mensch – ein wildes Tier ?

Unter der Überschrift Zur Ethik schrieb Arthur Schopenhauer über den Charakter des Menschen einige bittere Worte, die, wenn auch nicht auf alle, aber leider wohl auf manche, vielleicht sogar auf viele Menschen zutreffen:

„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloß und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist …

Gobineau hat den Menschen das böse Tier genannt, welches die Leute übel nehmen, weil sie sich getroffen fühlen: Er hat aber recht: denn der Mensch ist das einzige Tier, welches Andern Schmerz verursacht, ohne weiteren Zweck, als eben diesen. Die andern Tiere tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes. Wenn dem Tiger nachgesagt wird, er töte mehr, als er auffresse: so würgt er alles doch nur in der Absicht, es zu fressen …

Kein Tier jemals quält, bloß um zu quälen; aber dies tut der Mensch, und dies macht den teuflischen Charakter aus, der weit ärger ist, als der bloß tierische …

Darum fürchten alle Tiere instinktmäßig den Anblick, ja die Spur des Menschen. Der Instinkt trügt hier nicht: denn allein der Mensch macht Jagd auf das Wild, welches ihm weder nützt noch schadet.
Wirklich also liegt im Herzen eines Jeden ein wildes Tier, das nur auf Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es Andern wehe tun und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt; und eben das, welches zu bändigen und einigermaßen in Schranken zu halten die Erkenntnis … stets vollauf zu tun hat.“ *

Der letzte Satz ist, wie mir scheint, etwas zu optimistisch: Allein schon die äußerst blutigen Kriege, die seit Schopenhauers Zeit weltweit zu Tod und Vernichtung führten, zeigen, wie wenig die Erkenntnis die Menschen zu bändigen und in den Schranken zu halten vermochte. Jedenfalls die Erkenntnis, die ich aus dieser Tatsache gewonnen habe, deutet eher darauf hin, dass der Mensch, was Krieg und Aggression angeht, nichts Wesentliches dazu gelernt hat. Die Kriegstechnik ist zwar immer wirkungsvoller geworden, aber der Mensch ist geblieben, wie er schon zur Zeit des englischen Philosophen Thomas Hobbes war: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf!

Der Wolf ist ein wildes Tier, und der Mensch mag mitunter auch ein wildes Tier sein. Jedoch wie ein böses Tier kann der Mensch nicht sein, denn es gibt zwar gefährliche, aber keine „bösen“ Tiere!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkung
* Aus: Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IX: Parerga und Paralipomena II, Kap. 8: Zur Ethik, S. 230 ff.

All-Einheit und Vielfalt der Natur

Die Fähigkeit zur Philosophie, so meinte Arthur Schopenhauer bestehe im Erkennen des Einen im Vielen und des Vielen im Einen. 1

Um die überaus erstaunliche Vielfalt der Lebensformen in der Natur zu erkennen, bedarf es keiner besonderen Bemühungen. Sie ist augenscheinlich. Darin aber irgendeine „Einheit“ oder sogar „All-Einheit“ zu erkennen, ist schon weit schwieriger:

Die Fähigkeit des Menschen, seine Umwelt wahrzunehmen, ist vor allem auf die Erhaltung seines Lebens ausgerichtet. Deshalb sind die menschlichen Sinne dazu bestimmt, die Natur möglichst in ihrer ganzen Vielheit zu erfassen und so auch drohende Gefahren zu erkennen.

Dennoch gab es schon in alten Kulturen Menschen, die sich mit dieser, auf die bloße Lebenserhaltung beschränkte Naturerkenntnis nicht begnügen wollten, ja die sich sogar wunderten über die Natur, die Welt und ihr eigenes Dasein. Schopenhauer sah in dieser „Verwunderung“ den Ursprung der Philosophie. 2

So war es schon im alten Indien. Dort lebten in den Urwäldern, umgeben von einer prachtvollen Vielfalt der Natur, weise Einsiedler und Asketen, die sich fragten: Was verbirgt sich hinter dieser unüberschaubaren Vielfalt? Liegt dieser Vielheit vielleicht sogar eine allumfassende Einheit zugrunde? Die Antwort auf solche und ähnliche Fragen ist in den altindischen Upanishaden überliefert. Es ist die Lehre von der All-Einheit. Der Indologe Helmuth von Glasenapp schrieb hierzu in seiner Philosophie der Inder:

„Das Hauptanliegen der bedeutendsten Texte, die in einer Upanishad gesammelt sind, ist … die Darstellung einer All-Einheitslehre, für welche das Brahma [Brahman] oder der Atman die letzte Essenz des Weltalls und jedes Einzelwesens ist. Auf diesen Abschnitten, in denen eine tiefsinnige Mystik zum Teil in sinnvollen Gleichnissen einen ebenso lebendigen wie erhabenen Ausdruck findet, beruht der Ruhm der Upanishaden und zugleich ihre hohe geistesgeschichtliche Bedeutung: sie sind die Grundwerke, auf denen sich bis heute alle System aufbauen, die sich Vedanta nennen …“ 3

Brahman wird oft mit Weltseele und Atman mit Einzelseele übersetzt. Doch eigentlich ist, wie der Indologe Heinrich Zimmer meinte, Brahman „kein Wort, das einfach übersetzt werden kann“. 4 Laut Zimmer ist der Begriff Brahman die „seit den vedischen Zeiten bis zum heutigen Tage die unvergleichlichste, bedeutendste Konzeption der Hindu-Religion und -Philosophie gewesen“.

Das Brahman, so erklärte Zimmer weiter, sei „die höchste, letzte transzendente Kraft, die den sichtbaren und greifbaren Schichten unseres Wesens innewohnt, transzendiert sowohl den sogenannten ´grobstofflichen Leib` wie die Innenwelt … Als die Macht, welche alle Dinge des Mikrokosmos wie auch die Außenwelt durchdringt und belebt, ist sie … identisch mit dem Selbst (atman) – dem höheren Aspekt dessen, was wir im Westen, ohne Unterscheidungen zu machen, Seele nennen“. 5

Schopenhauer war sich der zentralen Bedeutung des Begriffes Brahman in der indischen Philosophie wohl bewusst. Er sah im Begriff Brahman eine grundlegende Übereinstimmung mit seiner Philosophie, nach welcher sich ein metaphysischer „Wille“ in allen Erscheinungsformen dieser Welt manifestiert. So suchte er in allen Veröffentlichungen, die ihm zugänglich waren, Bestätigung, dass dieser Wille identisch ist mit dem, was in der von ihm hochgeschätzten Vedanta-Philosophie Brahman genannt wird. 6 Da dieser metaphysische „Wille“ laut Schopenhauer besonders deutlich als Wille zum Leben erscheint und dieser in allen Lebewesen existiert, ist jedes Leben – trotz äußerlichen Unterschiede – mit jedem anderen im innersten Wesen identisch.

Die in der Vielfalt der Natur verborgene All-Einheit wurde in Indien schon vor weit mehr als zwei Jahrtausenden erkannt. Über die Weisen, die zu dieser zutiefst spirituellen Erkenntnis kamen, schrieb Schopenhauer mit Worten der Bewunderung, dass sie „dem Urquell der organischen Natur bedeutend näher standen, als wir, … wodurch sie einer reineren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Natur fähig“ waren. So seien in den Rishis, also den Weisen des alten Indiens, „die fast übermenschlichen Konceptionen, welche später in den Upanischaden der Veden niedergelegt wurden“, entstanden. 7

Schopenhauers Bewunderung ist verständlich, denn er konnte seine Philosophie in Übereinstimmung mit der All-Einheitslehre der altindischen Upanishaden sehen und sich so bestätigt finden. Die Erkenntnis von der All-Einheit der Natur hat jedoch weit mehr als nur philosophisch-theoretische Bedeutung: Menschen, die von dieser Erkenntnis durchdrungen sind, haben ein positives Verhältnis zur Natur und sehen in allem Leben, also auch in Tieren und Pflanzen, nicht bloß Objekte der Ausbeutung. Sie neigen zu einem schonenderen Umgang mit der Natur, mit menschlichem und nichtmenschlichem Leben. Für Arthur Schopenhauer war die Erkenntnis von der All-Einheit der Natur die philosophische Grundlage seiner auch die Tiere einbeziehenden Ethik. 8

H.B.

Weiteres zu > Schopenhauer und die > All-eins-Lehre
sowie den > Upanishaden.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zürich 1977, S. 124.
2 Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt als Wille … II, S. 199.
3 Helmuth von Glasenapp, Die Philosophie der Inder, Stuttgart 1974, S. 38.
4 Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, Zürich 1973, S. 79.
5 Ebd., S. 83.
6 Vgl. Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 4, I, München 1985, S. 125 und 143.
7 Schopenhauer, a. a.O., Band III: Die Welt als Wille … II, S. 189.
8 Schopenhauer, a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II, Kap. 8: Zur Ethik, S. 239.
Weiteres > Upanishaden : Tat twam asi .

Buddhas Ethik : Metta – die Herzensgüte

Metta – dieses altindische Pali-Wort ist für die Ethik des Buddha von zentraler Bedeutung. Der aus Deutschland stammende buddhistische Mönch Nyanatiloka übersetzte es mit Allgüte. 1 Das deutet schon auf ein wesentliches Kennzeichen der buddhistischen Ethik hin, nämlich dass sich diese Güte auf alles Leben bezieht. Für Arthur Schopenhauer war das eine der wichtigsten Gründe, warum er die Ethik des Buddhismus besonders hoch schätzte. So hob er in seinen Schriften lobend hervor, dass sie im Gegensatz zur christlichen Ethik auch die Tiere unter ihren Schutz nimmt.

Das zeigt sich deutlich in Buddhas Rede über die Güte. Sie wird Mettasutta genannt und ist Teil des buddhistischen Pali-Kanons. Die folgenden Verse aus dem Mettasutta widerspiegeln, wie ich meine, höchst eindrucksvoll den Geist der buddhistischen Ethik:

Die Lebewesen groß und klein,
Ihr Leib sei grob, ihr Leib sei fein,
Sie sei´n beweglich oder nicht,
Ob sichtbar oder außer Sicht,
Von dieser oder jener Art,
In Zukunft oder Gegenwart:
Es werde allen höchstes Heil
Und ihres Herzens Glück zuteil!

Die Mutter schützt den eig´nen Sohn,
Auch wenn ihr Todesqualen drohn.
Solch einer wahren Liebe Geist
Zeigt allem, was lebendig heißt!

Ein Wohlwollen, das unbeschränkt
Entfaltet still in euch versenkt,
Von Haß und aller Feindschaft frei,
Nach welcher Seite es auch sei.
2

Das Mettasutta wird täglich von den buddhistischen Mönchen und oftmals auch von anderen Buddhisten rezitiert. Schon das beweist die große Bedeutung, die das Mettasutta im buddhistischen Leben hat.

Völlig anders hingegen, jedenfalls was Tiere angeht, im Christentum: Bei meinen Recherchen zu buddhistischen und christlichen Klöstern bin ich auf die Klostermetzgerei der Benediktinerabtei Münsterschwarzach gestoßen. Das Bild auf deren Webseite war für mich, zumal als Veganer, sehr unerfreulich. 3 Um so mehr konnte ich mich über ein anderes Bild im Web freuen, und zwar von einem Tierschutzverein, der dem Buddhismus nahesteht und den aufschlussreichen Namen trägt: Lasst die Tiere leben: 4

Einerseits christliche Klosterschlächterei und anderseits buddhistisch inspirierter Tierschutzverein – welch` ein Gegensatz! 5

Metta wird, wie ich eingangs erwähnte, mit Güte übersetzt. Doch was bedeutet hier Güte? Für den „Buddhaisten“ Arthur Schopenhauer war es die Herzensgüte, die er und ganz im Sinne von Buddhas Ethik beschrieb:

„Die Güte des Herzens besteht in einem tiefgefühlten, universellen Mitleid mit allem, was Leben hat … Wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blaß und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens … Sogar der beschränkteste Verstand, wie auch die groteske Häßlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich in ihrer Begleitung kundgetan, gleichsam verklärt, umstrahlt von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muß.“ 6

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier
sowie zum > Buddhismus.

Anmerkungen
1 Nyanatiloka, Buddhistisches Wörterbuch, 2. Aufl., Konstanz 1976, S. 128.
2 Suttanipata 146 ff., zit. aus: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte, übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln 1974, S. 96.
3 >Webseite (archiv. 08.08.2023)
4 Der folgende Bildausschnitt ist aus Instagram (aufgen. 11.08.2023).
5 Der Gegensatz zwischen christlicher und buddhistischer Ethik ist, was Tiere betrifft, auch durch keine Schönrederei zu überbrücken. Das kommt sehr deutlich zum Ausdruck beim > Edlen Achtfachen Pfad, zu dem der rechte Lebenserwerb gehört. Hiernach zählt der Handel mit Lebewesen und Fleisch zu den „verwerflichen Berufen“ und gelten Schlächter als „Nächstenquäler“, die „grausames Handwerk“ betreiben (> Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung, aus dem Pali übers. und hrsg. von Nyanatiloka, 3. Aufl., Köln 1969, Band III: Fünfer-Buch,177, S. 119 und Band II: Vierer-Buch, 198, S. 173).
6 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik / Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 294 und Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 271.

Glaubenszwang und Glaubensfreiheit

Der Glaube, so meinte Arthur Schopenhauer, ist wie die Liebe: er läßt sich nicht erzwingen. Daher ist es ein mißliches Unternehmen, ihn durch Staatsmaaßregeln einführen, oder befestigen zu wollen: denn, wie der Versuch, Liebe zu erzwingen, Haß erzeugt; so der, Glauben zu erzwingen, erst rechten Unglauben. 1

Liebe lässt sich zwar ebenso wenig wie Mitleid erzwingen, aber wie ist das mit dem Glauben? Gibt es nicht unzählige, zum Teil sehr schreckliche Beispiele aus der Geschichte, die beweisen, wie Religionen und andere Weltanschauungen den Völkern aufgezwungen wurden? Bei den ersten Generationen, die dem Glaubenszwang unterworfen wurden, mag dieser Zwang vielleicht nur wenig erfolgreich gewesen sein, doch in späteren Generationen konnte die ständige, oft mit Gewalt verbundene Indoktrination durchaus zum Glauben im Sinne der Machthaber geführt haben. Die gewaltsame christliche Missionierung im mittelalterlichen Europa und später in Lateinamerika oder die Islamisierung weiter Teile Asiens einschließlich Indiens sind hierfür aufschlussreiche Beispiele.

Solche Beispiele für Glaubenszwang lassen sich aber nicht auf alle Religionen übertragen. So gehört zu den Ausnahmen der von Schopenhauer hochgeschätzte Buddhismus. Dieser allerdings ist nicht nur eine Religion, sondern auch eine Philosophie, bei der es statt auf bloßem Glauben vor allem auf eigene Erkenntnis ankommt. Erkenntnis jedoch lässt sich nicht aufzwingen, sondern es kann – wenn überhaupt – nur der Weg aufgezeigt werden, der zur Erkenntnis führt, wie etwa der buddhistische Edle Achtfache Pfad, den der Religionswissenschaftler Helmuth von Glasenapp Pfad zur Erleuchtung nannte.2

Schopenhauer hat mit Bezug auf die vorherrschenden monotheistischen Religionen den zu seiner Zeit üblichen Glaubenszwang als „Abrichtung“ von Menschen angeprangert. 3 Dabei stand er ganz auf Seiten der Aufklärung, jener geistigen Strömung, die sich entgegen der damals fast allmächtigen Staatsreligion für die Freiheit des Glaubens einsetzte.

Es ist der Aufklärung zu verdanken, dass inzwischen, zumindest in der westlichen Welt, Glaubensfreiheit als Menschenrecht weitgehend anerkannt wurde. Hierzu hat auch Arthur Schopenhauer mit seiner Philosophie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier
sowie zum > Buddhismus .

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 15. Ueber Religion, Zürich 1977, S. 432.
2 Pfad zur Erleuchtung, so lautet der Titel eines Buches, das Helmuth von GLasenapp herausgegeben hatte (Düsseldorf/Köln 1956, Neuausgabe 1974) und von ihm übersetzte buddhistische Grundtexte enthält. Weiteres > Edle Achtfache Pfad des Buddha.
3 Siehe dazu > Religion – ein Meisterstück der Abrichtung?

Was ist das Leben?

Zur Frage, was das Leben sei, gibt es viele und durchaus sehr unterschiedliche Antworten. Eine, die mir besonders einleuchtend erscheint, ist die von Arthur Schopenhauer:

“ Das Leben ist durchaus anzusehn als eine strenge Lektion, die uns ertheilt wird, wenngleich wir, mit unsern auf ganz andere Zwecke angelegten Denkformen, nicht verstehn können, wie wir haben dazu kommen können, ihrer zu bedürfen. Demgemäß aber sollen wir auf unsere hingeschiedenen Freunde zurücksehn mit Befriedigung, erwägend, daß sie ihre Lektion überstanden haben, und mit dem herzlichen Wunsch, daß sie angeschlagen habe; und vom selben Gesichtspunkt aus sollen wir unserm eigenen Tode entgegensehn, als einer erwünschten und erfreulichen Begebenheit; — statt, wie meistens geschieht, mit Zagen und Grausen.“ 1

Haben „unsere dahingeschiedenen Freunde“ wirklich „ihre Lektion überstanden“? Zu wünschen wäre das, doch Zweifel sind angebracht, denn Schopenhauer war überzeugt: Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiss! 2 Wenn dem so wäre, dann würde nach dem Tod ein neues Leben und damit auch eine neue Lektion beginnen. Das entspräche wohl auch dem, was in den von Schopenhauer hochgeschätzten, in Indien entstandenen Religionen gelehrt wird, nämlich die Lehre von Karma, Seelenwanderung und Wiedergeburt.

Die Aussicht auf Wiedergeburten und neuen „strengen Lektionen“ mag zwar nicht unbedingt erfreulich sein, eröffnet aber andererseits auch die Chance zur Läuterung. In dieser Hinsicht stimmt der alte Buddhismus mit Arthur Schopenhauer überein. Hierzu schrieb der weithin als kompetent anerkannte Indologe und Religionswissenschaftler Helmuth von Glasenapp:

„Gemeinsam ist beiden [also der Lehre des Buddha und der Schopenhauers] auch die Überzeugung, daß das sich beständig erneuernde irdische Dasein einen Läuterungsprozeß darstellt, der schrittweise zur Erlösung führt oder wenigstens führen kann.“ 3 Welch´ eine optimistische Deutung des Lebens!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier
s
owie zum > Buddhismus.

Anmerkungen
1
Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IX: Parerga und Paralipomena II, Zürich 1977, S. 350.
2 Schopenhauer , a. a.O., Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 347 f.
3 Helmuth von Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart1960, S. 94.

Philosophie und blinder Glaube

Philosophie als eine Wissenschaft hat laut Arthur Schopenhauer „durchaus nichts damit zu tun, was geglaubt werden darf, oder soll, oder muß; sondern bloß damit, was sich wissen läßt … Ist man aber etwa überzeugt, daß die ganze und volle Wahrheit in der Landesreligion enthalten und ausgesprochen sei; nun, so halte man sich daran und begebe sich alles Philosophierens“.1 Dementsprechend hat Schopenhauers Philosophie nichts mit blindem Glauben zu tun, sondern mit Wissen, insbesondere mit den Grenzen des Wissens, also mit Erkenntnis und deren Wurzeln.

Alle tiefe Erkenntnis, sogar die eigentliche Weisheit, so meinte Schopenhauer, wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge.2

Die Anschauung ist jedoch nur dann das Tor zur Weisheit, wenn sie nicht durch Wollen, Wünsche, Zwecke, Ziele und dergleichen getrübt wird, wenn sie also reine Anschauung ist. Eine solche reine Anschauung ist aber nicht der normale Zustand des Anschauens, sondern eher die Ausnahme. Schon der Dichter Friedrich von Logau, der etwa zweihundert Jahre vor Schopenhauer lebte, wusste das, denn er schrieb:

Was wir sehen in der Welt, sehen alles wir durch Brillen;
Gut- und Böses wird ersehn, wie es vorkommt unsrem Willen.
3

Erkenntnis durch reine Anschauung – die Möglichkeit steht zwar allen offen, doch die Frage ist, ob die Menschen auch gewillt sind, von ihr Gebrauch zu machen. Der von Schopenhauer als „Muster eines Selbstdenkers“ hochgeschätzte Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg hatte wohl Zweifel, denn er meinte:

Man spricht viel von Aufklärung, und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?4

Hier gilt dann das Sprichwort: Keiner ist so blind wie der, welcher nicht sehen will.

Wer aber nicht sehen will, dem ist der Weg zur Erkenntnis verschlossen. Oft ist es dann blinder Glaube, der das Bemühen um eigene Erkenntnis zu ersetzen scheint. Das mag besonders auf manche Religionen zutreffen, in denen blinder Glaube an religiöse Dogmen von früher Kindheit an gleichsam eingeimpft wird. Schopenhauer nannte das „Abrichtung“, wobei er sogar meinte, dass an „Abrichtungsfähigkeit“ der Mensch alle Tiere übertreffen würde.5

Völlig anders hingegen in dem von Schopenhauer hochgeschätzten Buddhismus. Dort kommt es nicht auf blindem Glauben, sondern auf eigene Erkenntnis an, denn so heißt es zum Beispiel in einer „Lehrrede“ des Buddha:

Richtet euch nicht nach bloßem Hörensagen, nach heiligen Überlieferungen – sondern was ihr selbst als richtig oder schlecht erkannt habt, das nehmt an oder gebt auf. 6

Den Weg zu einer solchen „richtigen“ Erkenntnis sah Arthur Schopenhauer im Buddhismus. In einem Gespräch meinte er: Wenn man den Buddhaismus aus seinen Quellen studiert, da wird es einem hell im Kopfe.7 Ein „heller Kopf“ ist jedoch Voraussetzung jedes Philosophierens, den blinden Glauben aber überlasse man der Religion, die es nötig hat.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier
sowie zum Thema > Buddhismus .

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VII: Parerga und Paralipomena I, Zürich 1977, S. 161.
2 Schopenhauer , a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 448.
3 Deutsche Epigramme aus fünf Jahrhunderten, hrsg. von Klemens Altmann, o. J. und O., S. 24.
4 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch L, 1796-1799.
5 Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 655.
6 Anguttara-Nikaya 3,65,8, gekürzt zit. aus: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte, übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln 1974, S. 57 f.
7 Arthur Schopenhauer , Gespräche, neue Ausg. hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 104.

Die Upanishaden – Quelle altindischer Weisheit

Die Upanishaden waren nicht nur die Quelle der Weisheit im alten Indien, sondern auch die der Philosophie Schopenhauers. Ohne die Upanishaden, so schrieb Arthur Schopenhauer, wäre seine Lehre nicht entstanden. Er erwähnte in diesem Zusammenhang zwar auch Kant und Platon, die Upanishaden aber standen für ihn an erster Stelle. 1

Die altindischen Upanishaden sind auch heute noch die Grundlage der Philosophie des Hinduismus. Sie sind – laut dem Religionswissenschaftler und Indologen Helmuth von Glasenapp – Schriften „mystischen Inhalts, welche höhere Erkenntnisse über Gott, Welt und Seele überliefern“. 2 Die ältesten von ihnen entstanden vermutlich zwischen 1000 und 500 v. Chr., also noch vor der Zeit des Buddha.

Somit vollzog sich etwa während dieser Zeit der Übergang von der Magie zur Philosophie. Das bisher allein vorherrschende Opferwesen mit Zauberriten und Zaubersprüchen wurde mehr und mehr abgelöst von der Suche nach der Wahrheit. Es trat, so meinte v. Glasenapp, „immer deutlicher das Bestreben hervor, durch die Hüllen der Ritualwissenschaft hindurch zu philosophischen Erkenntnissen vorzudringen.

In oft noch recht schwerfälliger und unbeholfener Weise wird der Versuch gewagt, das Jenseitige, das hinter der Welt ist, zu erforschen. Dann erscheint alle Opferweisheit als eine niedere, vorbereitende Wissenschaft; die höhere Erkenntnis, um derentwillen Könige den Weisen Tausende von Rindern schenken, um derentwillen Hausväter ihren Besitz aufgeben und in den Wald hinausgehen, ist das Wissen um das, was den Kern alles Daseins ausmacht, um das Brahma [Weltseele] oder den Atman [Einzelseele].

Noch weiß die Sprache nicht diesen höchsten Begriff in voller Abstraktheit zu fassen, noch vermag das Denken nicht zwischen Geist und Materie einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen, aber doch leuchtet schon überall die erhabene Größe des Alleinheitsgedanken hervor.

In Gleichnissen wie dem vom Tonklumpen, durch den alles Tönerne begriffen wird, weil es eine Umformung von Ton darstellt, oder von dem gespaltenen Kern des Feigenbaums, in dem die unsichtbare feine Substanz das alldurchdringende, alles durchwebende Ens realissimum [das allerrealste Wesen, der Inbegriff der Realität] darstellt, wird das Geheimnis gelehrt, das in den ´großen Worten` gipfelt, Ich bin das Brahma, und das bist du (tat tvam asi). 3 In vollem Bewußtsein der Undefinierbarkeit des Ewigen wird von ihm ausgesagt, daß Worte es nicht zur erklären vermögen (neti, neti) und daß keinerlei irdische Bestimmungen auf es Anwendung finden …

Es war nicht bloßer, kühler Wissensdrang, der sie [die Wahrheitssucher der Upanishaden] veranlaßte, nach dem zu fragen, was allem zugrunde liegt, sondern sie verfolgten zugleich ein praktisches Ziel. Dieses Ziel aber war gegeben durch die neue Wertung des irdischen Daseins und die neuen eschatologischen [auf die letzten Dinge gerichteten] Anschauungen, die in dieser Zeit hervortraten.

Dem grübelnden Denker hatte sich die bange Frage was ist nach dem Tode, welche die lebensfreudigen Dichter der Hymnenzeit [also vor den Upanishaden] nur selten gestellt, mit immer wuchtigerer Gewalt aufgedrängt. In der Brihadaranyaka-Upanishad (3,2.13) gab Yajnavalkya, die erhabenste Sehergestalt, die uns in den Upanishaden entgegentritt, eine Antwort, die für die ganze Folgezeit den Ausschlag gab: Gut wird einer durch gutes Werk, böse durch böses, und in dem selben Text (6,2,15) und Chandogya-Upanishad (5,10) wird dann die große Lehre von der Wiedergeburt auseinandergesetzt …“ 2

Schopenhauer war von den Upanishaden tief beeindruckt. Dementsprechend bezog er sie in seine Philosophie ein. Hierbei wies er darauf hin, dass die in den Upanishaden enthaltene (oben erwähnte) „große Wahrheit“ des Tat-tvam-asi, vom Volke nicht verstanden werde. Deshalb könne sie von diesem nur als Mythos verkleidet aufgenommen werden, und das sei der Mythos von der Seelenwanderung: „Er lehrt, daß alle Leiden, welche man im Leben über andere Wesen verhängt, in einem folgenden Leben auf eben dieser Welt, genau durch die selben Leiden wieder abgebüßt werden müssen; welches so weit geht, daß wer nur ein Tier tötet, einst in der unendlichen Zeit auch als eben ein solches Tier geboren werden und den selben Tod erleiden wird … Als Belohnung aber verheißt er dagegen Wiedergeburt in besseren, edleren Gestalten, als Bramane [Priester], als Weiser, als Heiliger …
Nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigen zugänglichen, philosophischen Wahrheit enger anschließen, als diese uralte Lehre des edelsten und ältesten Volkes.“ 4

Ob diese Lehre der Upanishaden esoterisch, also nur wenigen Ausgewählten, als Tat-tvam-asi oder exoterisch und damit allgemeinverständlich als Seelenwanderung vermittelt wird, ändert nichts an der Bedeutung, die sie für Schopenhauer hatte, nämlich als die lebendige Erkenntnis der ewigen Gerechtigkeit. 4 So ist es dann verständlich, wenn die Weisheit der altindischen Upanishaden zu einer Quelle des Trostes und der Hoffnung im Leben des Philosophen Arthur Schopenhauer wurde.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie sowie den Upanishaden > hier.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. v. Arthur Hübscher, Band. 1, München 1985, S. 422.  
Schopenhauer nannte zwar die Upanishaden noch vor Kant. Dennoch beruht seine Philosophie nicht auf den Upanishaden, sondern auf der von Kant. Er sah sich als Vollender von Kants Philosophie und war hocherfreut, dass – wie er meinte – seine Philosophie im Ergebnis mit den indischen Philosophien (Upanishaden bzw. Vedanta und Buddhismus) weitgehend übereinstimmt.    
2 Helmuth von Glasenapp, Die Literaturen Indiens, Stuttgart 1961, S. 79 ff.
3 S. hierzu auch Das Tat-tvam-asi – die Grunderkenntnis der Upanishaden > Blogbeitrag.
Auf dieser Grunderkenntnis beruht Schopenhauers Ethik, und zwar einschließlich seiner Tierethik. Sie begründet seine Aussage über die Wesensgleichheit von Mensch und Tier, „jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit, daß die Tiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, wie wir“ (> Blogbeitrag).
4 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zürich 1977, S. 442 ff.
In dem von Schopenhauer oben beschriebenen Mythos der Seelenwanderung kommt auch die enge und untrennbare Verbindung von Mensch und Tier zum Ausdruck. Schon in dieser Hinsicht zeigt sich der fundamentale Unterschied zu den im Abendland vorherrschen Religionen, den Schopenhauer in seiner Philosophie mehrmals deutlich hervorgehoben hat.
S. dazu auch: Unsterbliche Seele in Mensch und Tier ?

Mehr Schopenhauer lesen!

Zu den vielen von Arthur Schopenhauer tief beeindruckten Lesern gehörte auch Kurt Tucholsky, der in einem Brief schrieb:

„Es ist gar nicht einzusehen, warum Du nicht viel mehr Schopenhauer liesest. Was an dem System wahr ist und ob nicht … das kann ich nicht beurteilen. Aber es fällt eine solche Fülle von klugen und genialen Bemerkungen dabei ab, fast alle klassisch zu Ende formuliert, niemals langweilig, … das ganze durchblutet von einem so starken Temperament. – das solltest Du immerzu lesen. Parerga und Paralipomena und, wenn Du Dich an das Hauptwerk nicht herantraust, dann jedenfalls viele kleine Nebenwerke. Es sind auch medizinische Sachen darin, die Dich sehr interessieren werden. Der Mann hat Anatomie studiert und Psychologie vor allem – er wußte, was er schrieb.“ 1

Schopenhauer war nicht nur ein sehr tiefgründiger Philosoph, sondern – was selten ist – zugleich auch ein geradezu begnadeter Schriftsteller. So sind es „die schriftstellerischen Qualitäten Schopenhauers, die es so schwierig machen, über ihn zu schreiben, ohne ihn, der fast alles besser gesagt hat, im Wortlaut zu zitieren“. 2

Klarheit, Verständlichkeit und Schnörkellosigkeit der Schreibweise seien erste Philosophenpflicht, schrieb der Philosoph Dieter Birnbacher in seinem Schopenhauer-Buch, aus dem auch das obige Zitat stammt.

Schopenhauer hielt sich an diese „erste Philosophenpflicht“, wobei er meinte, gute Schriftsteller seien bestrebt, sich immer auf die natürlichste und einfachste Weise auszudrücken; schlechte hingegen würden ihre alltäglichen Gedanken in pomphafte Phrasen kleiden und recht dunkel schreiben, damit der Schein entstehe, der Schreiber hätte mehr Tiefe und Verstand als der Leser. 3

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Brief vom 5.8.1935, zit. aus: Über Arthur Schopenhauer , hrsg. von Gerd Haffmans, 2. Aufl., Zürich 1978, S. 266 f.
2 Dieter Birnbacher, Schopenhauer, Stuttgart 2009, S. 24.
3 Schopenhauer-Register von Gustav Friedrich Wagner, neu hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, S. 370.

Schopenhauer : Beglückende Heiterkeit

Eindrucksvoll wie kaum ein anderer weltberühmter Philosoph hat Arthur Schopenhauer das Leid von Mensch und Tier beschrieben. Deshalb ist es vielleicht überraschend, dass Schopenhauer eine Eigenschaft besonders positiv hervorgehoben hat, die leider eher selten in Erscheinung tritt, weil das leidvolle Leben wenig Anlass für sie gibt – die Heiterkeit! Sie kann nicht nur das Leben erleichtern, sondern laut Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit sogar „beglückend“ sein:

„Was nun aber, von jenen allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die Heiterkeit des Sinnes: denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist, hat allemal Ursache es zu sein: nämlich eben diese, dass er es ist.

Nichts kann so sehr, wie diese Eigenschaft, jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei jung, schön, reich und geehrt; so fragt sich, wenn man sein Glück beurteilen will, ob er dabei heiter sei: ist er hingegen heiter; so ist es einerlei, ob er jung oder alt, gerade oder bucklig, arm oder reich sei; er ist glücklich …

Dieser wegen also sollen wir der Heiterkeit, wann immer sie sich einstellt, Tür und Tor öffnen: denn sie kommt nie zur unrechten Zeit; statt dass wir oft Bedenken tragen, ihr Eingang zu gestatten, indem wir erst wissen wollen, ob wir denn auch wohl in jeder Hinsicht Ursache haben, zufrieden zu sein; oder auch, weil wir fürchten, in unsern ernsthaften Überlegungen und wichtigen Sorgen dadurch gestört zu werden: allein was wir durch diese bessern ist sehr ungewiss; hingegen ist Heiterkeit unmittelbarer Gewinn.“ *

H.B.


* Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 354.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie >hier.

Schopenhauer und der Edle Achtfache Pfad des Buddha

Arthur Schopenhauer verehrte den Buddha als den Siegreich-Vollendeten, nannte sich Buddhist und den Buddhismus unsere allerheiligste Religion. 1 Daher liegt es nahe, im Zusammenhang mit Schopenhauers Lebensphilosophie auf den Edlen Achtfachen Pfad hinzuweisen, denn dieser steht im Mittelpunkt des buddhistischen Lebensweges.

Der Edle Achtfache Pfad ist die letzte der Vier Edlen Wahrheiten, die der Buddha bereits in seiner ersten öffentlichen Predigt in Benares verkündet hatte. Bei diesen Wahrheiten geht es um das Leid, seine Ursachen und den Weg zu seiner Überwindung – einen Weg, den der Buddha nach den alten überlieferten Schriften nicht nur verkündete, sondern auch vorlebte. Er wird auch mittlerer Weg genannt, weil er die beiden Extreme, nämlich Selbstpeinigung und Ausleben sinnlicher Genüsse, vermeidet.

Der Edle Achtfache Pfad besteht aus acht Stufen: 1. rechte Anschauung, 2. rechte Gesinnung, 3. rechtes Reden, 4. rechtes Handeln, 5. rechtes Leben, 6. rechtes Streben, 7. rechtes Überdenken, 8. rechtes Sich-Versenken. 2 Dieser Weg wird im Pfad zur Weisheit (Dhammapada), der ältesten Spruchsammlung buddhistischer Weisheiten, mit den Worten zusammengefasst:

Vermeide jede böse Tat,
Vermehre guter Werke Saat,
Beständig läutere den Geist,

Das ist der Weg, den Buddha weist. 3

Die ersten beiden Zeilen des obigen Verses betreffen die buddhistische Ethik. Nach Meinung des Indologen und Religionswisenschaftlers Helmuth von Glasenapp, würde sich diese „in völliger Harmonie“ mit der Schopenhauers befinden. 4

In diesem Zusammenhang wies von Glasenapp auf ein lateinisches Zitat hin, auf das sich Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral oftmals bezog und in deutscher Übersetzung lautet:

Verletze niemanden; vielmehr hilf allen, soviel du kannst. 5

Hierzu ein persönliches Wort zur Praxis dieser Ethik: Schopenhauer hat in seinen Schriften mehrmals sehr deutlich hervorgehoben, dass in seine Ethik und in die des Buddha – im Gegensatz zur Ethik der im Abendland vorherrschenden Religionen – auch die Tiere einbezogen sind. „Verletze niemanden“ bezieht sich somit auch auf das Verhältnis von Mensch und Tier. Bedeutet nicht dieser hohe ethische Anspruch, wenn er konsequent in das tägliche Leben umgesetzt wird, die Notwendigkeit, vegan zu leben, also alle tierische Produkte, soweit möglich, zu meiden?

So zitierte der buddhistische Autor Hellmuth Hecker in seinem Buch Die Ethik des Buddha einen Vierzeiler von Eugen Roth:

Es denkt der Mensch zufrieden froh:
Ich bin kein Schlächter, blutig roh;
doch da der Mensch kein Wurstverächter,
so trägt die Mitschuld er am Schlächter.
6

Die Lehre des Buddha geht davon aus, dass jede ethisch gute oder böse Tat, wozu auch das Schlachten von Tieren gehört, eine den Menschen prägende geistige Spur hinterlässt. Dementsprechend sind die heilsamen oder unheilsamen Auswirkungen auf dem buddhistischen Heilsweg, dem Edlen Achtfachen Pfad, und zwar sei es im gegenwärtigen oder in einem der künftigen Leben.

Somit kommt es entscheidend auf die Praxis an, denn was nützt ein solcher Pfad, wenn über ihn nur philosophiert, er aber nicht beschritten wird? Es ist wie bei der Weisheit, über die Arthur Schopenhauer schrieb: Die Weisheit, welche in einem Menschen nur theoretisch da ist, ohne praktisch zu werden, gleicht einer gefüllten Rose, welche durch Farbe und Geruch, Andere ergötzt, aber abfällt, ohne Frucht angesetzt zu haben. 7

Die „Frucht“ des Edlen Achtfachen Pfades ist die Erlösung von allem Leid oder – wie es Arthur Schopenhauer nannte – vom Jammer des Lebens. 8 Welch´ ein Optimismus!

H.B.

Weiteres > Leid und Erlösung
sowie zum > Buddhismus und zu > Schopenhauer .

Anmerkungen
1 S. hierzu Schopenhauers Briefe vom 2. Januar 1852 und 13. Mai 1856 an Julius Frauenstädt, in: Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 273 und 391; Gespräch mit Carl Georg Bähr am 1. Mai 1858, in: Arthur Schopenhauer , Gespräche, neue Ausgabe, hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 244.
2 Helmuth von Glasenapp, Die Weisheit des Buddha, Wiesbaden o. J., S. 126.
S. auch Einführung in die Vier Edlen Wahrheiten des Buddha mit dem Edlen Achtfachen Pfad > hier.
3 Vers 183, zit. aus: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte, übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf / Köln, S. 92.
4 Helmuth von Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart 1960, S. 100.
5 Ebd., S. 100 f.
6 Hellmuth Hecker, Die Ethik des Buddha, 2. Aufl., Hamburg 1976, S. 113.
7 Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band X: Parerga und Paralipomena II, Zürich 1977, S. 704.
8 Der Jammer des Lebens war wohl eine der Gründe, warum Schopenhauer sich vom Christentum abwandte und sich dem Buddhismus als einer nicht-theistischen Religion zuwandte, denn so schrieb er 1832 in sein Manuskriptbuch: „In meinem 17ten Jahre [,] ohne alle gelehrte Schulbildung wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwandt bald auch die mir eingeprägten […] Dogmen, und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels , der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick sich zu weiden: darauf deuteten die Data, und der Glaube, daß es so sei, gewann die Oberhand.“ (Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 4 I, Cholerabuch, München 1985, S. 96.)

Bauchgefühl – Instinkt

Was bestimmt das Handeln eines Menschen? Es sind nicht nur Vernunft und Verstand, denn in manchen Lebenslagen ist noch etwas anderes wichtig, ja mitunter sogar lebensentscheidend, nämlich Instinkt oder Bauchgefühl. In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit schrieb Arthur Schopenhauer:

„Übrigens giebt es in unserm Lebenslaufe noch etwas, welches über das Alles hinausliegt. Es ist nämlich eine triviale und nur zu häufig bestätigte Wahrheit, daß wir oft thörichter sind, als wir glauben: hingegen ist, daß wir oft weiser sind, als wir selbst vermeinen, eine Entdeckung, welche nur Die, so in dem Fall gewesen, und selbst dann erst spät, machen. Es giebt etwas Weiseres in uns, als der Kopf ist. Wir handeln nämlich, bei den großen Zügen, den Hauptschritten unsers Lebenslaufes, nicht sowohl nach deutlicher Erkenntniß des Rechten, als nach einem innern Impuls, man möchte sagen Instinkt, der aus dem tiefsten Grunde unsers Wesens kommt ….” *

Ich finde es durchaus lebensnah, dass Arthur Schopenhauer, wenn ich das obige Zitat richtig deute, offenbar den Instinkt höher schätzte als rationale Erkenntnis. Diese ist eine Angelegenheit des Kopfes. Das Bauchgefühl jedoch kommt „aus dem tiefsten Grunde unseres Wesens“ und wird uns daher wohl immer ein Rätsel bleiben.

H.B.

Weiteres zum Thema > Instinkt sowie zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

* Zitat aus: Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VIII: Parerga und Paralipomena / Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 510.

Gesinnungsethik statt Erfolgsethik

Gelegentlich wird der Spruch zitiert: Das Gegenteil von gut ist nicht schlecht, sondern gut gemeint. Dieser Spruch mag witzig und populär sein, aber ist er auch weise und tiefgründig oder nur oberflächlich? Jedenfalls steht er im Gegensatz zu Arthur Schopenhauers Gesinnungsethik.

„Allen Taten“, so meinte Schopenhauer, gäbe „allein die Gesinnung, welche zu ihnen leitet, moralische Bedeutsamkeit“. 1 Daher ist die Ethik Schopenhauers reine Gesinnungsethik. Nicht auf den Erfolg einer Tat komme es im Hinblick auf ihre moralische Wertung an, sondern nur auf die ihr zugrunde liegende Gesinnung! 2

Schopenhauer erklärte das an einem Beispiel, in welchem einem Kranken, in der Absicht ihm zu helfen, diesem anstatt einer Arznei versehentlich ein Gift verabreicht wird. 3 Bei einer bloßen Erfolgsethik wäre für die moralische Bewertung nicht die gute Absicht oder der gute Wille, sondern das Ergebnis der Tat entscheidend.

Von Erich Kästner stammt die Redewendung: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. 4 Hier kommt es offenbar allein auf das Tun an und nicht wie in Schopenhauers Gesinnungsethik auf den guten Willen, der diesem Tun vorausging. Schopenhauer hätte sich dabei auf die altindischen Weisen berufen können, denn diese kamen schon mehr als zwei Jahrtausende vor ihm zu ähnlichen Erkenntnissen.

Der Religionswissenschaftler und Indologe Helmuth von Glasenapp schrieb in seinem Standardwerk Die Philosophie der Inder:

„In der älteren Zeit wird der Erfolg einer Handlung als maßgebend für ihren ethischen Wert und für ihre karmische Vergeltung [im gegenwärtigen oder nach der Wiedergeburt im künftigen Leben] angesehen. Wer versehentlich ein Lebewesen [also auch Tiere!] tötet oder im Traum sündigt, hat dafür zu büßen, wer ohne es beabsichtigt zu haben, etwas Gutes tut, empfängt dafür seinen Lohn.

Später tritt an die Stelle dieser äußerlichen Betrachtungsweise eine tiefere und mehr philosophische: die Gesinnung, aus der heraus ein Akt gewollt und vollbracht wird, ist das allein Ausschlaggebende. Diese Auffassung bricht sich in den [von Schopenhauer überaus geschätzten] Upanishaden Bahn und findet ihren bedeutendsten Vertreter in Buddha, der geradezu verkündete, daß nur das vorbedachte Wollen (cetana) den ethischen Wert und die karmische Vergeltung einer Tat bestimme.“ 5

Damit zeigt sich auch am Beispiel der Gesinnungsethik eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen der Philosophie Arthur Schopenhauers und den philosophisch fortgeschrittenen Lehren des alten Indiens.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zürich 1977, S. 458.
(2) Im Philosophischen Wörterbuch heißt es zu den Begriffen Gesinnung und Gesinnungsethik: „Gesinnung, die sittliche Grundhaltung des Menschen, insofern sie besonders dem Handeln (auch dem Denken) Richtung und Ziel gibt … Der Begründer einer Gesinnungsethik (im Gegensatz zur Erfolgsethik) ist Kant … Die moderne Ethik beurteilt einen Menschen nach seiner Gesinnung, nicht nach dem äußeren Erfolg seiner Taten.“ (Philosophisches Wörterbuch, begr. von Heinrich Schmidt, neu bearb. von Georgi Schischkoff, 21. Aufl., Stuttgart 1982, S. 229).
(3) Schopenhauer, a. a. O., Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik, S. 140.
(4) Zit. aus: Das Große Krüger Zitaten Buch, hrsg. von J. H. Kirchberger, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1977, S. 206.
(5) Helmuth von Glasenapp, Die Philosophie der Inder, 3. Aufl., Stuttgart 1974, S. 402.

Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier

120 Jahre Deutscher Tierschutzbund – aus diesem Anlass hielt der damalige deutsche Bundespräsident Johannes Rau am 30. Juni 2001 eine Rede, in welcher er auf das Verhältnis von Mensch und Tier näher einging. Hierbei wies er auf Arthur Schopenhauer hin, der „als Vater des modernen Tierschutzes gilt“. 1

Für Schopenhauer, so meinte der Bundespräsident, „unterschied sich der Mensch vom Tier nur durch den höheren Intellekt, durch die Vernunft und durch die Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu bilden. Grundsätzlich sah Schopenhauer eine Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier, und diese Wesensgleichheit verpflichte den Menschen.“ 2

Der Hinweis des Bundespräsidenten auf die in Schopenhauers Philosophie ausführlich begründete Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier ist höchst bemerkenswert. Diese Wesensgleichheit steht im völligen Gegensatz zu der Auffassung, die im Abendland seit der Herrschaft des Christentums weithin verbreitet ist, dass Mensch die „Krone der Schöpfung“ sei.

Nach Schopenhauers Philosophie sind Mensch und Tier wie alles in der Natur Erscheinungsformen („Objektivationen“) eines metaphysischen „Willens“ und somit in ihrem innersten Wesen gleich. Schopenhauer konnte sich hierbei auch auf das Tat-twam-asi der von ihm überaus geschätzten altindischen Upanishaden berufen, denn im Tat-twam-asi „liegt der Grundgedanke der Upanishaden beschlossen: die Erkenntnis, daß jedes Einzelwesen in seinem Kern mit dem Allwesen eines ist“. 3 Auf diesem Grundgedanken beruht letztlich auch die allumfassende Ethik Arthur Schopenhauers und damit auch seiner Tierethik. 4

„Bei den Hindu und Buddhaisten“, so schrieb Schopenhauer, „gilt die Mahavakya (das große Wort) Tat-twam-asi (das bist du), welches allezeit über jedes Tier auszusprechen ist, um uns die Identität des innern Wesens in ihm und uns gegenwärtig zu erhalten, zur Richtschnur unsers Tun.“ 5

Ganz in diesem Sinne erklärte der buddhistische Lama Anagarika Govinda, der über Schopenhauer zum Buddhismus kam, die Weisheit von der Wesensgleichheit:

„Indem wir unsere eigene Natur … erkennen, realisieren wir, daß sie sich nicht unterscheidet von der innersten Natur aller anderen lebendigen Wesen. Dies ist die „Weisheit der Wesensgleichheit„, durch die wir uns von der kühlen und unbeeinflußten Haltung eines Beobachters dem warmen menschlichen Gefühl allumfassender Liebe und Mitempfindens für alles, was lebt, zuwenden.“ 6

Wenn der Bundespräsident, wie eingangs zitiert, meinte, die „Wesensgleichheit verpflichte den Menschen“, so ist der Mensch dieser Verpflichtung bisher kaum, ja eigentlich überhaupt nicht nachgekommen, denn auch heute noch – nach fast 150 Jahre Deutscher Tierschutzbund – sind Tiere völlig rechtlos. Nach wie vor gilt Arthur Schopenhauers Wort:

„Erst, wenn jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit, daß die Tiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, wie wir, in´s Volk gedrungen sein wird, werden die Tiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn.“ 7

H.B.

Weiteres zu > Schopenhauer und den > Upanishaden .

Anmerkungen
(1) Website des Bundespräsidenten > Webarchiv.
(2) Ebd.
(3) Helmuth von Glasenapp, Die Religionen Indiens, Stuttgart 1943, S. 113.
(4) „Die Leser meiner Ethik wissen“, schrieb Arthur Schopenhauer, „daß bei mir das Fundament der Moral zuletzt auf jener Wahrheit beruht, welche im Veda und Vedanta ihren Ausdruck hat an der stehend gewordenen mystischen Formel Tat twam asi (dies bist du), welche mit Hindeutung auf jedes Lebende, sei es Mensch oder Tier, ausgesprochen wird und dann die Mahavakya, das große Wort, heißt“. (Arthur Schopenhauer´s sämmtliche Werke , hrsg. von Julius Frauenstädt, 2. Aufl., Band 6: Parerga und Paralipomena II, Kap. VIII. Zur Ethik, Leipzig 1919, S. 234.)
(5) Schopenhauers Werke, a. a. O., Kap. XV. Ueber Religion, S. 399 f.
(6) Lama Anagarika Govinda, Schöpferische Meditation und Multidimensionales Bewusstsein, 2. Aufl., Freiburg i. B. 1982, S. 72 f.
(7) Schopenhauers Werke, a. a. O., S. 403.


Religion und eigenes Denken

„Im Grunde“, so meinte Arthur Schopenhauer, „haben nur die eigenen Grundgedanken Wahrheit und Leben: denn nur sie versteht man recht eigentlich und ganz. Fremde, gelesene Gedanken sind die Überbleibsel eines fremden Mahles, die abgelegten Kleider eines fremden Gastes“. 1

Dementsprechend kritisch stand Schopenhauer den Religionen gegenüber, die versuchen, ihre Dogmen den Menschen möglichst früh gleichsam einzuimpfen, ja sie ihnen mitunter sogar aufzuzwingen:

„Nicht nur das Aussprechen und die Mitteilung der Wahrheit, nein, selbst das Denken und Auffinden derselben hat man unmöglich zu machen gesucht, dadurch, daß man in frühester Kindheit die Köpfe den Priestern, zum Bearbeiten, in die Hände gab, die nun das Gleis, in welchem die Grundgedanken sich fortan zu bewegen hatten, so fest hineindrückten, daß solche, in der Hauptsache, auf die ganze Lebenszeit festgestellt und bestimmt waren.“ 2

Schopenhauers Kritik trifft jedoch nicht in gleichem Maße auf alle Religionen zu. Der Buddha zum Beispiel teilte seine anspruchsvolle Lehre nur jenen mit, von denen er erwartete, dass sie die nötige geistige Reife und Selbstständigkeit hatten, um diese Lehre zu verstehen. Er setzte die Fähigkeit zum eigenen Denken und eigener Erkenntnis voraus, wenn er etwa an seine Zuhörer eine Aufforderung richtete, die in der Religionsgeschichte wohl einmalig ist:

„Richtet euch nicht nach dem, was euch zu Ohren gekommen ist, nach dem bloßen Hörensagen … , nach Sammlungen von heiligen Überlieferungen …, nicht nach den Worten eines verehrten Meisters – sondern was ihr selbst als gut oder schlecht erkannt habt, das nehmt an oder gebt auf.“ 3

Deshalb kommt es in der Lehre des Buddha nicht auf den bloßen Glauben an. Nicht blindes Übernehmen irgendwelcher fremder, oft sogar aufgezwungener Glaubenssätze, sondern die auf Anschauung gegründete eigene Erkenntnis ist in der buddhistischen Lehre wie in Schopenhauers Philosophie von entscheidender Bedeutung. So ist es verständlich, wenn Arthur Schopenhauer beim Vergleich mit anderen Religionen die besondere Nähe seiner Philosophie zum Buddhismus mit den Worten hervorhob:

„Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern zugestehn.“ 4

H.B.

Weiteres zu > Schopenhauer und zum > Buddhismus.

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 22. Selbstdenken, Zürich 1977, S. 538.
(2) Ebd., Kap. 15. Ueber Religion , S. 373 f.
(3) Anguttara-Nikaya 3, 65, 8 (Pali Text Society), zit aus: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte. Übers. und hrsg. von Helmuth von Glasenapp, Düsseldorf/Köln, S. 57 f.
Was die „Sammlungen von heiligen Überlieferungen“ anbetrifft, so gehört hierzu auch die im Pali-Kanon überlieferte Lehre des Buddha. Jedoch verlangt diese keinen „Glauben“ im Sinne der großen Glaubensreligionen, sondern nur Vertrauen auf den vom Buddha gelehrten Weg zur Erkenntnis. Es geht also hier um eigenes Denken und eigene Erkenntnis. Deshalb ist im Buddhismus die Meditation als Mittel zur Erkenntnis von zentraler Bedeutung.
(4) Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 17. Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen, S. 197.

Atma – Schopenhauers Pudel

Wer nie einen Hund gehalten hat,
weiß nicht was lieben und geliebt seyn ist. 1

Für Arthur Schopenhauer, der dieses Zitat aus dem Spanischen übersetzte, war das keine Übertreibung, denn er fand darin seine eigenen Erfahrungen während vieler Jahre bestätigt.

Schon in der Studentenzeit gehörte ein Pudel zu Schopenhauers Leben. So berichtete der Schopenhauer-Biograf Wilhelm von Gwinner, der den Philosophen noch persönlich kannte: „Mit Platon und Kants Werken, mit Sokrates Büste und Goethes Porträt, zogen damals bereits der Pudel und dessen Lager in die Studierstube ein.“ 2

Unter den Hunden, mit denen Schopenhauer sein weiteres Philosophenleben teilte, waren auch ein weißer und dann ein brauner Pudel. Beide nannte er Atma, was durchaus eine tiefere Bedeutung hatte und eng mit seiner den altindischen Upanishaden sehr nahe stehenden Philosophie zusammenhing: Atman, die individuelle Seele jedes Lebewesens, und Brahman, die Weltseele, sind laut Schopenhauer und den Upanishaden in ihrem tiefsten Wesenskern identisch.

Heinrich Hasse, Philosoph und Schopenhauer-Forscher, schrieb in seiner vorzüglichen Darstellung von Schopenhauers Leben und Werk zu den Lebensverhältnissen Schopenhauers und seines Pudels:

„Das Arbeitszimmer des Philosophen, in seiner Einrichtung von größter Anspruchslosigkeit, verrät schon äußerlich die charakteristische Gemeinschaft wissenschaftlicher, künstlerischer und ethisch-religiöser Wesenszüge seines Inhabers. Bildnisse von Descartes, Kant, Goethe und Shakespeare liefern seinen Schmuck, zu dem außer Kants Büste in den letzten Lebensjahren Schopenhauers eine vergoldete Statuette Buddhas kommt, die auf einer Marmorkonsole thront.

Sinnbildliche Bedeutung hat auch die Gesellschaft seines beständigen Lebensgenossen, des Pudels, der neben seinem profanen Namen den Titel Atma (d. h. etwa „Selbst“) führt. In dieser Wahl bekundet sich praktisch Schopenhauers dem jüdisch-christlichen Dogma entgegengesetzte Auffassung, welche in letzter Instanz zwischen Mensch und Tier keinen Wesensunterschied anerkennt, das ewige Urwesen in allem Lebenden erblickt, ja das Tier durch größere Unschuld, Ursprünglichkeit und Treuherzigkeit seines Verhaltens den Menschen übertreffen läßt.“ 3

Daher ist es wohl verständlich, wenn Arthur Schopenhauer seine Erfahrungen mit seinen „vierbeinigen Freundschaften“ und den Mitmenschen in folgendem Epigramm zum Ausdruck brachte:

Wundern darf es mich nicht,
daß Manche die Hunde verläumden:
Denn es beschämt zu oft leider

den Menschen den Hund. 4

H.B.

Weiteres
zu > Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie
sowie den > Upanishaden.

Arthur Schopenhauer mit seinem Pudel 5

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VII: Parerga und Paralipomena I, § 12: Die Philosophie des Neueren, Zürich 1977, S. 87.
(2) Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben, 3. Ausgabe, Leipzig 1910, S. 66.
(3) Heinrich Hasse, Schopenhauer , München 1926, S. 53.
(4) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga II, S. 716.
(5) Holzschnitt von Johann Jakob Ettling. 1888 in der Frankfurter Latern erschienen.

Glück und Gesundheit

In seinen Aphorismen schrieb Arthur Schopenhauer über eine Lebensweisheit, die vielleicht manche Menschen befremden mag, und zwar insbesondere dann, wenn sie noch voller Optimismus dem Leben entgegenschauen:

„Wir treten in die Welt, voll Ansprüche auf Glück und Genuß, und hegen die thörichte Hoffnung, solche
durchzusetzen. In der Regel jedoch kommt bald das Schicksal, packt uns unsanft an und belehrt uns, daß nichts unser ist, sondern Alles sein

Jedenfalls aber kommt, nach einiger Zeit, die Erfahrung und bringt die Einsicht, daß Glück und Genuß eine Fata Morgana sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn man herangekommen ist; daß hingegen Leiden und Schmerz Realität haben …

Fruchtet nun die Lehre; so hören wir auf, nach Glück und Genuß zu jagen, und sind vielmehr darauf bedacht, dem Schmerz und Leiden möglichst den Zugang zu versperren. Wir erkennen alsdann, daß das Beste, was die Welt zu bieten hat, eine schmerzlose, ruhige, erträgliche Existenz ist, und beschränken unsere Ansprüche auf diese, um sie desto sicherer durchzusetzen. Denn, um nicht sehr unglücklich
zu werden, ist das sicherste Mittel, daß man nicht verlange, sehr glücklich zu sein …

Demnach ist es gerathen, seine Ansprüche auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre u. s. f. auf ein ganz Mäßiges herabzusetzen; weil gerade das Streben und Ringen nach Glück, Glanz und Genuß es ist, was die
großen Unglücksfälle herbeizieht. Aber schon darum ist Jenes weise und rathsam, weil sehr unglücklich zu sein gar leicht ist; sehr glücklich hingegen nicht etwan schwer, sondern ganz unmöglich.“ 1

Sich zu bescheiden und sein Streben nach Glück „auf ein ganz Mäßiges herabzusetzen“, ist nicht leicht, denn eher das Gegenteil, das unersättliche Habenwollen, scheint dem Menschen angeboren zu sein. Doch das Schicksal ist mitunter ein sehr strenger, ja schmerzhafter Lehrmeister, der auch den größten Optimisten zwingen kann, Schopenhauers Rat nicht leichtfertig als bloßen Pessimismus abzutun.

Doch selbst wenn Arthur Schopenhauer das Große Glück für „ganz unmöglich“ hielt, bleibt immerhin noch Raum für ein bescheidenes Glück. Vielleicht ist es erst die Erfahrung von Leid und Unglück, die manche Menschen dazu bringt, solches bescheidene, nicht selbstverständliche Glück zu schätzen.

„Der drei größten Güter des Lebens, Gesundheit, Jugend und Freiheit“, so meinte Schopenhauer, werden wir uns nicht bewusst, „so lange wir sie besitzen; sondern erst nachdem wir sie verloren haben“. 2 Das gilt vor allem für die Gesundheit, denn wie Arthur Schopenhauer in seinen Aphorismen hervorhob:

„Besonders überwiegt die Gesundheit alle äußern Güter so sehr, daß wahrlich ein gesunder Bettler glücklicher ist, als ein kranker König.“ 3

Gute Gesundheit ist demnach weit mehr als nur bescheidenes Glück, und wer sich noch im höheren Alter einer solchen Gesundheit erfreuen kann, der hat das Glückslos in der Lotterie des Lebens gezogen. Übrigens, der Verfasser dieses Beitrags ist im 84. Lebensjahr.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VIII: Parerga und Paralipomena I / Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 445 f.
(2) Schopenhauer , a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 653.
(3) Schopenhauer , Aphorismen, a. a. O., S. 348.

Schopenhauer : Wahre Ethik

Wahre Ethik fängt an, wo der Gebrauch der Worte aufhört. 1

Dieses Zitat von Albert Schweitzer wird oft gebracht, aber in der Politik zum Beispiel scheint mitunter eher das Gegenteil zu gelten, nämlich:

Tue Gutes und sprich darüber, und zwar möglichst oft und möglichst laut.

Jedoch gute Taten, die allein der politischen Karriere oder anderer persönlichen Vorteile wegen getan wurden, haben nichts zu tun mit wahrer Ethik, jedenfalls nicht im Sinne von Albert Schweitzer und Arthur Schopenhauer.

Für Schopenhauer waren, wie er in seinen Schriften oftmals hervorhob, moralische Handlungen nur solche, die aus dem Mitleid kamen. Hingegen habe jede Handlung, welche aus Rücksicht auf Lohn oder Strafe im Diesseits oder Jenseits geschieht, keinen moralischen Wert. Daher ergibt sich die höchst problematische Frage, ob Religionen wahre Ethik überhaupt besitzen können, denn sie stellen Belohnung oder Strafe in Aussicht, wenn die von ihnen verkündeten Ge- und Verbote befolgt oder nicht befolgt werden.

Schopenhauer war durchaus Realist und Menschenkenner. Er wusste, will man Menschen zu vermeintlich moralischen Handlungen veranlassen, so kann das nur geschehen, wenn man ihnen den Glauben vermittelt, dass solches Tun für sie vorteilhaft ist. Jedoch wäre das dann, genau genommen, nicht Moral, sondern Berechnung, also Egoismus.

Inwieweit egoistische oder uneigennützige Motive im Einzelfall das menschliche Handeln letztlich bestimmen, lässt sich oft schwer beurteilen. Jedoch in einem Bereich kann ziemlich sicher vermutet werden, dass Mitleid der entscheidende Beweggrund ist, nämlich im Tierschutz. Die im Abendland vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Religionen, wie zum Beispiel das Christentum, versprechen für den Tierschutz keine Belohnungen im Diesseits oder Jenseits. So ist es wohl vor allem das Mitleid, das Menschen dazu bewegt, Tieren zu helfen. Demnach wäre zumindest Tierethik wahre Ethik.

Sozial positive Verhaltensweisen lassen sich lernen, lehren und erforderlichenfalls auch erzwingen, nicht aber das im jeweiligen Charakter gegründete Mitleid. Dieses hat in Schopenhauers Verständnis von wahrer Ethik größte Bedeutung:

„Denn grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten … Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig keinen verletzen, keinen beeinträchtigen, keinem wehe tun … und alle seine Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen.“ 2

Somit beruht laut Schopenhauer wahre Ethik auf Mitleid mit Mensch und Tier. In diesem Sinne ist wohl auch Theodor Fontane zu verstehen, der im Brief vom 24. August 1893 an seine Tochter Mete schrieb:

Schopenhauer hat ganz recht: das Beste, was wir haben, ist Mitleid. 3

Immanuel Kant, der seit Platon bedeutendste Philosoph des Abendlandes und Lehrer Schopenhauers, meinte, der Mensch ist von Natur böse und übernahm diese Erkenntnis sogar als Titel in seine Abhandlung Über das radikal Böse in der menschlichen Natur. 4 Sein Schüler Arthur Schopenhauer wusste von diesem Bösen. Er wusste aber auch vom Gegenteil, denn zeugt nicht Schopenhauers Mitleidsethik von seinem Glauben an das Gute im Menschen?

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Mitleidsethik > hier.

H.B.


Anmerkungen
1 Das Große Krüger Zitaten Buch, hrsg. von J. H. Kirchberger, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, S. 345.
2 Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik / Preisschrift über die Grundlage der Moral, Zürich 1977, S. 275.
3 Zit. aus: Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom. Schopenhauer gestern – heute – morgen, 4. Aufl., Bonn 1968, S. 297.
4 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Erstes Stück, III, Königsberg 1793.

Schopenhauer : Gutes Prinzip

Beruht die Welt auf einem guten Prinzip? Das folgende Zitat von Arthur Schopenhauer deutet eher auf das Gegenteil hin:

Die Welt ist die Hölle, und die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin. 1

Wenn Schopenhauer im obigen Zitat die Menschen als “Teufel” bezeichnete, so dachte er wohl auch daran, wie entsetzlich Tiere unter den Menschen leiden müssen: Man möchte wahrlich sagen: die Menschen sind die Teufel der Erde, und die Tiere die geplagten Seelen. 2

So beschrieb Schopenhauer in seinen Werken sehr eindrucksvoll die Welt als “Hölle” für Mensch und Tier. Jedoch selbst in dieser „Hölle“ besteht – davon war Schopenhauer überzeugt – Grund für Hoffnung! Schopenhauer erklärte seine Zuversicht mit der nicht zu bestreitenden Tatsache, dass es unter den Menschen nicht nur “Teufel” gibt, sondern auch, “wiewohl sehr sporadisch, aber doch stets von Neuem uns überraschend, Erscheinungen der Redlichkeit, der Güte, ja des Edelmuts, und ebenso auch des großen Verstandes, des denkenden Geistes, ja, des Genies. Nie gehen diese ganz aus: sie schimmern uns, wie einzelne glänzende Punkte, aus der großen dunkeln Masse entgegen. Wir müssen sie als ein Unterpfand nehmen, dass ein gutes und erlösendes Prinzip in diesem Sansara [irdischen Welt] steckt, welches zum Durchbruch kommen und das Ganze erfüllen und befreien kann.” 3

Solche „Erscheinungen der Redlichkeit, der Güte, ja des Edelmuts“ sind im Leben vielleicht häufiger anzutreffen, als das vorstehende Schopenhauer-Zitat zum Ausdruck bringt. So sind etwa die von Schopenhauer hoch geschätzten Tierschutzvereine deutliche Beispiele für tätige Mitleidsethik. Dort, aber auch anderswo, wirken keine „teuflischen“, sondern mitfühlende, selbstlose Wesen. Es sind jene Menschen, die helfen, dass diese Welt weniger eine „Hölle“ bleibt und stattdessen für Mensch und Tier lebenswerter wird.

„Gutes Prinzip“ – hierbei handelt es sich nicht um das Ergebnis einer bloß philosophisch-theoretischen Betrachtung, vielmehr geht es um etwas, das jeder kennt, nämlich Mitleid. „Dieses Mitleid“, so schrieb Schopenhauer, „aber ist eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewusstseins, ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen, Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen, Erziehung oder Bildung; sondern ist ursprünglich und unmittelbar, liegt in der menschlichen Natur selbst … und zeigt sich in allen Ländern und Zeiten.“ 5

Es ist das „natürliche Mitleid“, das „ethische Urphänomen“, wie es Schopenhauer nannte. 6 „Dieser Vorgang ist mysteriös; … Und doch ist er alltäglich. Jeder hat ihn oft an sich selbst erlebt; sogar dem Hartherzigsten und Selbstsüchtigsten ist er nicht fremd geblieben. Er tritt täglich ein vor unseren Augen, im einzelnen, im kleinen, überall, wo auf unmittelbaren Antrieb, ohne viel Überlegung ein Mensch dem andern hilft und beispringt, ja bisweilen selbst sein Leben für einen, den er zum ersten Male sieht, in die augenscheinlichste Gefahr setzt.“ 7

Zeigt nicht jedes Beispiel selbstlosen Verhaltens, dass in der Welt, obwohl sie von „gequälten Wesen“ zuweilen als „Hölle“ empfunden wird, ein gutes Prinzip wirksam ist? Jedenfalls gibt es nicht nur das Prinzip „Fressen und Gefressenwerden“. Es scheint auch ein Naturprinzip zu sein, bei welchem – nach Schopenhauers Worten – „die Natur nichts Wirksameres leisten konnte, als dass sie in das menschliche Herz jene wundersame Anlage pflanzte, vermöge welcher das Leiden des Einen vom Andern mitempfunden wird, und aus der die Stimme hervorgeht, welche je nachdem der Anlass ist, diesem Schone! jenem Hilf! stark und vernehmlich zuruft.“ 8

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Quellen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IX: Parerga und Paralipomena II, Zürich 1977, S. 326.
(2) Schopenhauer, a. a. O., Band X: Parerga II, S. 410.
(3) Schopenhauer, a. a. O., Band IX: Parerga II, S. 238.
(4) S. dazu: Arthur Schopenhauer über Tierschutz und Tierschutzvereine >hier.
(5) Schopenhauer, a. a. O., Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik / Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 252.
(6) Ebd., S. 249 und 252.
(7) Ebd., S. 269.
(8) Ebd., S. 285.

Mensch besinne dich – eine vergebliche Hoffnung?

Seit Arthur Schopenhauer sind über 150 Jahre vergangen. Während dieser Zeit hat sich die Weltbevölkerung vervielfacht, und zwar in einem solchen Maße, wie es früher kaum vorstellbar war. Zugleich griff der Mensch immer stärker in die Natur ein und zerstörte dabei immer mehr seine Lebensgrundlagen. Ja, er setzt sein Vernichtungswerk an der Natur sogar mit steigender Tendenz weiter fort. Die Folgen sind verhängnisvoll und werden für jeden von uns deutlich sicht- und fühlbar. Deshalb ist der Rat des Naturphilosophen Jakob Böhme, der vor etwa 400 Jahren lebte und von Schopenhauer hoch geschätzt wurde, keineswegs veraltet, sondern aktueller denn je:

Thue deine Augen auf, und gehe zu einem Baum, und siehe den an und besinne dich. 1

Also: Mensch besinne dich und warte nicht, bis auch der letzte Baum verdorrt ist!

Besinnt sich der Mensch? Allein schon im Hinblick auf den weltweiten Anstieg der Fleischproduktion, die aus Gründen des Umweltschutzes und vor allem auch der Tierethik höchst problematisch ist, kann ich diese Frage leider nicht so ohne weiteres bejahen.2 Gerade in diesem Zusammenhang habe ich wenig Hoffnung, dass der Mensch sich besinnt und zur Einsicht kommt, denn kürzlich las ich folgendes:

„Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO prognostizierte die weltweit produzierte Menge an Fleisch für das Jahr 2022 auf rund 360,5 Millionen Tonnen. Im Vergleich zum Jahr 2000 wuchs die produzierte Fleischmenge somit um mehr als 100 Millionen Tonnen an.“ 3

Nicht weniger alarmierend heißt es in einem anderen statistischen Bericht: „Die intensive Nutztierhaltung ist gekennzeichnet durch einen hohen Flächen- und Wasserverbrauch, belastet Böden und Gewässer und trägt mit ihren Emissionen zum Klimawandel bei. Dennoch wird die Tierhaltung weltweit ausgeweitet: Die Weltbevölkerung wächst, zugleich verändert der zunehmende Wohlstand in vielen Schwellen- und Entwicklungs­ländern das Ernährungsverhalten. Der jährliche Fleischverbrauch hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. … Weltweit wurden 2020 rund 337,2 Millionen Tonnen Fleisch erzeugt. Das war ein Anstieg um 45 % gegenüber dem Jahr 2000.“ 4

Der einzelne Mensch mag sich besinnen und dementsprechend besonnen verhalten, aber gilt das auch für die Allgemeinheit, die Menschheit? Ich habe Zweifel, zumal wenn zutrifft, was Arthur Schopenhauer in der Einleitung seiner Aphorismen zur Lebensweisheit schrieb:

„Im Allgemeinen freilich haben die Weisen aller Zeiten immer das Selbe gesagt, und die Thoren, d. h. die unermeßliche Majorität aller Zeiten, haben immer das Selbe, nämlich das Gegentheil, gethan: und so wird es denn auch ferner bleiben.“ 5

H.B.

Weiteres > Besonnenheit und Lebensphilosophie und
zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Gleichnis vom Baum, zit. aus: Dieter Liebig, Kommentar zu Jakob Böhmes Aurora oder Morgenröte im Aufgang (Vers 32) Dittersbach auf dem Eigen 1999, S. 41.
(2) Zur ethischen Problematik > Tierethik und > Tierrechte.
(3) Archiv / Stand: 24.07.2022.
(4) Archiv / Stand: 24.07.2022.
(5) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 344.

Besonnenheit und Lebensphilosophie

Besonnenheit ist wohl in jeder Lebenslage wichtig, mitunter sogar überlebenswichtig. Für den von Arthur Schopenhauer verehrten altgriechischen Philosophen Platon gehörte sie neben Einsicht, Tapferkeit und Gerechtigkeit zu den vier Kardinaltugenden.

Besonnenheit ist ein besonderer Geisteszustand. Laut dem Wörterbuch der philosophischen Begriffe ist Besonnenheit ein „Zustand des Bei-Sinnen-Seins, des vollen Bewußtseins, der vollen Geistesgegenwart“. 1

Mit „vollkommener Besonnenheit“ zu leben, erfordert, wie Schopenhauer in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit schrieb, „daß man oft zurückdenke und was man erlebt, gethan, erfahren und dabei empfunden hat rekapitulire“, also sich noch einmal vergegenwärtige.

Jedoch, so erklärte Schopenhauer weiter, „wer im Getümmel der Geschäfte, oder Vergnügungen, dahinlebt, ohne seine Vergangenheit zu ruminiren [also ohne über das Vergangene nachzusinnen], vielmehr nur immerfort sein Leben abhaspelt, dem geht die klare Besinnung verloren: sein Gemüth wird ein Chaos, und eine gewisse Verworrenheit kommt in seine Gedanken … Dies ist umso mehr der Fall, je größer die äußere Unruhe, die Menge der Eindrücke, und je geringer die innere Thätigkeit seines Geistes ist.“ 2

Wer demnach nicht über die Vergangenheit in Ruhe nachsinnt, wird auch nicht aus seinen Fehlern in der Vergangenheit lernen und deshalb früher oder später im Leben scheitern. Darüber hinaus hängt der Erfolg im Leben eines Menschen wesentlich davon ab, inwieweit er fähig ist, selbst in außergewöhnlichen Situationen besonnen zu bleiben.

Auch für das Philosophieren ist Besonnenheit notwendig: Schopenhauers Tagebücher und andere Aufzeichnungen aus seiner Jugendzeit zeigen eindrucksvoll, dass der spätere Philosoph von früh an sehr besonnen lebte. Ja, es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, ohne diese Besonnenheit gäbe es keine Schopenhauersche Philosophie, jedenfalls nicht so, wie wir sie heute kennen und schätzen. Schopenhauer ist deshalb das beste Beispiel für das, was er zu Recht feststellte, nämlich dass der „hohe Beruf“ des Philosophen „seine Wurzel in der Besonnenheit“ habe. 3

Übrigens, Lebensphilosophie, die nicht mit Besonnenheit im Alltag verbunden ist, bleibt bloße Theorie. Eine solche Lebensphilosophie hilft wohl nur so viel oder so wenig wie Schwimmübungen im Trockenen.

H.B.

Weiteres > Mensch besinne dich – eine vergebliche Hoffnung? und
zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen

(1) Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Johannes Hoffmeister, 2. Auflage, Hamburg 1955, Stichwort: Besonnenheit, S. 115.
(2) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 456.
(3) Schopenhauer, a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 31: Vom Genie, S. 453.

Wahrheit und gekränkte Eitelkeit

Wahrheit und Eitelkeit vertragen sich nicht. Besonders Arthur Schopenhauer musste das erfahren, denn in seiner Philosophie gilt der Grundsatz: Ehrwürdig ist die Wahrheit; nicht was ihr entgegensteht. 1 So kam es dann, dass nicht wenige Menschen sich durch seine Wahrheiten in ihrer Eitelkeit verletzt fühlten.

Wo ist eine Eitelkeit, die ich nicht gekränkt hätte? – fragte Arthur Schopenhauer in einem Brief an seinen Freund und aktivsten Anhänger Julius Frauenstädt. 2 Seine Frage war durchaus berechtigt, denn es waren viele Eitelkeiten. Jedoch die größte Eitelkeit, die Schopenhauer gekränkt hatte, war der Wahn der Menschen, ihr Glaube, mehr als nur ein Teil der Natur zu sein. Die Menschen sahen sich, und viele sehen sich wohl auch heute noch so, wie die christliche Kirche es sie lehrte, nämlich als Ebenbild Gottes, als Krönung der Schöpfung und dementsprechend auch als Herrscher über die Natur. Martin Luther zum Beispiel bestärkte sie in diesem Glauben, indem er in einer seiner „Tischreden“ sagte: Alle Wälder und Hölzer sind unsere Jägerei … Denn es ist alles um unser, der Menschen Willen geschaffen. 3

Entgegen dem Luther-Zitat vertrat Schopenhauer eine völlig andere Meinung, die er im Rahmen seiner Philosophie metaphysisch sehr tief begründete. Der Philosoph und Schopenhauer-Forscher Heinrich Hasse schrieb hierzu:

„Schonungslos und freimütig, wie wenige Betrachter der eigenen [also der menschlichen] Gattung es gewesen sind, hat Schopenhauer auch auf diesem Gebiet allen falschen Respekt überwunden. Er sieht und schildert das Typische am Menschen mit dem durchdringenden Blick eines Forschers, welchem die Rücksicht auf Wahrheit höher steht als die Rücksicht auf menschliches Vorurteil und menschliche Eitelkeit.

Ohne Bedenken wird die moderne Wissenschaft und die auf ihr fußende Weltanschauung sich den Gedanken anschließen, mit welchen Schopenhauer die Einordnung des Menschen in die Reihe der höheren Wirbeltiere vollzieht.

Obwohl seine Hypothese über den Ursprung des Menschen nur als interessantes Vorspiel einer wissenschaftlich gesicherten Deszendenztheorie [Abstammungslehre] gelten kann, bildet die philosophische Zurückweisung einer supranaturalistisch [übernatürlich] begründeten Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren und die damit verbundene Anerkennung der Wesensverwandtschaft des Menschen mit der Tierwelt eine innerhalb des abendländischen Denkens höchst verdienstvolle Tat.

Ihre Bedeutung erscheint noch größer bei der Erwägung, daß (im Gegensatz zur indischen Weltauffassung) das christlich-europäische Denken mit der Leugnung dieser Wesensverwandtschaft die Einheit des organischen Lebens gesprengt, den Menschen von der Tierreihe willkürlich losgerissen und die Tiere zu moralischer Rechtlosigkeit verurteilt hatte.“ 4

Auch Hasses Hinweis auf die Rechtlosigkeit der Tiere entspricht völlig Schopenhauers Philosophie, denn dort begründete Schopenhauer sehr eingehend, „daß die Thiere, in der Hauptsache und im Wesentlichen, ganz das Selbe sind, was wir, und daß der Unterschied bloß im Grade der Intelligenz, d. i. Gehirntätigkeit liegt […] Erst wann jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit in´s Volk gedrungen sein wird, werden die Thiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn und demnach der bösen Laune und Grausamkeit jedes rohen Buben preisgegeben sein; und wird es nicht jedem Medikaster freistehn, jede abenteuerliche Grille seiner Unwissenheit durch die gräßlichste Qual einer Unzahl Thiere auf die Probe zu stellen; wie heut zu Tage geschieht.“ 5 Übrigens, was Schopenhauer hier ansprach, sind die qualvollen Tierversuche, die damals so wie leider auch heute noch wissenschaftlicher Alltag und Ergebnis jener Auffassung sind, dass der Mensch unendlich weit über dem Tier stehe.

Eitelkeit, so meinte Arthur Schopenhauer, entstehe, indem der Mensch sich mit anderen Wesen vergleicht. Dabei sei er „auf keine Vorzüge … so stolz wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen sein Vorzug vor den Tieren.“ 6

Seit Schopenhauer muss jedoch die Wissenschaft immer deutlicher zur Kenntnis nehmen, dass die geistigen Fähigkeiten mancher Tiere mitunter die des Menschen übertreffen können. 7 Die Wissenschaft liefert fast täglich neue Beweise, dass hoch entwickelte Tiere in ihrem Denken und Fühlen den Menschen wesentlich näher stehen, als viele Tiernutzer es wahrhaben wollen. 8

So ist der Glaube des Menschen, er sei berechtigt, sich ohne irgendwelche moralischen Bedenken über das Tier und die übrige Natur zu erheben, ein Irrglaube. Schopenhauer hatte diesem Irrglauben entschieden wie kaum ein anderer weltberühmter Philosoph widersprochen und dabei die Eitelkeit des sich als „Krone der Schöpfung“ fühlenden Menschen gekränkt.

Die Kränkung wurde ihm übel genommen. Arthur Schopenhauer blieb dabei – der Wahrheit wegen. Wohl nicht ganz zu Unrecht schrieb er in seinem eingangs erwähnten Brief: Man dient nicht der Welt und der Wahrheit zugleich.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band V: Ueber den Willen in der Natur, Zürich 1977, S. 237.
(2) Brief vom 21.08.1852, in: Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 292.
(3) D. Martin Luther´s sämtliche Schriften, XXII. Band. Enthaltend: Die Colloquia oder Tischreden, hrsg. und erl. von Karl Eduard Förstemann, Leipzig 1844, S. 141.
(4) Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 450 f. Dieses Buch ist auch heute noch eine der besten Darstellungen zu Schopenhauers Leben und Werk (> mehr).
(5) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 15: Ueber Religion, § 177: Ueber das Christenthum, S. 415.
(6) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, a. a. O., Band VIII: Parerga und Paralipomena I, Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 501 f.
(7) Abgesehen davon, sind geistige Fähigkeiten noch keine moralischen Qualitäten, weil es darauf ankommt, ob sie für moralisch gute oder verwerfliche Zwecke eingesetzt werden.
(8) S. hierzu Beispiele:
(a) Der Geist der Tiere , Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, hrsg, von Dominik Perler und Markus Wild, Frankfurt am Main 2005.
(b) James Serpell, Das Tier und wir, Rüschlikon-Zürich 1990.
(c) Frans de Waal, Der Affe in uns, München-Wien 2006.

Schopenhauer : Leid und Freude

Leid und Freude gehören zum Leben jedes Menschen, obgleich in sehr unterschiedlichem Maße. Arthur Schopenhauer hatte diese Lebenserfahrung so eindrucksvoll wie kaum ein anderer Philosoph in seinen Werken beschrieben. Hierbei wurde ihm – und wird auch heute noch – mitunter vorgeworfen, er hätte das Leid übermäßig hervorgehoben und dabei die Freude, die es im Leben ja auch gäbe, mehr oder weniger vergessen. So hätte er ein zu düsteres Bild des Lebens gezeichnet. Schopenhauer begegnete diesem Vorwurf mit einem Argument, das sich kaum, ja eigentlich überhaupt nicht widerlegen lässt:

„Ehe man so zuversichtlich ausspricht, dass das Leben ein wünschenswertes, oder dankenswertes Gut sei, vergleiche man ein Mal gelassen die Summe der nur irgend möglichen Freuden, welche ein Mensch in seinem Leben genießen kann, mit der Summe der nur irgend möglichen Leiden, die ihn in seinem Leben treffen können. Ich glaube, die Bilanz wird nicht schwer zu ziehen sein. Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Übeln mehr auf der Welt sei: denn schon das bloße Dasein des Übels entscheidet die Sache; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gute getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann. … Denn, dass Tausende in Glück und Wonne gelebt hätten, höbe ja nie die Angst und Todesmarter eines Einzigen auf.“1

Um das ganze Ausmaß des Leides eines Menschen oder eines Tieres zu ermessen, dürfte ein kühles philosophisches Abwägen von Leid und Freude kaum ausreichen. Vielmehr ist hierbei die Fähigkeit zum Mitleid mit Mensch und Tier unerlässlich. Dann wird wohl auch verständlich, warum Schopenhauer die Welt als zutiefst leidvoll ansah. Er wurde schon frühzeitig durch eigenes Erleben von dieser Erkenntnis so durchdrungen, dass diese dann zu einer Grundlage seiner Philosophie wurde.

Schopenhauers Philosophie beschränkt sich jedoch nicht auf eine Beschreibung von Freude und Leid. In ihrem Kern, nämlich der Lehre von der „Bejahung und Verneinung des Willens“, enthält sie eine durchaus positive und spirituell tief gegründete Aussage.2 Hiernach hat alles Leid ein Ende, und zwar dort, wo „statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Überganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid … jener Friede“ ist, „der höher ist als alle Vernunft“.3 Der „Buddhaist“ Arthur Schopenhauer nannte es Nirwana.4

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Zitat aus: Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden,
Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977, S. 674.
(2) Hierzu sei hingewiesen auf die sehr bedeutsamen Ausführungen in:
Schopenhauer, a. a. O., Werke, Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I,
Viertes Buch, dort besonders wichtig § 71, S. 504-508!
(3) Ebd., S. 507.
(4) Vgl. Schopenhauer, a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II, S. 350 und
Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden,
hrsg. von Arthur Hübscher, Band 4, I: Die Manuskriptbücher der Jahre 1830-1852,
München 1985, S. 230. Mehr dazu:
> Der buddhistische Weg zum Nirwana (Erlösung) und Schopenhauer.

Gefährliche Klugheit

Jemanden als „dumm“ zu bezeichnen, gilt als Beleidigung. Klugheit hingegen wird von vornherein wertgeschätzt, ja bewundert. Jedoch ist Vorsicht geboten, denn wie Arthur Schopenhauer in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit schrieb:

Nicht wer grimmig, sondern wer klug dreinschaut, sieht furchtbar und gefährlich aus: – so gewiss des Menschen Gehirn eine furchtbarere Waffe ist als die Klaue des Löwen.1

Klugheit sei, wie Schopenhauer meinte, eine „für unser Glück sehr wesentliche Eigenschaft“.2 Hierbei unterschied er zwischen Klugheit und Schlauheit: Geschieht zum Beispiel die praktische Anwendung des Verstandes, welche – laut Schopenhauer – das Wesen der Klugheit ausmacht, zur „Überlistung Anderer“, dann wird sie nicht Klugheit, sondern Schlauheit genannt.3

Klugheit an und für sich ist noch keine Eigenschaft, die im ethischen Sinne Bewunderung verdient. Es kommt nämlich darauf an, wofür sie eingesetzt wird. Wird sie als Schlauheit hemmungslos zum Nachteil anderer genutzt, so kann sie für die Mitmenschen zu einer Gefahr werden. Verbindet sich die Klugheit aber mit selbstloser Hilfsbereitschaft für Mensch und Tier, so kann sie höchst segensreich wirken. Somit ist letztlich der Charakter eines Menschen entscheidend, ob dessen Klugheit eine „furchtbare Waffe“ oder eine bewundernswürdige Eigenschaft ist, die nicht nur zum eigenen, sondern auch zum Glück anderer Wesen beizutragen vermag.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
1 Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe), Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 516.
2 Ebd.
3 Arthur Schopenhauer a. a. O., Band V: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde, S. 95.

Schopenhauer : Krieg und Frieden

Selbst wenn es in einigen Teilen der Welt den Anschein hat, zwischen den Völkern und Staaten sei endlich ein dauerhafter Zustand des Friedens erreicht, so herrscht dennoch überall ununterbrochen Krieg, und zwar im kleinen und im großen. Im Körper jedes Menschen, ja jedes Lebewesens tobt ein Kampf um Leben und Tod. Die derzeitige Corona-Pandemie zeigt es auf besonders schreckliche Weise. Viren bedrohen ständig das Leben, sodass sich das Immunsystem des Körpers hiergegen wehren muss, indem es die überaus gefährlichen Eindringlinge tötet. So ist es überall in der Natur.

Eindrucksvoll wie kaum ein anderer weltberühmter Philosoph hatte Arthur Schopenhauer diesen Kampf ums Überleben beschrieben: „So sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges … Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Tierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher wieder jedes Tier die Beute und Nahrung eines andern wird, … indem jedes Tier sein Dasein nur durch die Aufhebung eines fremden erhalten kann.“ Das gilt auch für „das Menschengeschlecht, weil es alle andern überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht …“1

Wie sehr die zuletzt zitierten Worte Schopenhauers gerade zu Weihnachten zutreffen, zeigt der im christlichen Abendland weithin üblich Brauch, festliche Stunden durch den Genuss einer „Weihnachtsgans“ oder anderer „Festbraten“ zu genießen. Hierbei kommt es darauf an, möglichst nicht daran zu denken, dass diesem „Genuss“ Qual und Tötung vorausgingen. Schlachtung ist zwar kein Kampf, weil das Opfer wehrlos ist, aber sie ist eine Gewalttat! Im christlich geprägten Abendland mag Weihnachten als „Fest des Friedens“ gelten, für die Opfer hingegen ist eine Zeit des Schreckens und des Todes.

Nach dieser überall zu beobachtenden Kette von Gewalt, Kampf und Krieg stellt sich mitunter die schon fast verzweifelte Frage, ob es in dieser Welt überhaupt einen Zustand des Friedens geben kann. Der vermeintliche Pessimist und „Miesmacher“ Arthur Schopenhauer bejaht diese Frage!

Schopenhauer war wohl durch eigene Erfahrungen davon überzeugt: Wer in dieser unfriedlichen Welt endlich Frieden sucht, kann diesen nur in sich selbst finden, und zwar in Augenblicken stiller Besinnung. Es kann dann etwas geschehen, das Schopenhauer mit wunderbaren Worten umschrieben hatte:

„Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntnis gelangt, … so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Überganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigter Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft …“2

Jedoch auch jene, die solche Erfahrungen des inneren Friedens machen konnten, blieben in einer Welt des Unfriedens. Der „Buddhaist“ Arthur Schopenhauer setzte seine Hoffnung auf das, was über diese Welt hinausgeht, aber zugleich auch in uns selbst ist. Die „Buddhaisten“ nennen es Nirwana. Dort ist der wahre Frieden, den – nach buddhistischer Überlieferung – der Buddha erreicht hatte. Für Arthur Schopenhauer war deshalb der Buddha der Siegreich-Vollendete.3

H.B.

Weiteres zu > Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie sowie zur > Weisheit des Buddha.

S. auch > Der Jainismus – eine dem Buddhismus nahestehende Religion der Gewaltlosigkeit (Ahimsa).

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 197 f.
(2) Schopenhauer , a. a. O., Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 507.
(3) Schopenhauers Brief an Julius Frauenstädt vom 2. Jan. 1852 (in: Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. v. Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 273). Dort nannte Schopenhauer die Lehre des Buddha „unsere allerheiligste Religion“.

Upanishaden : Tat tvam asi

Tat tvam asi – drei Sanskritworte, die in den altindischen Upanishaden und auch in Arthur Schopenhauers Philosophie höchst bedeutungsvoll sind. Da die Upanishaden zur philosophischen Grundlage des Vedanta und damit auch des späteren Hinduismus wurden, sind sie auch heute noch in Indien von großer Bedeutung. Außerhalb Indiens wurden die Upanishaden vor allem durch Schopenhauer bekannt, der sie als „Trost seines Lebens“ überaus schätzte. Besonders eng ist der Zusammenhang der in den Upanishaden verkündeten Wahrheit vom Tat tvam asi mit Schopenhauers Ethik:

„Die Leser meiner Ethik wissen“, schrieb Schopenhauer, „daß bei mir das Fundament der Moral zuletzt auf jener Wahrheit beruht, welche im Veda und Vedanta ihren Ausdruck hat an der stehend gewordenen mystischen Formel tat tvam asi (Dies bist du), welche mit Hindeutung auf jedes Lebende, sei es Mensch oder Thier, ausgesprochen wird und dann Mahavakya, das große Wort, heißt.“1

„In dem großen Worte (maha-vakya) tat tvam asi„, so erklärte der Indologe Helmuth von Glasenapp, „liegt der Grundgedanke der Upanishaden beschlossen: die Erkenntnis, daß jedes Einzelwesen in seinem Kern mit dem Allwesen eines ist.“2

Der Kern des Einzelwesens wird in den Upanishaden als Atman und der des Allwesens als Brahman bezeichnet. Vom Brahman, „einer heiligen Kraft, einem unpersönlichen Absoluten“, ist der ganze Kosmos und daher auch jedes einzelne Wesen durchdrungen. In diesem Sinne gilt die zutiefst spirituelle Aussage der Upanishaden: Brahman = Atman und so ist auch das Tat-tvam-asi (wörtlich: Das bist du) zu verstehen.

Für Schopenhauer war die in den Upanishaden verkündeten Einheitslehre von Brahman und Atman eine Bestätigung seiner Philosophie. Hiernach ist alles in der Welt, was als Vielheit wahrgenommen wird, nur eine von unzählig vielen Erscheinungsformen einer metaphysischen Einheit, die Schopenhauer nicht Brahman, sondern Wille nannte. So manifestiert sich dieser metaphysische Wille in jedem Menschen, auch in jedem Tier und jeder Pflanze – oder, wie es in der Chandogya-Upanishad, einer der ältesten Upanishaden, heißt: „Wahrlich, das Brahman ist dieses All.“3

So konnte sich Schopenhauer zurecht auf das Tat tvam asi in den Upanishaden berufen, wenn er in seiner Ethik mit Nachdruck auf die Wesensgleichheit von Mensch und Tier hinwies und dabei den deutlichen Gegensatz zur christlichen Tradition des Abendlandes hervorhob. Dem Christentum mit seiner überaus scharfen Abgrenzung zwischen Mensch und Tier stellte er die in Indien entstanden Religionen gegenüber: „Bei den Hindu und Buddhaisten hingegen gilt die Mahavakya (Das große Wort) Tat tvam asi (Dies bist du), welches allezeit über jedes Thier auszusprechen ist, um uns die Identität des innern Wesens in ihm und uns gegenwärtig zu erhalten, zur Richtschnur unsers Thuns.“4

In diesem Zusammenhang betonte Schopenhauer den fundamentalen Unterschied zwischen dem Christentum einerseits sowie dem Brahmanismus (aus dem später der Hinduismus entstand) und Buddhaismus andererseits:

„Ein anderer, bei dieser Gelegenheit zu erwähnender, aber nicht weg zu erklärender und seine heillosen Folgen täglich manifestirender Grundfehler des Christenthums ist, daß es widernatürlicherweise den Menschen losgerissen hat von der Thierwelt, welcher er doch wesentlich angehört, und ihn nun ganz allein gelten lassen will, die Thiere geradezu als Sachen betrachtend; – während Brahmanismus und Buddhaismus, der Wahrheit getreu, die augenfällige Verwandtschaft des Menschen, wie im Allgemeinen mit der ganzen Natur, so zunächst und zumeist mit der thierischen, entschieden anerkennen und ihn stets, durch Metemspsychose [Seelenwanderung] und sonst, in enger Verbindung mit der Thierwelt darstellen.“5

Das Tat tvam asi bedeutet jedoch mehr als „Verwandtschaft“, nämlich die innere Wesensgleichheit allen Lebens. Diese wirklich zu verstehen, ist nicht einfach, denn die altindische Weisheit des Tat tvam asi widerspricht dem abendländischen, weithin vom Christentum geprägten Denken. Hiernach steht der Mensch als „Krone der Schöpfung“ hoch über dem Tier und der übrigen Natur. Wie sehr das ein verhängnisvoller Irrglaube ist, zeigt die täglich fortschreitende Zerstörung der Tier- und Pflanzenwelt, also der Umwelt, welche die Lebensgrundlage des Menschen ist. Schon hieran wird deutlich, dass die Weisheit der Upanishaden mit dem Tat tvam asi, obwohl mehr als zwei Jahrtausende alt, durchaus nicht veraltet ist.

Arthur Schopenhauer , Manuskript 1826

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie sowie den Upanishaden > hier.

Anmerkungen
(1)
Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band IX: Parerga und Paralipomena II, Kap. 8: Zur Ethik, S. 239.
(2) Helmuth von Glasenapp, Die Religionen Indiens, Stuttgart 1943, S. 113.
(3) Chandogya-Upanishad 3.14.1, zit. aus: Die Weisheit der Upanishaden, aus dem Sanskrit von Karl Friedrich Geldner, hrsg. von Axel Michaels, München 2006, S. 9.
(4) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga … II, Kap. 15: Ueber Religion, § 177: Ueber das Christenthum, S. 411.
(5) Ebd., S. 408.

Zur Ethik des Buddha

Die Ethik ist ein zentraler Teil der Philosophie des – wie er sich selbst nannte – „Buddhaisten“ Arthur Schopenhauer. Schon deshalb hatte für ihn die Ethik des Buddha besondere Bedeutung. In diesem Zusammenhang verglich Schopenhauer die christliche mit der buddhistischen Ethik, wobei er manche Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede feststellte. Vor allem hob er mehrmals lobend hervor, dass im Gegensatz zum Christentum die Tiere in die Ethik des Buddhismus voll einbezogen sind.

In ähnlichem Sinne wie Schopenhauer äußerte sich die Altbuddhistische Gemeinde in der von ihr herausgegebenen Schrift Im Lichte des Meisters – Die Lehre des Buddha in Frage und Antwort. Dort wird zunächst auf einen Begriff verwiesen, der im Mittelpunkt der Ethik des Buddha steht, nämlich Metta. Dieses nur unzureichend übersetzbare Wort aus der altindischen Pali-Sprache bedeutet in der buddhistischen Lehre die allumfassende, also auch die Tiere einschließende Güte.

In der genannten buddhistischen Schrift geht es unter anderem um die Frage: „Sind die buddhistische Metta und die christliche Caritas ein und dasselbe?“

Antwort: „Insoweit sie sich auf die Menschen erstrecken, sind beide gleich. Beide kennen keinen Unterschied des Ranges, der Nationen, der Hautfarbe und der Rassen. Während sich aber die christliche Caritas bewußt nur auf die Menschen beschränkt, gibt es für die buddhistische Metta keine Grenzen: Wo immer auch Leid empfunden wird, ob hier oder in Fixsternenweite, wo immer ein Wesen – sei es Mensch oder Tier – unserer Hilfe , unsere Freundschaft und unser Mitgefühl braucht, so weit reicht auch die buddhistische Metta … Denn in der Buddhalehre ist das Tier, wie es Schopenhauer ausdrückt, nicht das von Grund aus ganz andere als er, sondern im wesentlichen dasselbe wie der Mensch. Er ist im besonderen keine Maschine, keine Sache, sondern ein Leidensgefährte, der unser tiefstes Mitleid verdient.“1

Die Ethik des Buddha unterscheidet sich auch dadurch grundlegend von der des Christentums, dass sie nicht auf göttlichen Ge- und Verboten, sondern auf eigener Erkenntnis beruht. So forderte der Buddha seine Zuhörer auf:

„Richtet euch nicht nach Sammlungen heiliger Überlieferungen, nicht nach eingewurzelten Anschauungen – sondern was ihr selbst als gut oder schlecht erkannt habt, das nehmt an oder gebt auf.“2

Da, wie Schopenhauer in seiner Philosophie immer wieder hervorhob, „die Anschauung die Basis aller Erkenntnis ist“, kommt es in der Ethik des Buddha auf die rechte Anschauung an. Sie ist Teil des Edlen Achtfachen Pfades, den der Buddha als Weg zur Erlösung lehrte.3

Mitleid war für Schopenhauer das Fundament der Ethik, “ denn grenzenloses Miteid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten“.4 Der Buddha hatte es vorgelebt. In einer Schrift über das Leben des Buddha heißt es :

Ohne Stock, ohne Schwert, fühlsam, voll Teilnahme hegt er zu allen lebenden Wesen Liebe und Mitleid. 5

Der wahrscheinlich im 3. Jahrhundert in Sri Lanka geborene buddhistische Philosoph Aryadeva fasste die buddhistische Ethik in einem Wort zusammen: Ahimsa. Hierzu erklärte Helmuth von Glasenapp, Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Abhandlungen über die indischen Religionen, zur Bedeutung der Ahimsa: „Dieses Wort, das auch von Gandhi viel gebraucht wird, heißt an sich Nicht-verletzen, Nicht-schädigen, Niemand etwas zuleide tun, hat aber einen viel weiteren positiven Sinn, es bezeichnet auch die Freundlichkeit, das Wohlwollen, die sich im aktiven Verhalten gegen andere Wesen (einschließlich der Tiere) äußert. … Es bedarf keiner weiteren Ausführungen darüber, daß das, was hier als Kern des Buddhismus herausgestellt wird, sich mit dem Kern von Schopenhauers Lehre in völliger Harmonie befindet. Denn Schopenhauer gründet seine Moral auf das Mitleid, das ´nicht bloß mich abhält, den Andern zu verletzten, sondern mich antreibt, ihm zu helfen`.“6

Nichts zeigt deutlicher als die ethische Einstellung gegenüber Tieren, dass der Atheist Arthur Schopenhauer der atheistischen Ethik des Buddha sehr viel näher stand als der auf Menschen beschränkten christlichen Ethik. Daher konnte Schopenhauer auch im Hinblick auf die Ethik mit Recht feststellen: „Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maaßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern [Religionen] zugestehn.“7

In seinen Schriften zur Ethik schrieb Schopenhauer, er wisse „kein schöneres Gebet“ als das aus dem alten Indien: „Mögen alle lebende Wesen von Schmerzen frei bleiben.“5 Ganz in diesem Geiste des allumfassenden Mitgefühls und durchaus bezeichnend für die Ethik des Buddha ist der alte buddhistische Segenswunsch:

Mögen alle Wesen glücklich sein.

H.B.

Weiteres zu > Arthur Schopenhauer und zur > Lehre des Buddha .


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Symbol der > Altbuddhistischen Gemeinde
Rad der Lehre des Buddha (Edler Achtfacher Pfad)

Anmerkungen
(1) M. Keller-Grimm / Max Hoppe, Im Lichte des Meisters – Die Lehre des Buddha in Frage und Antwort, Hrsg.: Altbuddhistische Gemeinde, Utting/Ammersee 1979, S. 141 f.
S. auch > Arthur Schopenhauer und die Altbuddhistische Gemeinde .
Die negative Einstellung des Christentums zu den Tieren trug erheblich dazu bei, dass der Gründer der Altbuddhistischen Gemeinde, Georg Grimm, sich von der christlichen Kirche abwandte und über Schopenhauer zur tierfreundlichen Lehre des Buddha kam (> Vom Priesterseminar zur Buddhalehre) .
(2) Helmuth von Glasenapp, Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte, Düsseldorf/Köln 1974, S. 57 f.
(3) Weiteres zum > Edlen Achtfachen Pfad (der Vierten Edlen Wahrheit des Buddha).
(4) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe), Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik / Preisschrift über die Grundlage der Moral, Zürich 1977, S. 275.
(5) Hellmuth Hecker , Das Leben des Buddha, Der innere und äußere Lebensgang des Erwachten dargestellt nach den ältesten indischen Quellen, Buddhistisches Seminar Hamburg 1973, S. 393.
Der Verfasser, der ein bekannter Vertreter des Buddhismus in Deutschland war, betonte in seinem Buch, in dem er auf die „liebevolle Gesinnung“ des Buddha gegenüber Tieren hinwies, deutlich den Gegensatz zum Christentum. So zitierte er z. B. (auf S. 393) aus Martin Luthers Tischgesprächen: „Alle Wälder und Hölzer sind unsere Jägerei … Denn es ist alles um unser, der Menschen Willen geschaffen.“ Hingegen „nahm der Buddha immer wieder … die verschiedensten Begebenheiten zum Anlaß, um die Menschen – Mönche wie Laien – daran zu erinnern, daß auch Tiere fühlende Mitwesen sind, die wie jedes Wesen Qual scheuen und Wohl suchen“(S. 395).
(6) Helmuth von Glasenapp , Schopenhauer und Indien, in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 1955, S. 46 f.
S. auch: Herbert Becker , Buddhismus und Jainismus – Die Religionen der Ahimsa, in: Zurück zur Natur Religion? Wege zur Ehrfurcht vor allem Leben, hrsg. von Holger Schleip, Freiburg i. B. 1986, S. 178 ff. (Kurzfassung > hier).
(7) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 197.

Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit

Als Arthur Schopenhauer 1851, also in seinem letzten Lebensjahrzehnt, seine Aphorismen zur Lebensweisheit als Teil seines Spätwerks Parerga und Paralipomena veröffentlichte, war er ein noch fast unbekannter Philosoph, denn sein philosophisches Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, das mehr als 30 Jahre zuvor erschien, wurde zu seiner großen Enttäuschung nur wenig beachtet.

Die Öffentlichkeit hatte zu jener Zeit an Schopenhauers Philosophie nur wenig Interesse, was auch darin begründet sein mag, dass seine Lehre – worauf er ausdrücklich hinwies – Kants (nicht einfach zu verstehende) Philosophie voraussetzt.1 Hinzu kommt, dass es im Kern seiner Philosophie, um, wie das Kapitel 48 seines Hauptwerkes lautet, die „Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben“ geht.

So ist es verständlich, dass eine Philosophie, bei der die Verneinung des Lebenswillens die Bedingung für eine Erlösung aus der Welt des Leides ist, kaum allgemeine Zustimmung finden kann. Schopenhauer konnte das allerdings auch nicht erwarten, denn Lebensbejahung ist nach seiner Philosophie Voraussetzung für das Leben selbst, weil „wenn Wille da ist, wird auch Leben, Welt daseyn. Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiß“.2 Dementsprechend sieht die große Mehrheit der Menschen trotz allen Leides die Lebensbejahung als positiv an und wertet die „Verneinung des Willens zum Leben“ als negativ, ja als eine krankhafte und somit therapiebedürftige Lebenseinstellung.

Völlig anders hingegen sind Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit! Hier versetzt sich Schopenhauer in die Lage der vielen Menschen, die zwar das Leben als leidvoll ansehen, aber dennoch voller Lebensbejahung sind. Bereits in der Einleitung zu seinen Aphorismen wies er darauf hin, dass er „den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich“ so nehme, dass darunter zu verstehen sei, die „Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen“. Seine Aphorismen seien „demnach die Anweisung zu einem glücklichen Daseyn“. Um jedoch, so fügte er hinzu, „eine solche … ausarbeiten zu können, habe ich daher gänzlich abgehn müssen von dem höhern metaphysisch-ethischen Standpunkte, zu welchem meine eigentliche Philosophie hinleitet“.3

Seine Aphorismen wurden – und sind es auch heute noch – ein Welterfolg. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass Schopenhauer weltberühmt wurde, was auch dazu führte, dass seine eigentliche Philosophie – von der er ja in seinen Aphorismen habe „gänzlich abgehn müssen“ – zunehmend bekannter wurde.

Selbst die Universitätsphilosophie konnte es nun nicht mehr ganz vermeiden, von Schopenhauer Kenntnis zu nehmen. So konnte der durch jahrzehntelanges Ignorieren fast schon verbitterte Schopenhauer 1854 in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Schrift Über den Willen in der Natur feststellen, dass das „Publikum“ endlich Anteil an seiner Philosophie genommen habe, wobei er mit dem ihm eigenen Humor hinzufügte: „Nichtsdestoweniger habe ich den Philosophieprofessoren eine betrübte Nachricht mitzutheilen: Ihr Kaspar Hauser, den sie, beinahe vierzig Jahre hindurch, von Licht und Luft so sorgfältig abgesperrt hatten, daß kein Laut sein Daseyn der Welt verrathen konnte, – ihr Kaspar Hauser ist entsprungen!“4

Auch für die, deren Interesse vor allem Schopenhauers Hauptwerk gilt, sind dessen Aphorismen von besonderem Wert. So schrieb der sehr verdienstvolle Schopenhauer-Forscher Arthur Hübscher in seiner Biografie über Schopenhauer, die Aphorismen seien der „weise-gelassene und zugleich blendende Rechenschaftsbericht über die Erfahrungen eines ganzen Lebens, mit dem wir dem menschlichen Bilde Schopenhauers näher sind als je“.5

Ebenfalls durchaus positiv zu Schopenhauers Aphorismen äußerte sich Wolfgang Schirmacher im von ihm herausgegebenen Insel-Almanach 1985 :

„Mit seinen Aphorismen zeigt der Philosoph, daß seine Einsichten auch denjenigen zugutekommen können, die weder als Heilige noch als Genies geboren wurden. Zudem wird deutlich, daß Schopenhauer sich nicht etwa von der Welt abwandte, weil er sie nie richtig kennengelernt hatte, sondern im Gegenteil, weil sie ihm zu gut bekannt war. Über wieviel geschliffenen Witz und hintergründiger Ironie dieser ernsthafte Philosoph verfügte, läßt sich nirgendwo eindrucksvoller ablesen …“6

In seinem 1926 erschienenen Buch, das „nach wie vor eine der besten Gesamtdarstellungen“ zu Schopenhauers Leben und Werk ist, nahm der Philosoph Heinrich Hasse ausführlich zu Schopenhauers Aphorismen Stellung:

„Diese Betrachtungen [in den Aphorismen] stehen den Ergebnissen der Ethik Schopenhauers keineswegs beziehungslos oder gar widerspruchsvoll gegenüber. Sie bewegen sich vielmehr ganz ausdrücklich uns vollbewußt auf dem Boden der Bejahung des Willens, auf welchem derselbe einer metaphysisch vertieften Orientierung noch nicht teilhaftig geworden ist. Sie zeigen die Aussichten des Menschen, ein relativ glückliches, d. h. schmerzenfreies und positiv wertvolles Leben zu führen unter den Gesichtspunkten: Von dem, was einer ist; Von dem, was einer hat; Von dem, was einer vorstellt, und gelangen auf dem überall durchschimmernden Hintergrunde pessimistischer Lebensbetrachtung zu einer wohlerwogenen Abschätzung dessen, was die vermeintlichen Quellen sogenannten Glückes zu unserer wahren Wohlfahrt beitragen.

Nicht Reichtum und Besitz als solche (das, was einer hat); nicht Rang, Ehre und Ruhm (das, was einer vorstellt), sondern der innere Reichtum der Persönlichkeit, insbesondere die intellektuelle Ausstattung derselben (das, was einer ist), bildet die allein echte und zuverlässige Grundlage jenes tiefer verstandenen Erdenglückes, welches dem Sterblichen vergönnt ist…

Die Rechenschaft über die Grundbedingungen des menschlichen Glückes, welche Schopenhauer in den Aphorismen zur Lebensweisheit zu geben sucht, zeigt den Denker als Kenner des Menschen und als Kritiker menschlicher Vorurteile in voller Größe. Hier reiht er sich den großen Analytikern der menschlichen Seele der Vorzeit, praktischen Weltweisen vom Schlage Montaignes, Larochefoucaulds, Chamforts, Lichtenbergs an…

Von klarem Wirklichkeitssinn erfüllt, gibt diese Lebensweisheit Einblicke in die Zusammenhänge menschlicher Existenz, welche einen unvergänglichen Beitrag zur Deutung derselben darstellen. Das gilt selbst von den Paränesen [Ermahnungen] und Maximen [im Kap. V. der Aphorismen], in welchen der Niederschlag eigenster Lebenserfahrung zu allgemeinen Grundsätzen gesteigert ist. Stilistisch zeigt sich Schopenhauer in den Aphorismen zur Lebensweisheit in vollendeter Meisterschaft. Der Klarheit und Treffsicherheit seiner Gedanken und der klassischen Ursprünglichkeit seiner Urteile entspricht eine sprachliche Fassung derselben, die in ihrer schlichten Prägnanz und inneren Notwendigkeit einzig dasteht.“7

Zu den Aphorismen Arthur Schopenhauers, die für seine persönliche Lebenseinstellung wohl besonders charakteristisch sind, gehört auch diese Lebensweisheit:

Der Tor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: Der Weise vermeidet die Übel. 8

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Vorrede zur ersten Auflage, S. 11.
(2) Schopenhauer , a. a. O., Band II, S. 347 f.
(3) Schopenhauer , a. a. O., Band VIII: Parerga und Paralipomena I / Aphorismen zur Lebensweisheit , S. 343.
(4) Schopenhauer , a. a. O., Band V: Ueber den Willen in der Natur (Kleinere Schriften I), S. 185.
(5) Arthur Hübscher , Schopenhauer / Ein Lebensbild, 2. Auflage, Wiesbaden 1949, S. 96.
(6) Wolfgang Schirmacher (Hrsg.), Insel-Almanach für das Jahr 1985 / Schopenhauer , 1. Aufl., Frankfurt am Main 1985, S. 15.
(7) Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 401-403.
Weiteres zu > Heinrich Hasse.
(8) Schopenhauer , a. a. O., Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 443.

Die Macht des Schicksals

Das Schicksal, so erklärte Arthur Schopenhauer, sei eine Macht, die allgewaltig ist: „Die Alten“, womit er die antiken Philosophen meinte, „werden es nicht müde, in Versen und in Prosa, die Allgewalt des Schicksals hervorzuheben, wobei sie auf die Ohnmacht des Menschen, ihm gegenüber, hinweisen“1.

Gerade weil die Macht des Schicksals so allgewaltig ist, wäre der Kampf des Menschen mit dem Schicksal „die lächerlichste aller Vermessenheiten, … so daß [der von Schopenhauer sehr geschätzte englische Dichter] Byron vollkommen Recht hat zu sagen: Zudem wäre, gegen unser Schicksal anzukämpfen, ein Kampf, wie wenn die Garbe sich der Sichel widersetzen wollte“.2

Zur Bekräftigung seines Standpunktes wies Schopenhauer auf eine Erfahrung hin, die wohl jeder früher oder später in seinem Leben machen muss: „Wenn wir auf unsern zurückgelegten Lebensweg zurücksehn und zumal unsere unglücklichen Schritte, nebst ihren Folgen ins Auge fassen; so begreifen wir oft nicht, wie wir Dieses tun, oder Jenes unterlassen können; so daß es aussieht, als hätte eine fremde Macht unsre Schritte gelenkt.“3

Diese „fremde Macht“ hat in den Philosophien und Religionen unterschiedliche Namen. Schopenhauer nannte sie Schicksal und zitierte in diesem Zusammenhang aus Goethes Egmont, wo es heißt: „Es glaubt der Mensch sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen; und sein Innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksale gezogen.4

Die obigen Zitate sind zumeist aus dem Kapitel Ueber die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksal des Einzelnen in Schopenhauers Spätwerk Parerga und Paralipomena I. Um nicht zu einem durch Fatalismus und Hoffnungslosigkeit gekennzeichneten Gesamteindruck zu kommen, ist es wichtig, hierbei auch auf Schopenhauers berühmte Aphorismen zur Lebensweisheit hinzuweisen. Dort, und zwar im Abschnitt Unser Verhalten gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffend, heißt es :

„Unser Lebensweg ist dem Lauf eines Schiffes zu vergleichen. Das Schicksal … spielt die Rolle des Windes, indem sie uns schnell weit fördert, oder weit zurückwirft; wogegen unser eigenes Mühen und Treiben nur wenig vermag. Dieses nämlich spielt dabei die Rolle der Ruder: wenn solche durch viele Stunden langes Arbeiten, uns eine Strecke vorwärts gebracht haben, wirft ein plötzlicher Windstoß uns eben so weit zurück. Ist er hingegen günstig, so fördert er uns dermaßen, daß wir der Ruder nicht bedürfen.“5)

Im gleichen Abschnitt, aus dem das obige Zitat stammt, hatte Schopenhauer durch weitere sehr anschauliche Gleichnisse verdeutlicht, dass unser Verhalten gegenüber dem Schicksal nicht durch völlige Passivität bestimmt sein muss, denn: „Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen.“6 Am „geeignetsten“ hielt Schopenhauer jedoch das folgende Gleichnis:

„Es ist im Leben wie im Schachspiel: Wir entwerfen einen Plan. Dieser bleibt jedoch bedingt durch Das, was im Schachspiel dem Gegner, im Leben dem Schicksal, zu tun belieben wird. Die Modifikationen, welche hierdurch unser Plan erleidet, sind meistens so groß, daß er in der Ausführung kaum noch an einigen Grundzügen zu erkennen ist.“7

Selbst wenn, wie Schopenhauer im obigen Gleichnis erklärte, der Plan eines Menschen oft vom Schicksal sehr erheblich abgewandelt wird, zeigt das Gleichnis auch, dass das Schicksal diesen Plan nicht unbedingt in allen Fällen gänzlich durchkreuzt und deshalb auch nicht jedes Planen von vornherein sinnlos ist. Gerade dieses Gleichnis, das Schopenhauer für besonders geeignet hielt, spricht – zumindest nach meinem Verständnis – nicht für eine völlig fatalistische Lebenseinstellung. Trotz der Macht des Schicksals, bleibt Raum für eine aktive Lebensgestaltung.

Fast am Ende seiner Aphorismen schrieb Schopenhauer Worte, die besonders gern und oft zitiert werden: „Was aber die Leute gemeiniglich das Schicksal nennen, sind meistens nur ihre eignen dummen Streiche.“8 Indem wir solche „dummen Streiche“ möglichst vermeiden und uns zum Beispiel etwas mehr an die von Schopenhauer in seinen Aphorismen empfohlenen Lebensweisheiten halten, kann sich uns eine Chance bieten, die Macht des Schicksals in unserem Sinne zu beeinflussen:

Schopenhauer zeigte das sehr anschaulich in einem der oben erwähnten Gleichnisse, wo er den Lebensweg des Menschen mit dem Lauf eines Schiffes und die Macht des Schicksals mit der des Windes verglich. Dieses verdeutlicht auch, wie wichtig, ja lebensnotwendig es ist, das Schiff nicht durch den Wind einfach treiben zu lassen. Vielmehr kommt es darauf an, tätig zu werden, das heißt, das Schiff an den gefahrvollen Klippen vorbei zu steuern, um es an ihnen nicht zerschellen zu lassen.

So gilt es überall im Leben, nicht resignierend die Hände in den Schoß zu legen, sondern den „günstigen Wind“, die Gunst des Schicksals, zu nutzen. Jedenfalls gehört das für mich zur Lebensklugheit und damit auch zur Lebensphilosophie Arthur Schopenhauers.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürcher Ausgabe, Zürich 1977, Band VII: Parerga und Paralipomena I, S. 229.
(2) Schopenhauer, a. a. O., Band X: Parerga … II, S. 480 f.
(3) Schopenhauer, a. a. O., Band VII, S. 228.
(4) Ebd., S. 229.
(5) Schopenhauer, a. a. O., Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 509.
(6) Ebd., S. 510.
(7) Ebd., S. 510.
(8) Ebd., S. 516.

Schopenhauer : Natur und Mensch

„Wie ästhetisch ist doch die Natur!“ – schrieb Arthur Schopenhauer voller Bewunderung angesichts der Schönheit der Natur:

„Jedes ganz unangebaute und verwilderte, d. h. ihr selber frei überlassene Fleckchen, sei es auch klein, wenn nur die Tatze des Menschen davon bleibt, dekoriert sie alsbald auf die geschmackvollste Weise, bekleidet es mit Pflanzen, Blumen und Gesträuchen, deren ungezwungenes Wesen, natürliche Grazie und anmutige Gruppierung davon zeugt, daß sie nicht unter der Zuchtrute des großen Egoisten aufgewachsen sind, sondern hier die Natur frei gewaltet hat.“ (1)

Der „große Egoist“, unter dessen „Zuchtrute“ die Natur leidet, ist der Mensch. Leider kann er sich hierbei durch die Religion gerechtfertigt fühlen, „denn es ist“, wie Martin Luther sagte, „Alles um unser, der Menschen, Willen geschaffen“. (2) Luther konnte sich dabei auf die Bibel berufen, wo es zum Beispiel in der Genesis (1,28) heißt:

„Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht!“

Im Gegensatz zu manchen ökologisch orientierten Christen, denen dieses Zitat ziemlich unangenehm ist, blieb Schopenhauer bei der Wahrheit und versuchte nicht, es zu beschönigen, also etwa durch abwegige Auslegungen den eindeutigen Wortlaut umzuinterpretieren. So sah Schopenhauer, dem das Wohl auch der Tiere am Herzen lag, in dieser Bibelstelle einen „Grundfehler des Christentums“, weil hiernach „der Schöpfer … sämtliche Tiere, ganz wie Sachen und ohne alle Empfehlung zu guter Behandlung, … dem Menschen übergibt, damit er über sie herrsche, also mit ihnen tue, was ihm beliebt“. (3)

„Mehret euch und füllet die Erde“ – die Menschen haben diesen vermeintlich göttlichen Auftrag erfüllt und erfüllen ihn weiter! Wohin diese unbegrenzte Vermehrung auf einer begrenzten Erde mit begrenzten Ressourcen führt, muss nicht näher erläutert werden. Die katastrophalen Folgen sind offenbar.

Weit mehr noch als zu Zeiten Schopenhauers wird immer deutlicher: die „Tatze des Menschen“ lässt kaum noch ein Fleckchen Natur unberührt. Das ist nicht nur zum Schaden der Natur, sondern auch des Menschen, denn er ist ja selbst – wie Tier und Pflanze – ein untrennbarer Teil der Natur!

Wie kaum ein anderer weltbekannter Philosoph hatte Arthur Schopenhauer die Einheit allen Lebens in seiner Philosophie hervorgehoben und dabei den angemaßten Anspruch des Menschen, Herrscher über die übrige Natur zu sein, entschieden zurückgewiesen.

Gerade die heutigen Diskussionen über mehr Umwelt- und Klimaschutz, über die Vernichtung der tropischen Regenwälder oder andere gewaltige Zerstörungen der Natur zeigen, wie Recht der Philosoph Max Horkheimer hatte, als er in einem Vortrag meinte:

Das Denken Schopenhauers ist unendlich aktuell. (4)

H.B.

Weiteres zum Thema Natur in Schopenhauers Schriften > hier .

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 33: Vereinzelte Bemerkungen über die Naturschönheit, S. 478.
(2) Vollständiges Luther-Zitat in: D. Martin Luther´s Tischreden oder Colloquia, hrsg. und erl. von Karl Eduard Förstemann, Leipzig 1844, S. 141.
(3) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X: Parerga und Paralipomena II, § 177: Ueber das Christenthum, S. 408 f.
Mehr zum Thema Schopenhauer und die Tiere > hier.
(4) Zit. aus: Über Arthur Schopenhauer , hrsg. von Gerd Haffmans, 3. Aufl., Zürich 1977, S. 159.

Magnus Schwantje : Schopenhauer und Tierschutz

Dass der tierliebende Arthur Schopenhauer zu den ersten Mitgliedern der in Deutschland gerade gegründeten Tierschutzvereine gehörte, wurde in diesem Blog schon erwähnt. Deshalb ist es verständlich, wenn Schopenhauerianer ein Herz für Tiere haben. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist Magnus Schwantje, der sich um den neuzeitlichen Tierschutz sowie den ethischen Vegetarismus sehr verdient gemacht hatte und zu einem Wegbereiter für die heutige Tierrechtsbewegung wurde.

Magnus Schwantje

Magnus Schwantje
(1877-1959)

Schwantje ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Bezeichnung Schopenhauerianer nicht bedeutet, blind an Schopenhauers Philosophie zu glauben und dementsprechend von vornherein alles völlig kritiklos zu übernehmen, was von dem hochverehrten Philosophen kommt. Das wäre auch nicht in Schopenhauers Sinne, denn dieser erwartete von seinen Anhängern, dass sie „Selbstdenker“ sind – und Magnus Schwantje war das in hohem Maße.

Wie sehr Schwantje trotz einiger Kritik am Philosophen doch im Grunde überzeugter Schopenhauerianer war, zeigte sich auch daran, dass er bereits bei der Gründung oder sehr bald danach in die Schopenhauer-Gesellschaft eintrat und in derem ersten Jahrbuch einen Beitrag unter der Überschrift Der Pessimismus in der Ethik veröffentlichte.(1) Dort schrieb Schwantje:

„Es ist betrübend zu sehen, wie viele sittlich strebende Menschen in unserer Zeit eine philosophische Begründung ihres sittlichen Wollens und eine Richtschnur für ihr Handeln in den seichten Werken von Modeschriftstellern suchen, während die unermeßlichen Schätze der Werke Schopenhauers ihnen unbekannt bleiben.

In unserer Zeit wird allerdings oft die Ansicht ausgesprochen, daß die Lehren Schopenhauers auf das sittliche Streben nur unheilvoll wirken könnten, da eine pessimistische Weltanschauung, wie sie in seinen Werken dargestellt sei, die Tatkraft lähme; ja, oft wird der Pessimismus sogar als die Frucht einer materialistischen und egoistischen Gesinnung hingestellt. Tatsächlich muß gerade ein idealistisch gesinnter und mitleidiger Mensch, wenn er mutig und unbefangen die Wahrheit erforscht, zu einer pessimistischen Weltanschauung kommen; und gerade diese erzeugt den höchsten Opfermut. Wer von der Wirklichkeit befriedigt wird, kann kein Bedürfnis fühlen, sich ein Ideal zu bilden und ihm nachzustreben.

Freilich kann der Pessimismus auch das Ergebnis von Enttäuschungen egoistischen Strebens sein, und dann bestärkt er meistens die Selbstsucht des Menschen. Aber ein Pessimismus, der aus einer idealistischen und altruistischen Gesinnung erwächst, lähmt nicht den Trieb zum Wirken. Ebenso wie die Erkenntnis der Beschränktheit unseres Intellektes nicht den Trieb vernichtet, alles zu erforschen, was unserer Erkenntnis erreichbar ist, so kann die Erkenntnis, daß alle Liebestätigkeit die schlimmsten Übel der Welt nicht ausrotten kann, nicht den Trieb lähmen, diejenigen Leiden zu verhüten, die wir verhüten können; ja, gerade eine pessimistische Weltanschauung führt oft zu dem Verzicht auf eigenes Glück, der alle Kräfte frei macht zum Wirken für andere.

Während also die Furcht vor dem Pessimismus Schopenhauers in den meisten Fällen einer kurzsichtigen Denkweise entspringt, haben einige seiner politischen Ansichten und seiner Ansichten über die Frauen gerade viele derjenigen Menschen von einer Prüfung seiner Werke zurückgehalten, denen Schopenhauer eine Klärung und Vertiefung ihrer eigenen Anschauungen und eine erhebende, tröstende und stärkende Erbauung geben könnte.

Wie die Werke jedes andern philosophischen Genies, sind auch die Schopenhauers nicht frei von Fehlern; und zu diesen rechne ich hauptsächlich einige seiner politischen Ansichten und seiner Ansichten über die Frauen. Aber den wenigen einseitigen und übertreibenden Urteilen steht in Schopenhauers Werken eine Fülle der tiefsinnigsten Lehren gegenüber, wie wir sie kaum in den Werken irgend eines andern Menschen finden.“

Besonderes Interesse hatte Schwantje für Schopenhauers Einstellung zu den Tieren und zum Tierschutz. So gab er 1919 eine Schrift unter dem Titel Schopenhauer´s Ansichten von der Tierseele und vom Tierschutz heraus:

Schwantje, der von 1901 bis 1904 Vorsitzender des Berliner Tierschutzvereins und 1907 Gründer der Gesellschaft zur Förderung des Tierschutzes (seit 1919 Bund für radikale Ethik) war, sah in der Philosophie Schopenhauers, und zwar vor allem in dessen Mitleidsethik, die „wissenschaftliche Begründung“ und „kräftigste Stütze“ in seinem Kampf für den Schutz der Tiere. Hierzu schrieb er in dem schon genannten Beitrag im Schopenhauer-Jahrbuch:

„Auch seine [Schopenhauers] Moral-Philosophie gehört zu dem Wertvollsten, was je ein Genie der Menschheit gegeben hat. Es würde einen höchst segensreichen Einfluß auf die sittliche Entwicklung der Menschheit ausüben, wenn diese Lehre allgemeine Anerkennung fände. Insbesondere die Erkenntnis, daß wir den Antrieb zu allem moralischen Handeln nicht durch ein Gebot der Vernunft, sondern durch das Mitleid empfangen, würde die Menschen befähigen, sowohl die Handlungen des Einzelnen, wie die politischen und sozialen Verhältnisse und die Bestrebungen ethischer Vereine mit tieferem moralischem Verständnis zu beurteilen. Sie würde auch bewirken, daß die Menschen jedes Wesen nicht nach dem Grade seiner Fähigkeit zum abstrakten Denken, sondern nach dem Grade seines Mitgefühls schätzen und lieben, und daß sie an den Leiden und Freuden aller Wesen, nicht nur der Menschen, inniger teilnehmen.

Damit wäre auch die Scheidewand niedergerissen, welche der Mensch hochmütig zwischen sich und der Tierwelt aufgerichtet hat ; denn wenn auch die Erkenntniskraft des Menschen die der Tiere weit überragt, so sehen wir doch bei unbefangener Beobachtung, daß die Tiere ebensosehr wie wir Lust und Schmerz fühlen, und daß sie heute durch die Schuld des Menschen schwer leiden.

Die Änderung der Ansichten von den Tieren und die dadurch bewirkte Verstärkung der Bestrebungen zum Schutze der Tiere, insbesondere des Vegetarismus, des Kampfes gegen die Vivisektion und des Kampfes gegen das Jagdvergnügen, würden aber nicht nur eine ungeheure Menge von Qualen unschuldiger Wesen beseitigen, sondern auch sowohl die Lebensführung wie die Anschauungen der Menschheit wesentlich umgestalten und veredeln. Alle diese und ähnliche Bestrebungen finden ihre wissenschaftliche Begründung und damit ihre kräftigste Stütze in der Philosophie Schopenhauers.“

Gestützt auf Schopenhauers Philosophie wurde Schwantje, wie es auch Schopenhauer selbst war, zu einem Wegbereiter für die heutige Tierrechtsbewegung.(2) Sein oben zitierter Beitrag erschien vor mehr als 100 Jahren. Dennoch hat das, was Schwantje dort zu Schopenhauer und seiner Philosophie schrieb, nichts an Aktualität verloren. Besonders gilt das auch für den letzten Absatz von Schwantjes Beitrag, denn das Leid der Tiere ist seitdem nicht geringer geworden. Ein umfassender und wirksamer Tierschutz, für den sich Magnus Schwantje zeitlebens mit all seiner Kraft einsetzte, ist notwendiger denn je, und hierbei kann Arthur Schopenhauers Mitleidsethik, da sie auch die Tiere als die „Brüder des Menschen“ einbezieht, die beste Begründung und kräftigste Stütze sein.(3)

H.B.

Weiteres
> Magnus-Schwantje-Archiv
> Arthur-Schopenhauer-Studienkreis
> Tierrechte-Tierethik

Anmerkungen

(1) Erstes Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft, Kiel 1912, S. 58 ff.
Dieses Jahrbuch wurde ausgegeben am 22. Febr. 1912. Es enthält ein Mitgliederverzeichnis, in welchem Schwantje aufgeführt ist. Da die Gesellschaft am 30. Okt. 1911 gegründet wurde, ist Schwantje entweder bei der Gründung oder kurz danach ihr beigetreten.

(2) > Schopenhauer – ein Wegbereiter für Tierrechte .

(3) Magnus Schwantjes obiger Beitrag wurde nicht nur im Schopenhauer-Jahrbuch, sondern fast wortgleich auch im ersten Heft (1. Jg., Jan.-Febr. 1912) der von ihm herausgegebenen Monatsschrift Ethische Rundschau veröffentlicht. Gleich die erste Seite dieser Schrift zeigt als Titelbild Arthur Schopenhauer mit einem sich auf dessen allumfassender Mitleidsethik beziehenden Schopenhauer-Zitat: Das Mitleid ist die alleinige echt moralische Triebfeder. – Die von mir aufgestellte moralische Triebfeder bewährt sich als die echte … dadurch, daß sie auch die Tiere in ihren Schutz nimmt.

Schopenhauers einsamer Pfad zur Philosophie

Sehr anschaulich beschrieb Arthur Schopenhauer den steinigen, dornenvollen und auch einsamen Pfad, der zu den Höhen der Philosophie führt. Um 1810, am Beginn seines philosophischen Lebensweges, auf dem er später zum weltberühmten Philosophen wurde, notierte Schopenhauer seine Gedanken, die ihm auf einer Reise in den Sinn kamen:

„Die Philosophie ist eine hohe Alpenstraße, zu ihr führt nur ein steiler Pfad über spitze Steine und stechende Dornen; er ist einsam und wird immer öder, je höher man kommt, und wer ihn geht, darf kein Grausen kennen, sondern muß alles hinter sich lassen und sich getrost im kalten Schnee seinen Weg selbst bahnen. Oft steht er plötzlich am Abgrund und sieht unten das grüne Thal: dahin zieht ihn der Schwindel gewaltsam hinab: aber er muß sich halten und sollte er mit dem eigenen Blut die Sohlen an den Felsen kleben. Dafür sieht er bald die Welt unter sich, ihre Sandwüsten und Moräste verschwinden, ihre Unebenheiten gleichen sich aus, ihre Mißtöne dringen nicht hinauf, ihre Rundung offenbart sich. Er selbst steht in reiner, kühler Alpenluft und sieht die Sonne, wenn unten noch schwarze Nacht liegt.“ (*)

Schopenhauers Weg, der ihn als Philosoph auf den Gipfel der Weltberühmtheit führte, war bis zu seinem letzten Lebensjahrzehnt ziemlich einsam. Er wurde von den maßgebenden Universitätsphilosophen kaum zur Kenntnis genommen, überwiegend sogar abgelehnt, und seine Bücher, darunter auch sein philosophisches Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, blieben fast unverkäuflich. Erst sein Spätwerk mit seinen Aphorismen zur Lebensweisheit brachte den Durchbruch. Er wurde nun besonders durch seine lebensphilosophischen Schriften weit über die engen Grenzen der akademischen Philosophie bekannt, ja weltbekannt.

So ist Arthur Schopenhauer ein Beispiel dafür, dass man seinen Weg zur Wahrheit und Erkenntnis auch dann fortsetzen sollte, wenn er zur Einsamkeit führt. Letztlich kommt es ja nicht allein auf Berühmtheit, akademische Anerkennung und andere Äußerlichkeiten an. Weit wichtiger ist es, auf einem mehr oder weniger einsamen Weg zu einer Lebensphilosophie zu kommen, mit der sich etwas leichter leben und am Ende vielleicht auch etwas ruhiger sterben lässt.

H.B.

Weiteres > Schopenhauer und seine Philosophie

Anmerkung
(*) Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden,
hrsg. von Arthur Hübscher, München 1985, Band 1: Frühe Manuskripte, S. 14.


Die altindischen Upanishaden – Schopenhauers Trost

„Ich gestehe“, notierte Arthur Schopenhauer 1816 in sein Manuskript, “ daß ich nicht glaube, daß meine Lehre je hätte entstehn können, ehe die Upanishaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten.“(1)

Schopenhauer nannte im obigen Zitat die Upanishaden an erster Stelle, also noch vor den von ihm hochgeschätzten Philosophen Platon und Kant. Das ist kein Zufall, denn die Upanishaden, diese Weisheitstexte aus dem alten Indien, die als Teil der heiligen Veden zum Kern der Philosophie des heutigen Hinduismus wurden, waren für Schopenhauers Leben und Werk von zentraler Bedeutung.(2)

Upanishaden : Symbol OM

Upanishaden
Symbol OM

Schopenhauer lernte jedoch die Upanishaden nicht in ihrer ursprünglichen Sprache, dem altindischen Sanskrit, sondern zunächst nur in ihrer lateinischen Übersetzung, Oupnekhat genannt, kennen. Jedoch diese Fassung in Latein ist auch nur eine Übersetzung, und zwar aus dem Persischen, welches vorher aus dem Sanskrit übersetzt wurde. Trotz dieser mehrfachen sprachlichen Übertragung, die zugleich auch eine Interpretation und Auswahl aus den ursprünglichen Upanishaden bedeutete, war Schopenhauer gerade von dieser Fassung überaus beeindruckt. So schrieb er voll innerer Ergriffenheit noch in seinem Spätwerk:

„Denn, wie atmet doch der Oupnekhat durchweg den heiligen Geist der Veden! Wie wird doch Der, dem, durch fleißiges Lesen, das Persisch-Latein dieses unvergleichlichen Buches geläufig geworden, von jenem Geist im Innersten ergriffen! Wie ist doch jede Zeile so voll fester, bestimmter und durchgängig zusammenstimmender Bedeutung! Und aus jeder Seite treten uns tiefe, ursprüngliche, erhabene Gedanken entgegen, während ein hoher und heiliger Ernst über dem Ganzen schwebt. Alles atmet hier Indische Luft und ursprüngliches, naturverwandtes Dasein. … Es ist die belohnendeste und erhebendeste Lektüre, die (den Urtext ausgenommen) auf der Welt möglich ist: sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.“(3)

Schopenhauer sah in den Upanishaden, vor allem in der Fassung des Oupnekhats, nicht nur eine Bestätigung, sondern darüber hinaus auch eine wichtige Ergänzung seiner Philosophie:

„Wer … zu der Erkenntnis, bis zu welcher allein die Philosophie [und damit auch seine eigene] ihn leiten kann, … Ergänzung wünscht, der findet sie am schönsten und reichlichsten im Oupnekhat.“(4)

Die Menschen haben, wie Schopenhauer zurecht darauf hinwies, gerade im Hinblick auf die „erschreckende Gewissheit des Todes“ ein „metaphysisches Bedürfnis„.(5) Die Upanishaden können dieses Bedürfnis weitgehend erfüllen, denn sie geben Antworten auf metaphysische, die Grenzen von Schopenhauers Philosophie überschreitende Fragen. Sie gehören zur Metaphysik, bei der es laut Schopenhauer um „die letzte Erklärung der Urphänome“ und somit auch darum geht, „Aufschluß zu ertheilen über Das, was hinter der Natur steckt“.(6) Es sind existenzielle Fragen, welche die Menschheit seit jeher bedrängen:

  • Woher komme ich und wohin gehe ich?
  • Was ist nach meinem Tode?
  • Gibt es einen Weltanfang und einen Weltuntergang, die sich vielleicht sogar ständig einander ablösen?
  • Was ist das Innerste, die Seele, des Menschen, ja aller Wesen?
  • Beruht letztlich alles auf einer EINHEIT – egal ob man sie Wille, das Brahman oder anders nennt – die unvergänglich ist und sich in allen vergänglichen Erscheinungen dieser Welt manifestiert?

Wie sehr solche und ähnliche Fragen sowie die Antworten, welche die Upanishaden auf sie geben, schon fast in den religiösen Bereich übergehen, zeigte sich am Beispiel Schopenhauers. Über ihn berichtete sein Biograf, Wilhelm v. Gwinner, der Schopenhauer noch persönlich kannte:

„Das Oupnekhat lag auf seinem Tisch, und vor dem Schlafengehen verrichtete er darin seine Andacht.“(7)

Überall in der Welt ist furchtbares Leid von Mensch und Tier – eine Tatsache, die völlig unvereinbar ist mit der angeblichen Existenz eines allgütigen und zugleich allmächtigen Gottes. Schopenhauer hat diesen Zusammenhang, der als Theodizee bezeichnet und von den theistischen Religionen möglichst verdrängt wird, in seiner Philosophie ausführlich dargelegt.(8) Es ist deshalb naheliegend, dass das Christentum für Schopenhauer keinen Trost bieten konnte. Den gaben ihm hingegen die Upanishaden, die Quelle spiritueller Weisheit des alten Indiens, dem „Vaterlande der Metaphysik“ :

Arthur Schopenhauer : Indien - Vaterland der Metaphysik

Bildausschnitt aus Schopenhauers Manuskript (9)

Schopenhauer war vom Wahrheitsgehalt in den metaphysischen Aussagen der Upanishaden, insbesondere des Oupnekhats, zutiefst überzeugt, und zwar auch deshalb, weil sie von den altindischen „Sehern“, den Rishis, stammten, die dem „Urquell der organischen Natur bedeutend näher standen, als wir“. Sie hatten, wie Schopenhauer meinte, „auch noch teils größere Energie der intuitiven Erkenntniskräfte, teils eine richtigere Stimmung des Geistes …, wodurch sie einer reineren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Natur fähig … waren … so entstanden in den Urvätern der Brahmanen [Priester], den Rishis, die fast übermenschlichen Konzeptionen, welche später in den Upanishaden, der Veden niedergelegt wurden“.(10) Auch daher wird verständlich, warum Arthur Schopenhauer gerade dort, also im Kern der Philosophie des Hinduismus, den Trost seines Lebens gefunden hatte.

H.B.

Weiteres zu den Upanishaden und zu
Schopenhauer und seiner Philosophie .

Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. v. Arthur Hübscher, Band I, München 1985, S. 422.
(2) S. hierzu auch > Die Veden und Schopenhauers Philosophie.
(3) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 437. (Hinweis: Zur besseren Lesbarkeit wurde die Schopenhauer-Zitate mitunter leicht an die moderne Rechtschreibung angepasst.)
(4) Schopenhauer , a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 716.
(5)S. hierzu auch >Todesfurcht und metaphysisches Bedürfnis .
(6) Schopenhauer-Register von Gustav Friedrich Wagner, neu hrsg. v. Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, S. 271 f.
(7) Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben, 3. Aufl., Leipzig 1910, S. 342.
(8) S. Schopenhauer zur > Theodizee .
(9) Ausschnitt aus: Arthur Schopenhauer , Manuskriptbuch Adversaria (1829), S. 332.
Quelle > Handschriftlicher Nachlaß (Univ.-Bibl. Frankfurt a. M. /Stand: 14.02.2021).
(10) Arthur Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 189.
Das Sanskritwort Rishis ist im Hinduismus die „allgemeine Bezeichnung für Seher, Heilige und inspirierte Dichter“ (Lexikon der östlichen Weisheitslehren, Bern/München/Wien 1986, S. 309).

Fremde Gedanken

Fremde Gedanken können unser Leben bereichern, sie können sich aber auch – wie Arthur Schopenhauer schrieb – negativ auswirken:

„Allerdings muss das fortwährende Einströmen fremder Gedanken die eigenen hemmen und ersticken, ja, auf die Länge, die Denkkraft lähmen, wenn sie nicht den hohen Grad von Elastizität hat, welcher jenem unnatürlichen Strom zu widerstehen vermag. Daher verdirbt das unaufhörliche Lesen und Studieren geradezu den Kopf; zudem auch dadurch, dass das System unserer eigenen Gedanken und Erkenntnisse seine Ganzheit und stetigen Zusammenhang einbüßt, wenn wir diesen so oft willkürlich unterbrechen, um für einen ganz fremden Gedankengang Raum zu gewinnen. Meine Gedanken verscheuchen, um denen eines Buches Platz zu machen, käme mir vor, wie was Shakespeare an den Touristen seinerzeit tadelt, dass sie ihr eigen Land verkaufen, um Anderer ihres zu sehn …

Es ist sogar gefährlich, früher über einen Gegenstand zu lesen, als man selbst darüber nachgedacht hat. Denn da schleicht sich mit dem neuen Stoff zugleich die fremde Ansicht und Behandlung desselben in den Kopf, und zwar um so mehr, als Trägheit und Apathie anraten, sich die Mühe des Denkens zu ersparen und das fertige Gedachte anzunehmen und gelten zu lassen. Dies nistet sich jetzt ein, und fortan nehmen die Gedanken darüber, gleich den in Gräben geleiteten Bächen, stets den gewohnten Weg: einen eigenen, neuen zu finden ist dann doppelt schwer.“*

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

  • * Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 94 (zur besseren Lesbarkeit mit Anpassung an die moderne Rechtschreibung).

Schopenhauer : Gefahrvolles Leben

Leben ist gefährlich, ja lebensgefährlich. Es ist voller Gefahren. Sorglose Frohnaturen, welche diese Tatsache verdrängen und als übertriebene Ängstlichkeit verharmlosen, kann das Leben mitunter schneller und härter belehren, als sie es für möglich halten. Arthur Schopenhauer schrieb 1817, also im Alter von 29 Jahren, in sein Manuskript:

Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt mit aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen Schiffbruch näher kommt, ja grade auf ihn zu steuert, dem Tode: dieser ist das endliche Ziel der mühseligen Fahrt und schlimmer als alle Klippen denen man auswich. *

Schopenhauer war von dieser Erkenntnis so durchdrungen, dass sie seine Lebensphilosophie nachhaltig prägte und er sie sogar fast wörtlich in sein zwei Jahre danach veröffentlichtes Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung übernahm.

Wer sich der oben zitierten Lebensweisheit Schopenhauers bewusst ist, wird es besonders schätzen, wenn sich auf seiner Lebensfahrt das Schiff wenigstens vorübergehend durch ruhige Gewässer bewegt.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

  • Aus: Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, München 1985, Band I, S. 489.

Mitleid und Neid

Mitleid und Neid sind zwei völlig gegensätzliche Gefühle, die laut Arthur Schopenhauer mit zwei einander widersprechenden Erkenntnisweisen zusammenhängen. Schopenhauer hatte hierüber, und zwar nicht nur nach Beobachtung anderer Menschen, sondern auch nach durchaus kritischer Selbstbetrachtung in eines seiner Manukriptbücher geschrieben:

“Ich beobachte an mir selbst, daß ich zu einer Zeit auf alle Wesen mit herzlichem Mitleid blicke, zu anderer Zeit mit der größten Gleichgültigkeit […]

Dies alles giebt mir deutliche Anzeige, daß wir 2 verschiedene ja einander grade widersprechende Erkenntnißweisen haben: die eine nach dem principio individuationis, diese zeigt uns alle Wesen als uns völlig fremd, als entschiedenes Nicht-Ich: Wir können dann für sie nichts empfinden, als Gleichgültigkeit, Neid, Haß, Schadenfreude.

Die andre Erkenntnißweise dagegen möchte ich nennen die nach dem Tat-Twam-asi; sie zeigt uns alle Wesen als identisch mit unserm Ich: demnach ist es Mitleid und Liebe, die ihr Anblick in uns erregt.

Die eine sondert die Individuen durch undurchdringliche Gränzen: die andre hebt die Begränzung auf und sie fließen zusammen. –

Die eine läßt uns bei jedem Wesen fühlen das bin ich [,] die andre das bin ich nicht.-

Aber merkwürdig ist es, daß wir wohl beim Anblick fremder Leiden uns mit ihnen identisch fühlen, woraus Mitleid entspringt: hingegen nicht eben so beim Anblick fremden Glückes: dieser erregt fast immer einigen Neid: und wo es nicht der Fall ist, wie beim Glück unsrer Freunde, ist unsre Theilnahme doch schwach , und gar nicht zu vegleichen mit der der Theilnahme an ihrem Leiden: siehe Rousseau.

Ist dies weil wir alles Glück für scheinbar erkennen? – Nein, sondern weil der Anblick jedes Genusses oder Besitzes, den wir entbehren, Neid erregt, d. h. den Wunsch, daß, statt des andern, wir selbst der Besitzer oder Genießer wären […]

Warum in einem Menschen die eine, im andern die andre [Erkenntnisweise] überwiegt, wohl in Keinem eine ganz ausschließlich prädominirt [vorherrscht] ; – warum, je nachdem der Wille erregt wird, die eine oder die andre hervortritt; – das sind tiefe Probleme.” (1)

Auf diese “tiefen Probleme” ist Schopenhauer später, und zwar besonders in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral, näher eingegangen, wobei er sehr überzeugend begründete, warum das Mitleid “die einzig nicht egoistische, auch die alleinige ächt moralische Triebfeder” sei. (2)

Demensprechend stehen Neid, Haß und Schadenfreude als die von Schopenhauer oben genannten besonders negative Erscheinungsformen des Egoismus im völligen Gegensatz zum Mitleid. Dieses Mitleid aber bezieht sich nicht nur auf Menschen, denn es habe sich – worauf Arthur Schopenhauer ausdrücklich hinwies – auch dadurch als “moralische Triebfeder bewährt”, dass es auch die Tiere in seinen Schutz nehme. (3)

H.B.

Weiteres
zu Schopenhauers auch die Tiere einbeziehende Mitleidsethik
> Tierethik und Schopenhauers Philosophie und zu
> Arthur Schopenhauer und seine Philosophie .

Anmerkungen
(1) Zit aus: Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. v. Arthur Hübscher, Band 3, Berliner Manuskripte, hier: Foliant II (1927), München 1985, S. 371.
(2) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik, S. 270.
(3) Ebd., S. 278

Glück – ein Lebensgefühl

Sich glücklich zu fühlen, gehört wohl zu den schönsten Augenblicken im Leben eines Menschen. Dieses Glück als Lebensgefühl hängt jedoch nicht nur davon ab, wie die Lebensumstände objektiv sind, sondern auch davon – und das ist vielleicht noch wichtiger – wie sie einem erscheinen, also wie sie subjektiv wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung ist ein innerer Vorgang im Kopf und bei jedem Menschen verschieden. Arthur Schopenhauer hat das in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit sehr anschaulich beschrieben:

„Für das Wohlsein des Menschen, ja, für die ganze Weise seines Daseins, [ist] die Hauptsache offenbar Das, was in ihm selbst besteht, oder vergeht. Hier nämlich liegt unmittelbar sein inneres Behagen, oder Unbehagen, als welches zunächst das Resultat seines Empfindens, Wollens und Denkens ist; während alles außerhalb Gelegene doch nur mittelbar darauf Einfluß hat.

Daher affiziren [beeinflussen] die selben äußern Vorgänge, oder Verhältnisse, Jeden ganz anders, und bei gleicher Umgebung lebt doch Jeder in einer andern Welt. Denn nur mit seinen eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Willensbewegungen hat er es unmittelbar zu thun: die Außendinge haben nur, sofern sie diese veranlassen, Einfluß auf ihn.

Die Welt, in der Jeder lebt, hängt zunächst ab von seiner Auffassung derselben, richtet sich daher nach der Verschiedenheit der Köpfe: dieser gemäß wird sie arm, schaal und flach, oder reich, interessant und bedeutungsvoll ausfallen. Während z. B. Mancher den Andern beneidet um die interessanten Begebenheiten, die ihm in seinem Leben aufgestoßen sind, sollte er ihn vielmehr um die Auffassungsgabe beneiden, welche jenen Begebenheiten die Bedeutsamkeit verlieh, die sie in seiner Beschreibung haben: denn die selbe Begebenheit, welche in einem geistreichen Kopfe sich so interessant darstellt, würde, von einem flachen Alltagskopf aufgefaßt, auch nur eine schaale Scene aus der Alltagswelt sein. …

Jeder steckt in seinem Bewußtsein, wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in demselben: daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen.“ (1)

Selbst wenn der Mensch aus seiner Haut nicht herauskommt und ihm, wie Schopenhauer meinte, „von außen nicht sehr zu helfen“ ist, so muss das noch kein Grund zum Verzweifeln sein. Vielmehr gilt es, das Beste, was mit den gegebenen persönlichen Anlagen und Fähigkeiten sowie der gegebenen Umwelt möglich ist, zu versuchen, denn oft wachsen die Kräfte mit den Widerständen, die das Leben dem Streben nach Glück entgegensetzt.

Leben und Leid sind mehr oder weniger untrennbar miteinder verbunden. Ein Leben ohne Leid gibt es nicht. Deshalb kann auch das Glück als Lebensgefühl nicht von Dauer, sondern nur ein flüchtiger Begleiter des Lebens sein. Somit ist es durchaus kein übertriebener Pessimismus, wenn Arthur Schopenhauer aufgrund seiner Lebenserfahrungen zur Erkenntnis kam:

Ein glückliches Leben ist unmöglich: das höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf. Einen solchen führt Der, welcher in irgend einer Art und Angelegenheit, für das Allen irgendwie zu Gute Kommende, mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird. (2)

„Für das Allen irgendwie zu Gute Kommende“ zu kämpfen, kann dem Leben durchaus einen Sinn geben und mitunter sogar dazu führen, dass es als glücklich empfunden wird. In diesem Sinne bleibt das Glück zwar ein individuelles Lebensgefühl, ist aber, wenn es mit dem Allgemeinwohl verbunden ist, mehr als nur eine egoistische Angelegenheit.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), BandVIII: Parerga und Paralipomena I/ Aphorismen zur Lebensweisheit , S. 346 f.
(2) Arthur Schopenhauer , a. a.O., Band IX: Parerga II, § 172 a, S. 350.

Trost der Philosophie

Im April 1811 besuchte der damals 23-jährige Arthur Schopenhauer den 78-jährigen Dichter Christoph Martin Wieland.  Dieser hatte Schopenhauer abgeraten, lediglich Philosophie zu studieren, weil das doch kein solides Fach wäre. Schopenhauers Antwort:

Das Leben ist eine mißliche Sache, ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken. *

Schopenhauer hatte wohl Wieland schließlich überzeugt, denn dieser sagte: „Ja, es scheint mir jetzt, Sie haben recht getan, junger Mann, ich verstehe jetzt ihre Natur; bleiben Sie bei der Philosophie.“

Wieland war ein Hausfreund von Johanna Schopenhauer, der Mutter des jungen Philosophen. So kam es dann wohl öfters zu Begegnungen. Während einer der Besuche Schopenhauers in Wielands Haus brachte ein Schuhmacher ein Paar Stiefel, wobei Wieland aus diesem Anlass erneut versuchte, Schopenhauer davon abzubringen, Philosophie zu studieren, und zwar mit der Bemerkung: „Nun sagen Sie, lieber Arthur, nützt dieser Mensch [also der Schuhmacher] der Welt nicht weit mehr, als ich ihr je mit allen meinen Schriften genützt habe? Überlegen Sie sich das, und stehen Sie ab von ihrem Vorhaben, ein so unpraktisches Studium, wie die Philosophie, zu ergreifen.“

Schopenhauer erwiderte, dass Wieland seine Verdienste gänzlich unterschätzen würde, denn seine Schriften hätten Tausenden von Menschen Trost und Erquickung unter den Leiden und Mühseligkeiten des Lebens gebracht, und dass er ihnen dadurch frischen Mut eingeflößt, dieselben zu ertragen. Wieland fühlte sich durch diese Antwort aufgerichtet und erklärte sich nach drei Tagen Bedenkzeit mit dem Entschluss des jungen Schopenhauers einverstanden, sich ganz der Philosophie zuzuwenden.

Wie sich dann später immer öfter zeigte, war das die richtige Entscheidung, denn gerade Arthur Schopenhauers Philosophie gab und gibt unzähligen Menschen Trost und Hoffnung.

H.B.

S. auch > Schopenhauer , Buddha und der Trost der Philosophie

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

* Aus: Arthur Schopenhauer , Gespräche, neue Ausgabe, hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 22. Auch der folgenden Darstellung (einschl. der Zitate) liegt diese Quelle (S. 22 f.) zugrunde.

Lebensweisheit : Goldene Mitte

In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit schrieb Arthur Schopenhauer, dass das „Leben nicht eigentlich da“ sei, „um genossen, sondern um überstanden, abgethan zu werden“. * Mit solcher Lebensweisheit passt Schopenhauer überhaupt nicht in unsere heutige Spaßgesellschaft, ja er wird bei denen, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen und dabei nicht gestört werden wollen, oft auf Ablehnung stoßen.

Doch viele Menschen haben einen solchen Sonnenplatz im Leben vom Schicksal leider nicht zugeteilt erhalten. Gerade sie werden Schopenhauer verstehen und ihm, wenn ihre Lebenserfahrungen besonders leidvoll waren, wohl auch darin zustimmen, „daß das Beste, was die Welt zu bieten hat, eine schmerzlose, ruhige Existenz ist“.

Es ist nicht einfach und bedarf  mancher schmerzvoller Erfahrung, um zu erkennen, wieviel Wahrheit in Schopenhauers Worten sind: 

Es ist wirklich die größte Verkehrtheit, diesen Schauplatz des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und statt der möglichsten Schmerzlosikeit , Genüsse und Freuden sich zum Ziele zu stecken; wie doch so Viele thun. Viel weniger irrt wer, mit zu finsterm Blicke, diese Welt als eine Art Hölle ansieht, und demnach nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu verschaffen. Der Thor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: der Weise vermeidet die Uebel.

Demenstprechend gab Schopenhauer den durchaus weisen Rat, „seine Ansprüche auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre u. s. f. auf ein ganz Mäßiges herabzusetzen; weil gerade das Streben und Ringen  nach Glück, Glanz und Genuß es ist, was die großen Unglücksfälle herbeizieht“. Hierzu zitiert Schopenhauer eine Lebensweisheit von Horaz, die übersetzt  lautet:

Wer die goldene Mitte liebt, geht sicher,
er meidet den Schmutz des verfallenen Hauses,
er meidet genügsam das neiderweckende Schloß.

Also nicht das „neiderweckende Schloß“ ist anzustreben, sondern jene Menschen können sich glücklich schätzen, denen es gelingt, sich eine feuerfeste Stube zu schaffen und dabei im Leben stets die goldene Mitte zu halten.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier
sowie zu Schopenhauers > Aphorismen zur Lebensweisheit .

*Alle Zitate sind aus: Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit , S. 443-446.

 

 

Tierethik und Buddhismus

Tierethik und Buddhismus sind Themen, an denen Arthur Schopenhauer sehr interessiert war und die dementsprechend in seiner Philosophie von besonderer Bedeutung sind.  Schopenhauers tiefe Verbundenheit mit dem tierfreundlichen Buddhismus zeigte sich zum Beispiel in einem seiner Briefe, wo er schrieb:

Den Hofrath Perner bitte ich auf das herzlichste von mir zu grüßen … Er ist ein höchst verdienter und verehrenswerther Mann: wer könnte das höher schätzen, als wir Buddhaisten! (1)

Der von Schopenhauer so hoch geschätzte Ignaz Perner gründete 1842 in München einen der ersten Tierschutzvereine der Welt. Schopenhauer war von dessen tatkräftigem Einsatz für den Tierschutz tief beeindruckt. (2) Besonders bemerkenswert ist hierbei, dass Schopenhauer zur Erläuterung seiner Wertschätzung Perners sich als Buddhaist bezeichnete und damit auf den Zusammenhang zwischen Tierethik und Buddhismus hindeutete.

Der Buddhaist Arthur Schopenhauer hat mehrmals in seinen Schriften die im Gegensatz zum Christentum tierfreundliche Einstellung des Buddhismus lobend hervorgehoben, und zwar mit vollem Recht:

Zum Kern der Lehre des Buddha gehören die Vier Edlen Wahrheiten. Die letzte dieser Wahrheiten ist der Edle Achtfache Pfad, der auch die Grundsätze der buddhistischen Ethik enthält. (3)  Teil dieser Ethik sind das rechte Handeln und der rechte Lebenserwerb.

Rechtes Handeln bedeutet vor allem, möglichst kein Lebewesen zu töten oder zu verletzen, was sich nicht nur auf Menschen, sondern – nach der buddhistischen Lehre selbstverständlich – auch auf Tiere bezieht. Dementspechend sind Berufe, in denen dieser ethische Grundsatz von vornherein verletzt wird, kein rechter Lebenserwerb. Hierzu werden unter anderem Berufe wie Schlächter, Jäger, Fischer, Händler mit Tieren, Fleisch oder Waffen u. dgl. gezählt. Der Buddha hatte solche Tätigkeiten als „grausames Handwerk“ eindeutig abgelehnt:

Da ist einer ein Schlächter, der Schafe und Schweine schlachtet, ist ein Vogelfänger, ein Wildsteller, ein Jäger, ein Fischer, ein  Räuber, ein Henker, ein Kerkermeister, oder was man da sonst noch anderes grausames Handwerk betreibt. Den heißt man einen Menschen, der ein Nächstenquäler, der Übung der Nächstenqual eifrig ergeben ist. (4)

Im sehr bedeutsamen Lankavatara- Sutra des Mahayana-Buddhismus wird das Mitleid mit allen Wesen als Kern der buddhistischen Ethik besonders hervorgehoben und dazu – durchaus folgerichtig – das Fleischessen entschieden verworfen.(5)

Jedoch nicht alle Buddhisten sind Vegetarier oder – was noch konsequenter wäre – Veganer. Daher ist es durchaus angebracht, wenn der buddhistische Autor Hellmuth  Hecker in seinem Buch Die Ethik des Buddha einen Vers von Eugen Roth zitierte:

Es denkt der Mensch zufrieden froh:
Ich bin kein Schlächter, blutig roh;
doch ist der Mensch kein Wurstverächter,
so trägt die Mitschuld er am Schlächter. (6)

Wie in Schopenhauers Ethik, so ist auch im Buddhismus die zugrunde liegende Gesinnung entscheidend für den moralischen Wert einer Handlung. Ein Beispiel für diese Gesinnung brachte der Buddha in einer seiner Reden zum Ausdruck:

Da hat einer das Töten verworfen, vom Töten hält er sich fern: ohne Stock, ohne Schwert, fühlsam, voll Teilnahme, hegt er zu allen lebendigen Wesen gütiges Mitleid. (7)

Hier ist eine Brücke über Jahrtausende hinweg zu Schopenhauers Mitleidsethik. In dieser auch die Tiere einbeziehenden Ethik zeigt sich besonders deutlich Schopenhauers Gemeinsamkeit  mit dem Buddhismus. Das Gemeinsame der Philosophie Schopenhauers mit dem Buddhismus geht jedoch weit über die Tierrethik hinaus, denn, so meinte Arthur Schopenhauer, „ueberhaupt ist die Uebereinstimmung mit meiner Lehre wundervoll“. (8)

H.B.

S. dazu > Schopenhauer und Buddhismus

> Tierethik und Schopenhauers Philosophie

Weiteres zur Tierethik  > Webseite und  > Blog ,

zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .


Anmerkungen

(1) Brief vom 10. Mai 1852 an Adam von Doss, zit. aus: Arthur Schopenhauer, Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 281.

(2) Mehr dazu > Ignaz Perner und Arthur Schopenhauer .

(3) S. ausführlicher > Die Vier Edlen Wahrheiten des Buddha .

(4) Zit. aus: Hellmuth Hecker, Die Ethik des Buddha, Ein Handbuch zu besonnener Lebensführung, Hamburg 1976, S. 112.

(5) Vgl. hierzu: Die makellose Wahrheit erschauen. Die Lehre von der höchsten Bewußtheit  und absoluten Erkenntnis. Das Lankavatara-Sutra, aus dem Sanskrit von Karl-Heinz Golzio, 2. Aufl., Bern-München-Wien 2003, Kap. 8: Warum man kein Fleisch essen soll, S. 247 ff.  Im übrigen ist diese höchst bedeutsame Quelle aus dem Mahayana-Buddhismus nicht nur für das Thema Fleischessen und Buddhismus wichtig, sondern sie zeigt auch vor allem mit ihrer monistischen Grundeinstellung eine erstaunliche, geradezu wunderbare Übereinstimmung mit Schopenhauers spirituell sehr tiefen monistischen Philosophie. (Weiteres: Das Lankavatara-Sutra des Mahayana-Buddhismus und die Philosophie von Arthur Schopenhauer > hier.)

(6) Helmuth Hecker, a. a. O., S. 113.

(7) Ebd., S. 110.

(8) Arthur Schopenhauer , Briefe, a. a. O., S. 384.

 

 

Gefühlsmoral und Schopenhauers Ethik

Ich muß den Ethikern den Rath ertheilen, sich erst ein wenig im Menschenleben umzusehn – schrieb Arthur Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral. (1) Befolgen die „Ethiker“ Schopenhauers Rat, so werden sie ihm wohl zustimmen, wenn er meinte, dass das Handeln des Menschen, seinem ethischen Gehalte nach, nach Gefühlen, nicht nach Begriffen geschehe und vom Charakter, nicht von der Vernunft ausgehe. (2).

Schopenhauer vertrat damit eine Ethik, die in der Philosophie als Gefühlsmoral bezeichnet wird. Diese sei, so erklärt das Philosophische Wörterbuch, „in der Ethik die Bezeichnung für eine Moral, die die  Motive des sittlichen Wollens und Handelns in den Gefühlen, Neigungen Affekten sieht, denen echte Liebe und Ergriffenheit vorausgehen“. (3)

Somit steht die Gefühlsmoral im Gegensatz zur  sog. Reflexionsmoral, wonach, wie es im Wörterbuch der philosophischen Begriffe heißt, „das sittliche Handeln nicht auf Gefühl, Gesinnung, Charakter oder Gewissen, sondern auf die vernünftige Einsicht zu gründen ist“, was „soviel wie ethischer Intellektualismus“ bedeute. (4)

Solcher „ethischer Intellektualismus“ wurde von Schopenhauer entschieden abgelehnt, denn für ihn war, wie er in seiner bereits erwähnten Preisschrift mehrmals hervorhob, das „Mitleid die eigentliche moralische Triebfeder“. (5) Diese „moralische Triebfeder“, so fügte er hinzu, „bewährt sich als die ächte ferner dadurch, daß sie auch die Thiere in ihren Schutz nimmt, für welche in den andern Europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist“. (6)

„Die Abwesenheit aller egoistischen Motivation“, so schrieb Schopenhauer in seiner Preisschrift, sei „das Kriterium einer Handlung von ethischem Werth“. (7)  „Soll eine Handlung moralischen Werth haben, so darf kein egoistischer Zweck, unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv seyn.“(8)

Dementsprechend ist auch alles, was aus Furcht vor Strafe oder in der Hoffnung auf Belohnung – sei es im Diesseits oder erst im Jenseits – geschieht, egoistisch und daher ohne moralischen Wert.(9). Wie sehr bei derartigem Handeln  menschlicher Egoismus dahinter steht, erläuterte Schopenhauer an einem Beispiel: „Wird z. B. ein Mensch fest überredet, daß jede Wohlthat ihm im künftigen Leben hundertfach vergolten wird; so gilt und wirkt eine solche Überzeugung ganz und gar wie ein sicherer Wechsel auf sehr lange Sicht, und er kann aus Egoismus geben, wie er, bei anderer Einsicht, aus Egoismus nehmen würde. Geändert hat er sich nicht …“  (10)

Demnach kann Schopenhauers  obige Feststellung durchaus auch für Religionen zutreffen, und zwar dann, wenn sich hinter den „Wohlthaten“ letztlich die Erwartung  irgendwelcher persönlicher Vorteile verbirgt. Genau genommen, geht es dann nicht um Ethik. Eher ist es eine Art kaufmännischer Kalkulation von Leistung und erhoffter Gegenleistung.  Hierbei ist die Frage naheliegend, ob und inwieweit Religionen wirklich mit Ethik verbunden sind, denn sie alle, das Christentum nicht ausgenommen, appellieren in  ihren „ethischen“ Lehren an den Egoismus des Menschen. Ob sich dadurch der Egoismus wirklich überwinden lässt, ist eine andere Frage. Schopenhauer hat sie, wie das obige Zitat zeigt, verneint.

Jedenfalls ist die in  der Philosophie im Zusammenhang mit dem Thema Ethik beschriebene Reflexionsmoral im Sinne Schopenhauers keine Ethik, sondern eher Berechnung. Auch gibt es demnach keinen ethischen, sondern einen mehr oder weniger  egoistisch gegründeten Intellektualismus, der dementsprechend leider allzu oft als kaltes, bloß vernunftsmäßiges Verhalten in Erscheinung tritt. Kann es hierzu einen größeren Gegensatz geben als die alles Leben umfassende, also auch die Tiere einbeziehende, warmherzige Mitleidsethik Arthur Schopenhauers ?

H.B.

S. auch > Tierethik und Schopenhauers Philosophie .

Mehr zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
(1)  
Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik, Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 226.
(2)
  Gustav Friedrich Wagner, Schopenhauer-Register, neu hrsg. v. Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt , S. 280 (Stichwort: Moral).
(3)   Philosophisches Wörterbuch, begr. v. Heinrich Schmidt, 21. Aufl., neu bearb. v. Georgi Schischkoff, Stuttgart 1978, S. 216 (Stichwort: Gefühlsmoral).
(4)   Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, 2. Aufl., Hamburg 1955, S. 519 (Stichworte: Reflexion , Reflexionsmoral).
(5)   Schopenhauer, Preisschrift, a. a. O., S. 273.
(6)   Ebd., S. 278.
(7)   Ebd.,  S 244.
(8)   Ebd., S. 245 f.
(9)   Vgl. Wagner, a. a. O., S. 32 (Stichwort: Belohnung u. Bestrafung).
(10) Schopenhauer, a. a. O., Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 371.

 

Leben und Tod

Arthur Schopenhauer beschrieb das Leben wie es ist, mit seinen Höhen und Tiefen. Aber auch mit seinen Gedanken über das Ende des Lebens, den Tod,  zeigt sich Schopenhauer als wahrer Lebensphilosoph, wobei er für das uns alle „todsichere“ Ereignis durchaus trostvolle Worte fand:

„… Wie bekanntlich unser Gehen nur ein stets gehemmts Fallen ist, [so ist ] das Leben unsers Leibes nur ein fortdauernd gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod  … Jeder Atemzug wehrt den beständig eindringenden Tod ab, mit welchem wir auf diese Weise in jeder Sekunde kämpfen … Zuletzt muß er siegen: denn ihm sind wir schon durch die Geburt anheimgefallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt.

Wir setzen indessen unser Leben mit großem Anteil und vieler Sorgfalt fort, solange als möglich, wie man eine Seifenblase so lange und so groß als möglich aufbläst, wiewohl mit der festen Gewißheit, daß sie platzen wird …

Das Leben der allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um die Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. Was sie aber in diesem so mühseligen Kampfe ausdauern läßt, ist nicht sowohl die Liebe zum Leben als die Furcht vor dem Tode, der jedoch unausweichbar im Hintergrunde steht und jeden Augenblick herantreten kann. –

Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt, mit aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert, – dem Tode, dieser ist das endliche Ziel der mühseligen Fahrt und für ihn schlimmer als alle Klippen, denen er auswich.“ (1)

Für das, was Arthur Schopenhauer hier mit hoher Sprachkunst beschrieb, fand er auch eindrucksvolle Worte der Hoffnung, die über den Tod hinausweisen:

„Für uns ist und bleibt der Tod ein Negatives – das Aufhören des Lebens, allein er muß auch eine positive Seite haben, die jedoch uns verdeckt bleibt, weil unser Intellekt durchaus unfähig ist, sie zu fassen. Daher erkennen wir wohl, was wir durch den Tod verlieren, aber nicht, was wir durch ihn gewinnen …

Wir schaudern vor dem Tode vielleicht hauptsächlich, weil er dasteht als die Finsternis, aus der wir einst hervorgetreten und in die wir nun zurück sollen. Aber ich glaube, daß wenn der Tod unsere Augen schließt, wir in einem Licht stehn, von welchem das Sonnenlicht nur der Schatten ist …

Klopfte man an die Gräber und fragte die Toten, ob sie wieder aufstehn wollten; sie würden mit den Köpfen schütteln.“ (2)

Memento mori = Bedenke, dass du sterblich bist – diese Mahnung aus dem mittelalterlichen Mönchslatein, wäre wohl auch als Überschrift dieses Beitrages angebracht gewesen, denn, so meinte Schopenhauer, „ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leides und der Noth des Lebens, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt giebt“. (3)

Thomas Mann nannte Arthur Schopenhauer einen „großen Kenner und Künstler des Todes“ und fügte hinzu “ … zu dem Schönsten, man möchte sagen Tiefsten (aber sein Werk ist überall gleich tief), was er geschrieben hat, gehört das große Kapitel im zweiten Bande der Welt als Wille und Vorstellung : Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich. … ´Wer sich für das Leben interessiert`, habe ich [ Thomas Mann ] im Zauberberg gesagt, ´der interessiert sich namentlich für den Tod.` Das ist die Spur Schopenhauers, tief eingedrückt, haltbar für das ganze Leben.“ (4)

H.B.

S. auch > Trotz Tod alle beisammen

> Unsterbliche Seele in Mensch und Tier ?

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

 

Anmerkungen
(1) Aus: Arthur Schopenhauer , Welt und Mensch. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk von Arthur Hübscher,  Stuttgart 1960, S. 166 ff.
(2) Ebd., S. 195 und 197.
(3) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 17: Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen, S. 187.
(4) Thomas Mann , Schopenhauer, zit. aus: Über Arthur Schopenhauer , hrsg. von Gerd Haffmans, 3. Aufl., Zürich 1981, S. 113.

 

 

 

 

Wer Gedanken mitzuteilen hat …

Ein Autor, so warnte Arthur Schopenhauer, sollte sich vor nichts mehr hüten, als vor dem sichtbaren Bestreben, mehr Geist zeigen zu wollen, als er hat. *

„Jeder wirkliche Denker“ zu denen Schopenhauer, wie er oft hervorhob, nicht unbedingt die Universitätsphilosophen zählte – sei „bemüht, seine Gedanken so rein, deutlich, sicher und kurz, wie nur möglich, auszusprechen. Demgemäß ist Simplicität stets ein Merkmal , nicht allein der Wahrheit, sondern auch des Genies gewesen. Der Stil erhält die Schönheit vom Gedanken; statt daß, bei jenen Scheindenkern, die Gedanken durch den Stil schön werden solle …“ *

Heraus folgte für Schopenhauer, dass jede gute Schriftstellerei gleich am Anfang „die erste, ja für sich allein beinahe ausreichende Regel des guten Stils“ beachten müsse, nämlich „die, daß man etwas zu sagen habe“ . Jedoch nicht immer wird dieses für alle Schriftstellerei selbstverständliche Gebot eingehalten. So zum Beispiel gäbe es, wie Schopenhauer sie nannte,  „Pseudophilosophen“, die, obwohl sie eigentlich nichts zu sagen haben, dennoch versuchen, mit vielen Worten auf sich aufmerkam zu machen. Schopenhauer dachte dabei wohl vor allem an manche Philosophieprofessoren, die, was er heftig anprangerte, nicht für, sondern von der Philosophie leben würden. **

Was von „solchen Schreibern“ mitgeteilt werde –  so meinte Schopenhauer –  sei gekennzeichnet durch einen „geschrobenen, vagen, zweideutigen, ja vieldeutigen“ Stil und darüber hinaus durch „unnützen Wortschwall“, durch „des Versteckens der bittersten Gedankenarmuth unter ein unermüdliches, klappermühlenhaften, betäubendes Gesaalbader, daran man stundenlang lesen kann, ohne irgend eines deutlich ausgeprägten und bestimmten Gedankens habhaft zu werden“.*

Obige Kritik äußerte Arthur Schopenhauer in dem oft zitierten  Kapitel Ueber Schriftstellerei und Stil.  Selbst wenn man seine Kritik, die er besonders scharf gegen die zu seiner Zeit in Deutschland vorherrschende akademische Philosophie richtete, zwar für grundsätzlich berechtigt, aber vielleicht doch für etwas überzogen hält, so gilt auch heute noch, was Schopenhauer 1832 in eines seiner Manuskriptbücher schrieb:

Wer Gedanken mitzutheilen hat,
wird sich  alle Mühe geben, sich deutlich zu machen,
und sogar sich nach der Unfähigkeit der Andern zu bequemen suchen.

Wer aber keine Gedanken mitzutheilen hat,
und doch gern den Schein hervorbringen möchte,
wird oft das Mittel ergreifen, sinnlosen Wischiwaschi aufzutischen,
und der Unfähigkeit des Andern die Schuld zu geben,
daß kein Sinn darin gefunden wird.

Arthur Schopenhauer : Wer Gedanken mizuteilen hat ...

Ausschnitte aus: Arthur Schopenhauer, Cholerabuch (1832), S. 144 f.,
Handschriftlicher Nachlass (Univ.-Bibl. Frankfurt a. M. / Stand: 01.05.2020)

H.B.

S. hierzu auch
> Arthur Schopenhauer : Die deutsche Sprache – ein leicht zu verderbendes Kunstwerk .

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

* Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977
(Zürcher Ausgabe), Band X: Parega und Paralipomena II/2,
Kap. 22: Ueber Schriftstellerei und Stil, S. 566 f.

** Vgl. auch Arthur Schopenhauer . a. a. O.,
Band VII: Parerga und Paralipomena I/1,
Ueber die Universitätsphilosopie , S. 155 ff.

 

 

Lebensweisheit : Wahrer Charakter

Woran zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen?
Antwort auf diese durchaus bedeutsame Frage gab Arthur Schopenhauer in der Parerga, und zwar im Zusammenhang mit seinen sehr aufschlussreichen Erklärungen zur Ethik.* Sie enthalten viel tiefe Lebensweisheit und ergänzen damit nicht nur seine Preisschrift über die Grundlage der Moral, sondern auch seine berühmten Aphorismen zur Lebensweisheit.

Den Charakter einer Person zutreffend zu beurteilen, ist ein schwieriges Problem, das sich im täglichen Leben immer wieder stellt und mitunter die Zukunft eines Menschen nachhaltig beeinflussen kann:  Wer zum Beispiel eine Lebenspartnerschaft eingehen möchte, für den kann es von größter Bedeutung sein, den wahren Charakter seines künftigen Lebenspartners rechtzeitig zu erkennen. Anderenfalls könnten bittere Enttäuschungen, viel Leid und Kummer die Folge sein.

Jedoch auch im übrigen Alltag ist es sehr wichtig, sich nicht über den Charakter eines Menschen zu täuschen. Nicht selten versuchen Menschen, sich um irgendwelcher Vorteile wegen als das auszugeben, was sie in Wahrheit nicht sind und dabei ihren Charakter in einem möglichst guten Licht erscheinen zu lassen. Um zu erfahren, welcher Charakter sich hinter der Maske, die viele Menschen vor sich tragen, verbirgt, ist es hilfreich, ja notwendig auch auf Kleinigkeiten zu achten. Schopenhauer erweist sich auch bei diesem Thema als Philosoph, dessen Lebensweisheit jeden von uns betrifft:

„Wie ein Botaniker an Einem Blatte die ganze Pflanze erkennt; wie Cuvier aus Einem Knochen das ganze Thier konstruirte; so kann man aus Einer charakteristischen Handlung eines Menschen eine richtige Kenntniß seines Charakters erlangen, also ihn gewissermaaßen daraus konstruiren; sogar auch wenn diese Handlung eine Kleinigkeit betrifft; ja, dann oft am besten: denn bei wichtigeren Dingen nehmen die Leute sich in Acht; bei Kleinigkeiten folgen sie, ohne vieles Bedenken, ihrer Natur. […]

Zeigt Einer in solchen [Kleinigkeiten] durch sein absolut rücksichtsloses, egoistisches Benehmen, daß die Gerechtigkeit der Gesinnung seinem Herzen fremd ist; so soll man ihm, ohne gehörige Sicherheit, keinen Groschen anvertrauen. […]

Wer die kleinen Charakterzüge unbeachtet läßt, hat es sich selber zuzuschreiben, wenn er nachmals aus den großen den betreffenden Charakter, zu seinem Schaden, kennen lernt. –

Nach dem selben Princip soll man auch mit sogenannten guten Freunden, selbst über Kleinigkeiten, wenn sie einen boshaften, oder schlechten, oder gemeinen Charakter verrathen, sogleich brechen, um dadurch ihren großen schlechten Streichen vorzubeugen, die nur auf Gelegenheit warten, sich einzustellen.“**

Obwohl es mitunter nicht einfach ist, den Charakter eines Menschen zu beurteilen, gibt es dazu, wie Schopenhauer zu Recht meinte, ein zuverlässiges und sehr deutliches Kennzeichen, und zwar beim Umgang mit Tieren: Mitleid mit Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein. ***

Was Schopenhauer hier als Lebensweisheit beschrieben hat, bezog er auf Menschen mit negativen Charaktereigenschaften. Andererseits gibt es nicht wenige Menschen, bei denen die positiven Charakterzüge überwiegen. Leider können sie nicht immer von vornherein deutlich erkannt werden, weil sie oft mit großer Bescheidenheit verbunden sind. Solche gutherzigen und zugleich bescheidenen Menschen neigen nicht dazu, ihr gutes Handeln in den Vordergrund zu stellen, etwa nach dem Motto Tu´ Gutes und sprich darüber!

So gilt es auch hierbei auf Kleinigkeiten zu achten. Der wahre Charakter zeigt sich zwar vor allem in der Not, aber auch bei vielen kleinen Gelegenheiten des Alltags kann sich  offenbaren, was Arthur Schopenhauer als Grundlage der Ethik besonders hoch gepriesen hat und das den Charakter eines Menschen in höchstem Grade auszeichnet: Die Güte des Herzens, jenes tief gefühlte Mitleid, mit Allem, was Leben hat.****

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
*  Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977
(Zürcher Ausgabe), Band IX: Parerga und Paralipomena II,
Kap. 8. Zur Ethik, S. 219 ff.
**  Ebd., § 128, S. 250 f.
***  Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik, Teil 2: Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 19, S. 281.
**** Ebd., § 20. Vom ethischen Unterschiede der Charaktere, S. 294.

 

 

 

 

 

Mensch und Umwelt in Schopenhauers Philosophie

Arthur Schopenhauer hat wie kaum ein anderer weltberühmter Philosoph in seiner Philosophie die Einheit allen Lebens hervorgehoben und metaphysisch tief begründet. Alles Lebendige, ja alles, was wir wahrnehmen, sind Erscheinungsformen von etwas Metaphysischem: Die Theisten nennen es Gott, in den von Schopenhauer hoch geschätzten altindischen Upanishaden heißt es Brahman, Schopenhauer nannte es Wille.

Im Hinduismus wird die Einheit allen Lebens in drei Sanskritworten zusammengefasst: Tat Twam Asi, das heißt wörtlich übersetzt, Das bist Du! Obwohl sich alle Lebewesen mehr oder weniger äußerlich unterscheiden, sind sie in ihrem innersten Wesen gleich und werden – soweit der Hinduismus theistisch ist, als göttlich aufgefasst. Schopenhauer hat sich in seinen Werken mehrmals auf diese Sanskritworte bezogen und sie als eine Kernaussage seiner Philosophie hervorgehoben. Wir alle, ob Mensch, Tier oder Pflanze, sind  Manifestationen eines metaphysischen Willens und somit – auch wenn uns das nicht immer bewusst ist  – wesensgleich.

Aus der Erkenntnis der Wesensgleichheit von Mensch und übriger Natur ergibt sich ein anderes Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Es ist kein göttlich legitimiertes Herrschaftsverhältnis, das die Menschen von vornherein berechtigt, die Natur zu beherrschen und sich untertan zu machen.

Schädigt der Mensch die Natur, in der er lebt und deren Teil er ist, so schädigt er sich letztlich selbst – eine Erkenntnis, die mehr und mehr Menschen bewusst wird.  Mensch und Umwelt sind eine Einheit. Arthur Schopenhauer hat hierfür im Rahmen seiner Willensmetaphysik eine spirituell sehr tiefe und – wie ich meine – auch überzeugende Begründung gegeben.

Ein den Menschen – nicht nur metaphysisch – besonders verbundener Teil der Natur sind die Tiere. Schopenhauer hob das vor allem in seiner Ethik hervor. So bezog er in seine Mitleidsethik die Tiere ausdrücklich mit ein. Durch das Mitleid werden die sonst im Alltag empfundenen Grenzen zwischen den Menschen, aber auch, wenngleich seltener, zwischen Mensch und Tier mehr und mehr aufgehoben.  Am Ende werden diese Grenzen nicht mehr bewusst wahrgenommen, so dass durch das Mitleid die von Schopenhauer metaphysisch begründete Einheit allen Lebens auch im Alltag in Erscheinung tritt. So steht Schopenhauers Mitleidsethik ganz im Einklang mit einem allumfassenden Schutz der Natur, was zugleich eine möglichst weitgehende Schonung der Umwelt bedeutet. In diesem Sinne  enthält Schopenhauers Philosophie, auch wenn er diesen Namen nicht verwendet hat, eine metaphysisch begründete Umweltethik.

Selbst wenn nicht alle Umweltschäden durch menschliches Handeln verursacht werden, so sind doch viele Umweltkatastrophen zumindest mittelbar Folgen einer skrupellosen Ausbeutung der Natur, die in unserer Zeit durch eine lediglich an Profitmaximierung ausgerichtete Wirtschaft immer noch gesteigert wird. Somit ist die von Schopenhauer angeprangerte unersättliche Gier des Menschen einer der wesentlichen Ursachen für die Zerstörung des Lebensraumes von Mensch, Tier und Pflanze.

Riesige Weltbrände, wie etwa kürzlich in Australien mit weit mehr als einer Milliarde verbrannter Tiere, sind traurige Beipiele dafür, wie sehr unsere Zeit, und zwar mit zunehmender Tendenz, bestimmt wird durch gewaltige Umweltkatastrophen. Gerade im Hinblick auf die immer katastrophaler werdende Umweltzerstörung ist Schopenhauers Philosophie von größter Aktualität.

Was einen Menschen zum Philosophen  macht, schrieb der 26-jährige Schopenhauer in eines seiner Manuskripte, sei „der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten“. (1) Dementsprechend nahm er schon vor bald 200  Jahren zu einer Frage Stellung, die, wie es scheint, heute  fast als Tabu gilt, nämlich Frage nach den Folgen der geradezu explosionsartigen Zunahme der Weltbevölkerung. Die „Übervölkerung des ganzen Planeten“ sei ein Resultat, „dessen entsetzliche Übel sich jetzt nur eine kühne Einbildungskraft zu vergegenwärtigen vermag“. (2) Die Folgen der immer weiter steigenden Übervölkerung des Erdballs für die Umwelt sind überaus beängstigend und lassen kaum Hoffnung auf nachhaltige Fortschritte im Umweltschutz.

Die weltweite Zerstörung der Umwelt, wie zum Beispiel die hemmungslose Vernichtung der für die ganze Menschheit  lebenswichtigen Urwälder am Amazonas,  zeigt leider sehr deutlich, wie Recht der Philosoph Max Horkheimer in seiner Rede zum 100. Todestag Arthur Schopenhauers hatte, wenn er meinte: „Das Denken Schopenhauer ist unendlich aktuell.“(3)

Gegen Schluss seiner Ansprache meinte Horkheimer, dass Schopenhauers Philosophie zwar angesichts der Realitäten illusionslos sei, aber dennoch nicht in Hoffnungslosigkeit endet: „Es gibt wenige Gedanken, deren die Zeit mehr bedürfte und die bei aller Hoffnungslosigkeit, wie er sie ausspricht, mehr von Hoffnung wissen als die seinen.“ (4) Worauf diese Hoffnung des vermeintlichen „Pessimisten“ Arthur Schopenhauer gegründet ist, habe ich  in meinem Beitrag Leid und Erlösung etwas näher erläutert.

H.B.

S. auch > Tierethik und Schopenhauers Philosophie

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer : Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. v. Arthur Hübscher, München 1985, Band 1, Frühe Manuskripte (1804-1818), S. 126,

(2) Arthur Schopenhauer : Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band II, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 436.

(3)  Max Horkheimer : Die Aktualität Schopenhauers , Vortrag, gehalten zum 100. Todestag Schopenhauers am 21. September 1960 in der Paulskirche zu Frankfurt a. M., zit. aus: Über Arthur Schopenhauer , hrsg. v. Gerd Haffmans, 3. Aufl., Zürich 1981, S. 159.

(4) Ebd.,  S. 164.

 

 

Schopenhauer – Vedanta – Buddhismus

Zu den ersten bedeutenden Abhandlungen über das Verhältnis der Philosophie  Arthur Schopenhauers zu den in Indien entstandenen Lehren, und zwar besonders zum Vedanta des Hinduismus und zum Buddhismus, gehörte das Buch, das  Max  Hecker 1897 unter dem Titel Schopenhauer und die indische Philosophie veröffentlichte.

Hecker kam dort zu dem Ergebnis, dass sich in seiner Untersuchung – abgesehen von kleinen Details – die “durchgängige Congruenz [Übereinstimmung] der Philosophie Schopenhauers und der Inder als eine wahrhaft überraschende herausgestellt” habe, “und zwar, ist die Schopenhauer’sche Philosophie durchweg eine Synthesis [Zusammenfügung] von Brahmanismus [aus dem der Hinduismus entstand], in Gestalt des Vedanta, und Buddhismus, deren Lehren in seinem Systeme zu höherer Einheit verbunden worden sind.

Wie Platon die Heraclit’sche Grundanschauung mit der des Parmenides in seiner Ideeenlehre verschmolzen hat, so Schopenhauer den brahmanischen und buddhistischen Idealismus. In der Lehre vom Willen als Ding-an-sich fliessen ebenfalls Vorstellungen des Brahmanismus und des Buddhismus zusammen, desgleichen in der Lehre von der Erlösung. Und wenn Schopenhauer im Jahre 1813 schrieb: ´Unter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Metaphysik in Einem sein soll` -, so sehen wir jetzt, dass diese Metaphysik wesentlich brahmanisches [und somit hinduistisches], die Ethik buddhistisches Gepräge aufweist. Seine Metaphysik ist die pantheistische Identitätslehre des Vedanta, seine Ethik die ´Vernichtung des Durstes`, die Buddha lehrt.

´Ich ordne an, ihr Jünger`, sagt Buddha, ´dass ein Jeder in seiner eigenen Sprache das Wort Buddhas lerne` (1) – das Abendland kann sie [die Lehre des Vedanta und die des Buddhismus ] in der Sprache Arthur Schopenhauers lernen.”(2)

Johannes Volkelt meinte in seinem in mehreren Auflagen erschienenen Werk über  Schopenhauer, dass Hecker in seinem “gründlichen” Buch “den Zusammenhängen Schopenhauers mit der indischen Philosophie … in ausführlicher und verdienstvoller Weise nachgegangen” sei, er habe aber dabei “nicht selten die Ähnlichkeiten übertrieben und die Abweichungen allzu sehr zurücktreten lassen”.(3)

Auf Schopenhauers Verhältnis zu den Lehren des Vedanta und des Buddhismus ging auch Helmuth von Glasenapp in Das Indienbild deutscher Denker näher ein, wobei er deutlicher als Hecker die Unterschiede hervorhob. Aber trotz dieser vom Standpunkt der späteren indologischen Forschung betonten Differenzen erkannte von Glasenapp an, dass “Schopenhauer wie kein anderer sich die größten Verdienste um die Verbreitung der Kenntnis indischer Weisheit im Abendland erworben” habe. “Niemand hat mit so edler Begeisterung wie er [Schopenhauer] immer wieder auf die geistigen Schätze des Gangeslandes hingewiesen, niemand hat ihnen durch seine Schriften so viele Freunde im Westen erworben wie er”. (4)

Zum 140. Geburtstage Schopenhauers veröffentlichte die Schopenhauer-Gesellschaft ihr fünfzehntes Jahrbuch, “dessen Philosophischer Teil” wie es im Vorwort heißt, “von einem einzigen Gedanken beherrscht wird: Europa und Indien”. Diesen Teil eröffnete Franz Mockrauer, Vorstandsmitglied der Gesellschaft, mit seinem Beitrag Schopenhauer und Indien. Gleich im ersten Absatz hob der Verfasser hervor: “Es ist keine Übertreibung, wenn man behauptet, daß die Lehre der Upanishads, des Vedanta und des Buddhismus ein Hauptbestandteil seiner [Schopenhauers] eignen Metaphysik geworden sind und an ihrer Gesamtgestaltung mitgewirkt haben.”(5)

Somit ist es durchaus verständlich, wenn Schopenhauerianer bei der Begegnung mit dem Vedanta oder dem Buddhismus den Eindruck haben, nicht wirklich fremden, sondern vertrauten Boden zu betreten. In diesem Sinne kann Arthur Schopenhauers Philosophie mit ihrer auch die Tiere einbeziehenden Mitleidsethik eine Brücke sein zu den altindischen Lehren, insbesondere zur Metaphysik des Vedanta und der allumfassenden Ethik des Buddhismus.

H.B.

S. auch
> Aranyakas – Upanishaden – Vedanta
> Schopenhauer und Buddhismus
> Schopenhauer : Metaphysik – jenseits der Physik

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
(1) Hermann Oldenberg, Buddha, hrsg. von Helmuth von Glasenapp,
Stuttgart o. J. , S. 188.
(2) Max F. Hecker , Schopenhauer und die indische Philosophie, Köln 1897, S. 253 f.
(3) Johanners Volkelt, Arthur Schopenhauer , 3. Auflage, Stuttgart 1907,
S. 197 und 438 (Anm. 292).
(4) Helmuth von Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart 1960, S. 99.
(5) 15. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft für das Jahr 1928, Heidelberg 1928, S. 3

Die Meeresstille des Gemüts

Es ist nicht allein der Inhalt seiner genialen Philosophie, sondern auch seine hohe Sprachkunst, durch die Arthur Schopenhauer zu einem der am meisten zitierten Philosophen wurde. Seine literarische Qualität zeigt sich besonders eindrucksvoll auch in folgendem Zitat, bei dem es um ein zentrales Thema seiner Philosophie geht, nämlich um den Willen zum Leben und in diesem Zusammenhang auch um das, was sich wohl alle Menschen in ihrem Leben, wenngleich oft vergeblich, wünschen – Ruhe und Frieden, jenes Glücks, welches Schopenhauer die gänzliche Meeresstille des Gemüts nannte:

„… Das, was sich gegen dieses Zerfließen ins Nichts sträubt, unsere Natur ist ja eben nur der Wille zum Leben, der wir selbst sind, wie er unsere Welt ist. Daß wir so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon, daß wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als dieser Wille, und nichts kennen, als eben ihn. –

Wenden wir aber den Blick von unserer eigenen Dürftigkeit und Befangenheit auf diejenigen, welche die Welt überwanden, in denen der Wille, zur vollen Selbsterkenntniß gelangt, sich in Allem wiederfand und dann sich selbst frei verneinte, und welche dann nur noch seine letzte Spur, mit dem Leibe, den sie belebt, verschwinden zu sehen abwarten; so zeigt sich uns, statt des rastlosen Dranges und Treibens, statt des steten Ueberganges von Wunsch zu Furcht und von Freude zu Leid, statt der nie befriedigten und nie ersterbenden Hoffnung, daraus der Lebenstraum des wollenden Menschen besteht, jener Friede, der höher ist als alle Vernunft, jene gänzliche Meeresstille des Gemüts, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Rafael und Correggio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist …“*

Gerade in einer Zeit voll Hektik und Unfrieden ist jener „Friede , der höher ist als alle Vernunft“, ein dringendes Bedürfnis der Menschen. Leider ist ihnen dieser Frieden, diese „tiefe Ruhe“, wie Arthur Schopenhauer sehr treffend bemerkte, nur „selten vergönnt“. Wer aber das seltene Glück hat, in seinem Leben jene gänzliche Meeresstille des Gemüts zu erfahren, wird vielleicht verstehen, weshalb der erste Band von Schopenhauers  Hauptwerk mit der Bejahung und Verneinung des Willens endet** und warum hierin ein zutiefst spiritueller Erlösungsgedanke zum Ausdruck kommt, wie er sonst wohl nur in  den  Schriften östlicher und westlicher Mystiker zu finden ist.

H.B.

S. auch: Arthur Schopenhauer über >  Mystik  und > Erlösung .

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
*  Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 507.
** Schopenhauer , a. a. O., S. 508.

 

Ein großer Schmerz verdrängt alle kleineren …

Nicht nur Arthur Schopenhauers berühmte Aphorismen zur Lebensweisheit enthalten vieles Wertvolle, was bei der Bewältigung des Alltages hilfreich sein kann. Auch in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung finden sich nicht wenige Weisheiten, die immer wieder durch das Leben bestätigt werden.  Das gilt zum Beispiel für die täglichen Erfahrungen von Schmerz und Leid, die mit dem Leben unvermeidbar verbunden sind, dabei jedoch mitunter weniger tragisch sind als sie im Augenblick erscheinen.

Wohl jeder ist schon Menschen begegnet, die selbst bei kleineren, fast harmlosen Erkrankungen voller Klage und Jammer sind – ganz abgesehen von hypochondrisch veranlagten Menschen, die sich Krankheiten nur einbilden.  Wie werden sie wohl reagieren, wenn sie wirklich schwer erkranken und dabei kaum erträgliche Schmerzen erleiden müssen? In diesem Zusammenhang denke ich an eine Lebensweisheit aus Schopenhauers Hauptwerk:

Große Leiden machen alle kleineren unfühlbar, und umgekehrt, bei Abwesenheit großer Leiden, quälen uns die kleinsten Unannehmlichkeiten … Ein großer Schmerz verdrängt alle kleineren …*

Insofern kann Leid – wie etwa durch  schwere Erkrankungen, die überstanden wurden – helfen, manches Unangenehme und viele Störungen im Leben nunmehr als das zu erkennen, was sie in Wahrheit sind: kleine Unannehmlichkeiten.

Übrigens, auch das war für Schopenhauer eine Lebenserfahrung:

Jeder Mensch, der ein großes Leid mit Geduld und ohne Murren erträgt, flößt uns Achtung ein.  Besonders ehrwürdig erscheint der Leidende, wenn er sein eigenes Unglück nur als einen Fall des allem Lebenden wesentlichen Leides auffaßt.*

Gerade der hier von Schopenhauer zuletzt genannte Fall setzt voraus, dass man nicht nur sein eigenes Leid, sondern auch das anderer Wesen wahrnimmt, mit ihnen mitfühlt und schließlich mitleidet. Das ist keine bloß theoretische Lebensweisheit, denn jeder kann es im Alltag erfahren: Mitleid verbindet und überschreitet die ansonsten strikte Grenze zwischen dem Ich und dem Du, ja nicht selten sogar auch zwischen Mensch und Tier – eine tiefgreifende Erkenntnis, die für Arthur Schopenhauer zur Grundlage seiner auch die Tiere einbeziehenden Mitleidsethik wurde.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

* Zit. nach: Schopenhauer – Register von Gustav Friedrich Wagner, neu hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, S. 244.

 

Das Glück – wo ist es ?

Alle Menschen streben nach Glück, doch leider finden es nicht alle. Vielleicht auch deshalb, weil sie es an der falschen Stelle suchen. Doch wo ist das Glück zu finden?  Arthur Schopenhauer gab hierzu die Antwort, und zwar durch einen Ausspruch des französischen Schriftstellers Nicolas Chamfort, den er seinen berühmten Aphorismen zur Lebensweisheit als Motto voranstellte und der in deutscher Übersetzung lautet:

Das Glück ist keine leichte Sache :
es ist sehr schwer, es in uns selbst,
und unmöglich es anderswo zu finden.

Gerade weil das Glück nur selten und nicht dauerhaft ist, gilt es, jede glückliche Stunde im Leben zu schätzen. Schopenhauer wusste das wohl aus eigener Erfahrung, denn:

Kein Glück auf Erden kommt dem gleich,
welches ein schöner und fruchtbarer Geist
zur glücklichen Sunde in sich selbst findet. *

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie  > hier .

* Quelle: Gustav Friedrich Wagner, Schopenhauer-Register, 2. Auflage, neu hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, S. 120.

Die geheime Kraft – der Wille

Gibt es eine Kraft, die bewirkt, dass alle Vielfalt dieser Welt und somit auch alles Leben aus dem – wie Arthur Schopenhauer es nannte – weltenschwangeren Nichts in Erscheinung tritt? Hierauf antwortete Schopenhauer mit einem wunderbaren, sehr aufschlussreichen Gleichnis, und zwar im Kapitel Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich im zweiten Band seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung:

“ Wenn wir nun […] den Blick vorwärts, weit hinaus in die Zukunft werfen, die künftigen Generationen, mit den Millionen ihrer Individuen, in der fremden Gestalt ihrer Sitten und Trachten uns zu vergegenwärtigen suchen, dann aber mit der Frage dazwischenfahren: Woher werden diese Alle kommen? Wo sind sie jetzt? – Wo ist der reiche Schooß des weltenschwangeren Nichts, der sie noch birgt, die kommenden Geschlechter? – Wäre darauf nicht die lächelnde und wahre Antwort: Wo anders sollen sie seyn, als dort, wo allein das Reale stets war und seyn wird, in der Gegenwart und ihrem Inhalt, also bei Dir, dem bethörten Frager, der, in diesem Verkennen seines eigenen Wesens, dem Blatte am Baume gleicht, welches im Herbste welkend und im Begriff abzufallen, jammert über seinen Untergang und sich nicht trösten lassen will durch den Hinblick auf das frische Grün, welches im Frühling den Baum bekleiden wird, sondern klagend spricht: »Das bin ja Ich nicht! Das sind ganz andere Blätter!« – O thörichtes Blatt! Wohin willst du? Und woher sollen andere kommen? Wo ist das Nichts, dessen Schlund du fürchtest? – Erkenne doch dein eigenes Wesen, gerade Das, was vom Durst nach Daseyn so erfüllt ist, erkenne es wieder in der innern, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets eine und dieselbe in allen Generationen von Blättern, unberührt bleibt vom Entstehn und Vergehn.“

Wenn Schopenhauer hierbei von einem weltenschwangeren Nichts spricht, so wird dadurch auch an dieser Stelle deutlich, dass dieses Nichts keinesfalls im absoluten, sondern nur im relativen Sinne zu verstehen ist, und somit alle, die seiner Philosophie einen Hang zum Nihilismus unterstellen, nur an ihrer Oberfläche geblieben sind.

Die geheime Kraft, „welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben bestimmt“, ist nicht irgendwo in der Welt, sondern – und das ist eine hochbedeutsame Erkenntnis Schopenhauers! – auch in uns selbst: „Ich nun aber habe gezeigt und habe es zumal in der Schrift Vom Willen in der Natur bewiesen, daß die in der Natur treibende und wirkende Kraft identisch ist mit dem Willen in uns.“(2)

Wenn die geheime innere Kraft oder, wie sie Schopenhauer nannte, der Wille in uns, identisch ist mit der, welche die Welt aus dem weltenschwangeren Nichts hervorbringt, dann besteht ein Zusammenhang zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, den Schopenhauer so beschrieb: „Das Wesen an sich des Menschen kann nur im Verein mit dem Wesen an sich aller Dinge, also der Welt, verstanden werden […]. Mikrokosmos und Makrokosmos erläutern sich nämlich gegenseitig, wobei sie als im Wesentlichen das Selbe sich ergeben.“(3) Somit liegt der Schluss nahe: Wer sich selbst erkennt, hat alles Wesentliche der Welt erkannt! Die von Arthur Schopenhauer hoch verehrten Weisen des alten Giechenlands kamen wohl zum gleichen Ergebnis: Erkenne dich selbst, lautete die Inschrift am Apollotempel in Delphi – ein Spruch des Weisen Cheilon, auf dem dann Sokrates seine Philosophie der Tugend gründete. (4)

H.B.

S. dazu auch > Der metaphysische Wille

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe),    Band  IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 559 f.
(2) Ebd.,  S. 691 f.
(3) Schopenhauer, a. a. O., Band IX: Parerga und Paralipomena II,
S. 26 f.
(4) Vgl. Philosophisches Wörterbuch, begr. v. Heinrich Schmidt,
21. Aufl., neu bearb. v. Georgi Schischkoff, Stuttgart 1982, S. 163.

 

 

 

Genie oder Gelehrter ?

Das Genie” – meinte Arthur Schopenhauer – “ist unter den andern Köpfen, was unter den Edelsteinen der Karfunkel: es strahlt eigenes Licht aus, während die anderen es nur reflektieren … Ein Gelehrter ist, wer viel gelernt hat; ein Genie Der, von dem die Menschheit lernt, was er von Keinem gelernt hat. – Daher sind die großen Geister, von denen auf hundert Millionen Menschen kaum einer kommt, die Leuchtthürme der Menschheit, ohne welche diese sich in das grenzenlose Meer der entsetzlichsten Irrtümer und der Verwilderung verlieren würde.” (1)

Wenn Schopenhauer nur wenigen Menschen zubilligte, ein Genie zu sein, so liegt das auch daran, dass er vielen Gelehrten, die in der Öffentlichkeit als genial gelten, dieses Prädikat nicht zugestand: “Geister ersten Ranges … werden niemals Fachgelehrte seyn”: Diese verglich Schopenhauer mit einem Manne, “der in seinem eigenen Hause wohnt, jedoch nie herauskommt. In dem Hause kennt er Alles genau, jedes Treppchen, jeden Winkel und jeden Balken, aber außerhalb derselben ist ihm alles unbekannt”. Deshalb könne nach Meinung Schopenhauers “den Namen eines Genies … nur Der verdienen, welcher das Ganze und Große, das Wesentliche und Allgemeine der Dinge zum Thema seiner Leistung nimmt”. (2)

Die Ansprüche, die Schopenhauer an ein Genie stellte, sind dementsprechend hoch und schwer zu erfüllen: Die vollkommenste Erkenntniß, also die rein objective, d. h. die geniale Auffassung der Welt, [ist] bedingt durch ein so tiefes Schweigen des Willens, daß, so lange sie anhält, sogar die Individualität aus dem Bewußtseyn verschwindet und der Mensch als reines Subjekt des Erkennens … übrig bleibt.”(3)

Somit lässt sich Genie, wenn überhaupt, nur fördern, aber nicht erlernen und auch nicht willentlich erzwingen: “Um originelle, außerordentliche, vielleicht sogar unsterbliche Gedanken zu haben, ist es hinreichend, sich der Welt und den Dingen auf einige Augenblicke so gänzlich zu entfremden, daß Einem die allergewöhnlichsten Gegenstände und Vorgänge als völlig neu und unbekannt erscheinen, als wodurch eben ihr wahres Wesen sich aufschließt. Das hier Geforderte ist aber nicht etwan schwer; sondern es steht gar nicht in unsrer Gewalt und ist eben das Walten des Genius.”(4)

So mag man es als “Gnade” auffassen, wenn sich beim Genie wenigstens auf einige Augenblicke die Erkenntnis von der Herrschaft des Willens löst. Andererseits ist aber Genie nicht selten mit einem hohen Preis verbunden, denn – so Arthur Schopenhauer – man könnte sagen: “Das Genie wohne nur ein Stockwerk höher, als der Wahnsinn”.(5) Ja mehr noch: Oft wohnt es sogar im gleichen Stockwerk! (6)

Wenn laut Schopenhauer Genie “höchster Intellekt mit vollkommener Objektivität, Wahrheitsliebe, Hingabe an die Sache und Fähigkeit zur Kontemplation” (7) ist, so muss man wohl kein “Schopenhauerianer” sein, um anzuerkennen, dass Schopenhauer diese Eigenschaften in besonders hohem Maße besaß. So stellte zum Beispiel Heinrich Hasse , Professor der Philosophie, in seiner sehr empfehlenswerten Schopenhauer-Biografie Arthur Schopenhauer als “großen Denker” vor, der “von leidenschaftlicher Wahrheitsliebe und philosophischer Ehrlichkeit zutiefst erfüllt” gewesen sei. Es seien “Eigenschaften, welche bezwingend ausstrahlen in die Gedankenwelt seines [Schopenhauers] Systems. Geniale Kühnheit und kritische Redlichkeit halten sich in der Behandlung der Kernfragen das Gleichgewicht”. Schopenhauers Leistung stelle sich dar, “als ein Gesamtzusammenhang, in welchem Kühnheit und Ernst sich verbündet haben zu tiefsinniger Beantwortung jener ersten und letzten Fragen, mit denen menschliches Denken aller Zeiten und Zonen gerungen hat”.(8)

Ob obiges Urteil zutrifft, und deshalb Arthur Schopenhauer als Genie zu bezeichnen ist, davon mag sich der ernsthafte und unvoreingenommene Leser seiner Werke selbst überzeugen. Jedenfalls für den Verfasser dieses Beitrages besteht hieran kein Zweifel.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Quellen

(1) Arthur Schopenhauer , P II, S. 82.
(2) Ebd., S. 520.
(3) Schopenhauer , W II, 245 f.
(4) Schopenhauer , P II, S. 81 f.
(5) Ebd., S. 53.
(6) S. dazu: Wilhelm Lange-Eichbaum, Genie Irrsinn und Ruhm –
Eine Pathographie des Genies, bearb. von Wolfram Kurth,
5. Aufl., München / Basel 1962, Dort wird zu dieser Thematik
auf zahlreiche Autoren verwiesen, darunter auch auf Arthur Schopenhauer.
(7) Ebd., S. 36.
(8)  Heinrich Hasse , Schopenhauer, München 1926, S. 17.

 

Beispiele und Vorbilder

Können Beispiele, die als Vorbilder dienen, das Verhalten oder sogar den Charakter der Menschen wirklich ändern? Arthur Schopenhauer nahm zu dieser Frage in seinen Schriften mehrmals Stellung, wie etwa die folgenden Zitate aus dem Schopenhauer-Lexikon * zeigen:

Der Einfluss des Beispiels ist mächtiger, als der der Lehre. Die sehr starke Wirkung des Beispiels beruht auf der Unselbständigkeit der meisten Menschen. Die Meisten haben zu wenig Urteilskraft und zu wenig Kenntnis, um nach eigenem Ermessen zu handeln. Daher sie gern in die Fußstapfen Anderer treten. Die Scheu vor eigenem Nachdenken und das große Misstrauen gegen das eigene Urteil treibt sie zur Nachahmung. (P. II, 254.)

Das Beispiel wirkt entweder hemmend oder befördernd. Ersteres, wenn es den Menschen bestimmt, zu unterlassen was er gern täte, sei es, dass er es nicht für rätlich hält, oder gar an einem Andern, der es getan, die schlimmen Folgen wahrgenommen; dies ist das abschreckende Beispiel. Befördernd wirkt das Beispiel, indem es entweder den Menschen bewegt, zu tun was er gern unterließe, oder ihn ermutigt, zu tun, was er gern tut, jedoch bisher aus Furcht vor Gefahr oder Schande unterließ; dies ist das verführerische Beispiel. (P. II, 253 fg.)

Die Art der Wirkung des Beispiels wird durch den Charakter eines Jeden bestimmt; daher dasselbe Beispiel auf den Einen verführerisch, auf den Anderen abschreckend wirkt. Der Eine denkt: „Pfui, wie egoistisch, wie rücksichtslos ist dies; ich will mich hüten, dergleichen zu tun.“ Zwanzig Andere denken: ´Tut Der Das, darf ich’s auch.` (P. II, 254.)

Das Beispiel kann, wie die Lehre, zwar eine zivile, oder legale Besserung befördern, jedoch nicht die innerliche, eigentlich moralische. Das Beispiel wirkt nur als ein Beförderungsmittel des Hervortretens der guten und schlechten Charaktereigenschaften, aber es schafft sie nicht. (P. II, 255.)”

Aus obigen Zitaten wird deutlich, dass Beispiele die Funktion von Vorbildern haben können, und zwar nicht nur in positiver, sondern auch in negativer Hinsicht. So groß ihr Einfluss auch sein mag, ihre Wirkungen sind begrenzt, denn sie vermögen nur das Verhalten des Menschen zu beeinflussen, nicht jedoch seinen Charakter zu ändern. Gerade in dieser sehr bedeutsamen Einschränkung, die wohl von vielen heutigen Pädagogen bestritten wird, kommt eine zentrale Erkenntnis der Philosophie Schopenhauers zum Ausdruck, nämlich die Unveränderbarkeit des Charakters. Wer das aus eigener Lebenserfahrung bestätigt fand, dem bleibt wohl künftig manche Enttäuschung erspart.

H.B.

> Charakter und Motivation in Schopenhauers Lebensphilosophie

> Arthur Schopenhauer : Der angeborene Charakter

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier

* Quelle
 > Schopenhauer-Lexikon  , 1. Band, S. 72 f., Stichwort: Beispiel .
Dort sind die hier abgekürzten Quellenangaben zu den betreffenden Werken Schopenhauers zu finden.

Unsterbliche Seele in Mensch und Tier ?

Das, was  Seele genannt werde, so schrieb Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung sei „seit Sokrates´ Zeit und bis auf unsrige“ ein „Hauptgegenstand des unaufhörlichen Disputierens der Philosophen.“(1)

Auch Schopenhauer ging in seiner Philosophie auf die immer wieder beunruhigende Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ein:

„Die sogenannte Seele“, so erklärte Schopenhauer in seiner Schrift Über den Willen in der Natur, „ist die Verbindung des Willens mit dem Intellekt.“(2)

Der Intellekt als bloße Gehirnfunktion des Denkens und Erkennens gehört dem Bereich des Physischen an. Er ist nur eine Erscheinungsform, eine Manifestation des Willens, der jedoch laut Schopenhauer metaphysisch und der eigentliche Kern jedes Lebewesens ist.

Durch den Tod wird nur das Physische und somit auch das Gehirn mit seiner Funktion, dem Intellekt, zerstört. Der metaphysische  Kern hingegen bleibt vom Tod unberührt.  Insofern ist die Seele, wenn man diesen Begriff auf den metaphysischen Kern, den Willen, beschränkt, unsterblich.

Bereits 1821 schrieb Schopenhauer in eines seiner Manuskripte zu der Frage, ob die Seele unsterblich ist: „In Folge meiner Lehre ist die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele dahin zu beantworten, daß das Ende der Person ebenso real ist, als ihr Anfang und wir nach dem Tode in eben dem Sinn nicht mehr sein werden, als wir vor der Geburt nicht waren. Aber die Person erschöpft nicht das Wesen, welches sich Ich nennt: sondern die Person ist bloß die Manifestation, eine Äußerung jenes Wesens, welches daher vom Anfang und Ende solcher Äußerung nicht berührt wird.“(3)

Somit manifestiert sich in jedem Menschen und in jedem Tier (!) das Unsterbliche – egal ob man es als Wille , als Seele oder  (wie in den von Schopenhauer hoch geschätzten altindischen Upanishaden) als Atman bzw. Brahman bezeichnet.

Im Abendland hingegen war es bis weit in die Neuzeit hinein wegen des herrschenden Christentums keineswegs üblich, auch den Tieren eine unsterbliche Seele zuzuerkennen. So heißt es hierzu in einem Beitrag zum Sammelwerk Mensch und Tier in der Geschichte Europas: „Zwar sprachen die meisten christlichen Theologen den Tieren nicht die Seele ab, qualifizierten sie aber als sterblich (so auch die heutige Dogmatik).“(4)

Es waren weniger die dogmatisch festgelegten Theologen als vielmehr Menschen, die  durch ihr Mitgefühl mit Tieren deren innere Nähe zu den Menschen erkannten. Selbstverständlich wäre da vor allem Arthur Schopenhauer zu erwähnen, aber auch Jakob Grimm, ein Zeitgenosse Schopenhauers, ist hierfür ein Beispiel, denn er erklärte:

„Es ist nicht bloß die äußere menschenähnlichkeit der thiere, der glanz ihrer augen, die fülle und schönheit ihrer gliedmaßen, was uns anzieht, auch die wahrnehmung ihrer mannigfaltigen triebe, kunstvermögen, begehrungen leidenschaften und schmerzen zwingt in ihrem innern ein analogon [ein Ähnliches] von seele anzuerkennen.“(5)

Selbst wenn man diese hier erörterte, im Grunde metaphysische Frage rational nicht eindeutig beantworten kann, so ist es doch eine Anmaßung zu behaupten, der Mensch hätte eine unsterbliche Seele, das Tier aber nicht. Arthur Schopenhauer war wohl der erste weltbedeutende Philosoph der Neuzeit, der sich sehr entschieden  gegen solche  anthropozentrische Überheblichkeit wandte. Für Schopenhauer war im „innern Kern“, den man im allgemeinen Sprachgebrauch als Seele bezeichnen könnte, zwischen Tier und Mensch kein Unterschied. Ausführlich und sehr tiefsinnig begründete er in seiner Philosophie, daß das „Wesentliche und Hauptsächliche im Thiere und im Menschen das Selbe“ sei. (6)

Hierbei geht es nicht bloß um Fragen von theoretischer Bedeutung, weil je nach ihrer Beantwortung die praktischen Konsequenzen durchaus erheblich sein können. Wer auch den Tieren eine unsterbliche Seele zuerkennt, hat ein anderes Verhältnis zu Tieren und wird deshalb wohl weniger geneigt sein, sie gleichsam als Sachen anzusehen und  dementsprechend zu behandeln.

Im übrigen kann der Gedanke an das Unsterbliche, und zwar unabhängig davon, ob man  hierbei an das Wort Seele denkt, sehr viel Tröstliches bieten. Offenbar hatte solchen Trost der alte Buddenbrook gesucht, als er in den letzten Stunden seines Lebens in Schopenhauers Hauptwerk das spirituell sehr tiefe und literarisch kaum zu übertreffende Kapitel Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich las. Diesen Trost dürfte er bei Arthur Schopenhauer gefunden haben, denn Thomas Mann, Autor des Romans Buddenbrooks, schrieb in einem Essay über Schopenhauers Philosophie:

Man kann damit leben und sterben, – namentlich sterben: ich wage zu behaupten, daß die Schopenhauersche Wahrheit, daß ihre Annehmbarkeit in der letzten Stunde standzuhalten, und zwar mühelos, ohne Denkanstrengung, ohne Worte standzuhalten geeignet ist.(7)

H.B.

Weiteres
zum Thema Seele > Arthur Schopenhauer : Seelenwanderung und Wiedergeburt
und zu  Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band III, S. 316.
(2) Schopenhauer , a. a. O., Band V, S. 219.
(3) Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 3, S. 85.
(4) Peter Dinzelbacher (Hg.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000, S. 268.
(5) Zit. aus: Dinzelbacher, a. a. O., S. IX.
(6) Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band VI, S. 280.
(7) Thomas Mann , Schopenhauer , zit. aus: Über Arthur Schopenhauer, , hrsg. von Gerd Haffmans, 3. Aufl., Zürich 1981,  S. 112.

 

 

 

 

 

Macht der Gewohnheit

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, sagt der Volksmund und deutet damit auf etwas hin, das für das Verhalten der Menschen von kaum zu überschätzender Bedeutung ist: die Macht der Gewohnheit. Selbst in Situationen, wo es wohl vernünftiger wäre, alte Verhaltensweisen zu ändern, setzt sich oft die Macht der Gewohnheit durch.
Der Mensch ist eben nicht nur ein Vernunftswesen, sondern – wie oben erwähnt – ein Gewohnheitstier. Arthur Schopenhauer hatte sich als Lebensphilosoph auch zu diesem im Alltag wichtigen Thema geäußert:

“Gar manches, was der Macht der Gewohnheit zugeschrieben wird, beruht vielmehr auf der Konstanz und Unveränderlichkeit des ursprünglichen und angeborenen Charakters, in Folge welcher wir, unter gleichen Umständen, stets das Selbe thun, welches daher mit gleicher Nothwendigkeit das erste, wie das hundertste Mal geschah. –

Die wirkliche Macht der Gewohnheit hingegen beruht eigentlich auf der Trägheit, welche dem Intellekt und dem Willen die Arbeit, Schwierigkeit, auch die Gefahr, einer frischen Wahl ersparen will und daher uns heute thun läßt was wir schon gestern und hundert Mal gethan haben und wovon wir wissen, daß es zu seinem Zwecke führt.

Die Wahrheit dieser Sache liegt aber tiefer: denn sie ist in einem eigentlicheren Sinne zu verstehn, als es, auf den ersten Blick, scheint. Was nämlich für die Körper, sofern sie bloß durch mechanische Ursachen bewegt werden, die Kraft der Trägheit ist; eben Das ist für die Körper, welche durch Motive bewegt werden, die Macht der Gewohnheit.

Die Handlungen, welche wir aus bloßer Gewohnheit vollziehn, geschehn eigentlich ohne individuelles, einzelnes, eigens für diesen Fall wirkendes Motiv; daher wir dabei auch nicht eigentlich an sie denken. Bloß die ersten Exemplare jeder zur Gewohnheit gewordenen Handlung haben ein Motiv gehabt, dessen sekundäre Nachwirkung die jetzige Gewohnheit ist, welche hinreicht, damit jene auch ferner vor sich gehe; gerade so, wie ein durch Stoß bewegter Körper keines neuen Stoßes mehr bedarf, um seine Bewegung fortzusetzen; sondern, sobald sie nur durch nichts gehemmt wird, in alle Ewigkeit sich fortbewegt.”(1)

Das Verhalten des Menschen entsprechend seinen Gewohnheiten ist aber nicht unbedigt ein Nachteil, denn es muss sich im Verlaufe der Evolution auch als Vorteil erwiesen haben, sonst hätte die Macht der Gewohnheit nicht diese Bedeutung erlangt. “Die Hauptbedeutung der Gewohnheit”, so erklärt das Wörterbuch der philosophischen Begriffe, “liegt in der Entlastung des Bewußtseins und der Einsparung psychischer Energie überhaupt. Gedächtnis, Lernen, Automatisierung werden erst unter der Voraussetzung der Gewohnheit verstehbar.”(2) Im Sinne der Philosophie Arthur Schopenhauers lassen sich auch die den Alltag bestimmenden Gewohnheiten – wie alle Verhaltensweisen und Lebensfunktionen – deuten als Ausdruck des alles beherrschenden Willens zum Leben.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Quellen
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe),
Band X: Parerga und Paralipomena II, Kap. 26: Psychologische Bemerkungen, S. 634 f.
(2) Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Johannes Hoffmeister, 2. Aufl.,
Hamburg 1955, S. 272, Stichwort: Gewohnheit.

Heilt die Zeit alle Wunden ?

        Das sonst ganz Unverdauliche, alle Betrübnis, Ärger, Verlust, Kränkung, verdaut allein die Zeit – meinte Arthur Schopenhauer *, und eine Volksweisheit stimmt ihm da zu: Die Zeit heilt alle Wunden. Solche und ähnliche Sprüche sind optimistisch und mögen mitunter hilfreich sein, aber sind sie auch wahr? Das Leben kann derart schwere Wunden zufügen, dass die Zeit diese Wunden vielleicht vorübergehend etwas verdecken, aber nicht dauerhaft heilen kann. Dennoch – auch das zeigt das Leben – lassen sich viele Probleme zumindest mildern, wenn mit etwas Geduld abgewartet wird, denn oft stellt sich im Laufe der Zeit heraus, dass sie nicht so schwerwiegend sind, wie es am Anfang den Anschein hatte. Insofern kann die Zeit durchaus hilfreich sein. Arthur Schopenhauer bezog sich wohl auf diese Lebenserfahrung, als er schrieb:

        „Wie, im Raum, die Entfernung Alles verkleinert, indem sie es zusammenzieht, wodurch dessen Fehler und Übelstände verschwinden, weshalb auch in einem Verkleinerungsspiegel, oder in der camera obscura [Lochguckkasten], sich alles viel schöner, als in der Wirklichkeit, darstellt; – eben so wirkt in der Zeit die Vergangenheit: die weit zurückliegenden Scenen und Vorgänge, nebst agirenden Personen, nehmen sich in der Erinnerung, als welche alles Unwesentliche und Störende fallen läßt, allerliebst aus. Die Gegenwart, solchen Vortheils entbehrend, steht stets mangelhaft da.

        Und wie, im Raume, kleine Gegenstände sich in der Nähe groß darstellen; wenn sehr nahe, sogar unser ganzes Gesichtsfeld einnehmen; aber, sobald wir uns etwas entfernt haben, klein und unscheinbar werden; ebenso, in der Zeit, erscheinen die in unserm täglichen Leben und Wandel sich ereignenden kleinen Vorfälle, Unfälle und Begebenheiten, so lange sie, als gegenwärtig, dicht vor uns liegen, uns groß, bedeutend, wichtig, und erregen demgemäß unsere Affekte, Sorge, Verdruß, Leidenschaft: aber sobald der unermüdliche Strom der Zeit sie nur etwas entfernt hat, sind sie unbedeutend, keiner Beachtung werth und bald vergessen, indem ihre Größe bloß auf ihrer Nähe beruht.“**

        So relativiert die Zeit zwar nicht alle, aber manche Probleme – eine Lebenserfahrung (nicht nur) Schopenhauers, die helfen kann, sich viele Aufregungen des Alltags zu ersparen. Auch das gehört zur Lebensphilosophie Arthur Schopenhauers.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Zitatquellen
*  Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band X, S. 454.
** Arthur Schopenhauer , a. a. O., S. 658.

Wahrheit und Zeitgeist

Arthur Schopenhauer veröffentlichte sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung 1819 im Brockhaus-Verlag, und zwar, so schrieb er an den Verleger, in der „festen Überzeugung“, dass sein Buch „nachher die Quelle und der Anlaß von hundert andern Büchern werden“ würde. Das Buch enthalte „nicht eine neue Darstellung des schon Vorhandenen: sondern eine im höchsten Grad zusammenhängende Gedankenreihe, die bisher noch  nie in irgend eines Menschen Kopf gekommen“ sei.(1) Dementsprechend hoffnungsvoll erwartete dann Schopenhauer den Verkauf seines Buches und das Echo der philosophisch interessierten Öffentlichkeit.

Etwa zehn Jahre danach erkundigte sich Schopenhauer beim Verleger nach dem Absatz seines Werkes.(2) Der antwortete ihm, dass noch 150 Exemplare des Werkes vorrätig seien, wie viele verkauft worden seien, könnte er aber nicht sagen, da er vor mehreren Jahren eine bedeutende Anzahl zu Makulatur gemacht habe. (3)  Eine wirklich niederschmetternde Antwort für Schopenhauer.

Dennoch ließ sich Schopenhauer nicht entmutigen. Er wandte sich 1843 erneut an den Brockhaus-Verlag, um diesem den zweiten Band seines Hauptwerkes zur Veröffentlichung anzubieten. Dieser Band habe  „bedeutende Vorzüge vor dem ersten und verhält sich zu diesem, wie das ausgemalte Bild zur bloßen Skizze … Jedenfalls ist es das Beste, was ich geschrieben habe“ (4).

Die Antwort des Verlegers war noch trostloser als beim ersten Band: Der Verlag könne auf Schopenhauers Antrag nicht eingehen, auch nicht wenn dieser auf sein Honorar verzichte. Der Verlag habe mit seinem Werk von 1819 „ein zu schlechtes Geschäft“ gemacht.  (Von den nach der letzten Makulierung im Jahre zurückgebliebenen 50 Exemplaren war noch immer eine „für die Nachfrage genügende“ Anzahl vorhanden.) Nur wenn Schopenhauer noch Druckkosten übernehme, wolle der Verlag die beiden Bände in Kommission nahmen.(5) Jedenfalls deutlicher konnte der Verlag kaum zum Ausdruck bringen, wie gering er den Wert von Schopenhauers Hauptwerk für die Öffentlichkeit einschätzte.

Es dürfte verständlich sein, wenn Schopenhauer diese fehlende Wertschätzung seiner bisherigen Lebensarbeit verbitterte und meinte: „Mein Zeitalter und ich passen nicht für einander.“ (6) Der von Hegel und anderen Fortschrittsgläubigen sowie der Theologie beherrschte philosophische Zeitgeist stand Schopenhauers Philosophie entgegen. Mochte sie noch so sehr der Wahrheit entsprechen, die akademisch etablierte „Philosophie“ nahm Schopenhauer nicht oder nur am Rande zur Kenntnis.

Die fast völlige Nichtbeachtung Schopenhauers  änderte sich grundlegend erst in dessen letztem Lebensjahrzehnt, und zwar weniger durch die Universitätsphilosophie als vielmehr durch seine 1851 veröffentlichten Aphorismen zur Lebensweisheit. „Dieser weise-gelassene und zugleich blendende Rechenschaftsbericht eines ganzen Lebens, mit dem wir dem menschlichen Bilde Schopenhauers näher sind als je“ (7) brachte – und bringt auch heute noch – Schopenhauer eine  weit über den akademischen Bereich hinaus reichende Vielzahl von Lesern. Auch für diesen Blog zu Schopenhauers Lebensphilosophie sind dessen Aphorismen eine Schatzkammer voller tiefer und dabei immer sehr lebensnah bleibender Weisheiten.

Ein Beispiel für das zunehmende Interesse der Öffentlichkeit an Schopenhauers Wahrheiten ist eine Rezension, die 1855 in einer Belletristischen Beilage einer Frankfurter Zeitung erschien:

„Schopenhauers Philosophie steht schon seit 1818 am Himmel der philosophischen Forschung, ohne daß sie wie sie es verdient beachtet wurde. Die Nebel der bisherigen Philosophien hinderten sie zu erblicken. Jetzt, da diese Nebel gefallen sind, steht sie klar am Himmel, wie die Sonne, und wird nicht untergehen. Sie ist eine Bestätigung des Wortes: die Wahrheit wird euch frei machen. Niemand hat sie bis jetzt widerlegen können. Alle Versuche, die hie und da von schwachen Händen gemacht worden, sind wie von einem Felsen abgeprallt. Wer Schopenhauers Philosophie kennt, wird dieses begreiflich finden. Was will Schopenhauer? Was gibt seiner Philosophie die unwiderstehliche Gewalt? Es ist die einfache Thatsache, daß diese Philosophie, welche aus der Erfahrung schöpft, mit der Erfahrung übereinstimmt, daß sie ihre Bestätigung aus beinahe allen empirischen Wissenschaften erhält. Dies und die seltene Wahrhaftigkeit ihres Urhebers macht sie so unwiderstehlich.“ (8)

Für Schopenhauer waren solche positiven Beurteilungen eine Entschädigung für die vielen Jahren, in welchen er sich als Kaspar Hauser der Philosophie fühlen musste. So hatte er nun „den Philosophieprofessoren eine betrübte Nachricht mitzuteilen. Ihr Kaspar Hauser, den sie beinahe vierzig Jahre hindurch, von Licht und Luft so sorgfältig abgesperrt und so fest eingemauert hatten, daß kein Laut sein Daseyn der Welt verrathen konnte, – ihr Kaspar Hauser ist entsprungen!“ (9)

Nun konnte sich Schopenhauer in seiner Überzeugung bestätigt finden, dass die Wahrheit trotz aller Hindernisse, die der Zeitgeist ihr entgegenzustellen vermag, sich zwar langsam, aber letztlich durchsetzen wird:

„Die Wahrheit kann warten: denn sie hat ein langes Leben vor sich. Das Aechte und ernstlich Gemeinte geht stets langsam seinen Gang und erreicht sein Ziel, freilich fast wie durch ein Wunder … Wenn die Wahrheit, um wahr zu seyn, bei Denen um Erlaubniß zu bitten hätte, welchen ganz andere Dinge am Herzen liegen; da könnte man freilich an ihrer Sache verzweifeln.“ (10.)

Arthur Schopenhauer verzweifelte nicht. Er wusste aus eigener jahrzehntelanger Erfahrung „daß die Einsicht Einzelner sich nicht gelten machen kann, so lange der Geist der Zeit nicht reif ist, sie aufzunehmen.“ (11)  Wer die Wahrheit entgegen dem Zeitgeist den Menschen nahezubringen versucht, benötigt Geduld und nicht selten auch Mut:

Die Wahrheit steckt tief im Brunnen, – hat Demokritos gesagt, und die Jahrtausende haben es seufzend wiederholt: aber es ist kein Wunder; wenn man, sobald sie heraus will, ihr auf die Finger schlägt.“ (12)

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosphie > hier.

Zitatquellen

(1) Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. v. Arthur Hübscher,
2. Aufl., Bonn 1987, S. 29 f.
(2) Ebd., S. 108.
(3) Ebd., S. 517.
(4) Ebd., S. 195.
(5) Ebd., S. 536.
(6) Aus Arthur Schopenhauer´s handschriftlichem Nachlaß,
hrsg. v. Julius Frauenstädt, Leipzig 1864, S. 477.
(7) Arthur Schopenhauer – Ein Lebensbild von Arthur Hübscher,
2. Aufl., Wiesbaden 1949, S. 96.
(8) Zit. n. Schopenhauer , Briefe, a. a. O., S. 697.
(9) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürch 1977
(Zürcher Ausgabe), Band V: Ueber den Willen in der Natur, S. 185.
(10) Ebd., S. 207 f.
(11) Schopenhauer , Werke, a. a. O.,
Band VII:Parerga und Paralipomena I, S. 14.
(12) Schopenhauer , Werke, a. a. O., Band V,  S. 219.

 

 

 

 

 

Bemerkenswert

Tierethik und Schopenhauers Philosophie

            Welch ein unergründliches Mysterium liegt doch in jedem Thiere! – schrieb Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. (1) Dort und auch in anderen seiner Schriften wird deutlich, wie sehr er die Tiere, die für die meisten Philosophen zu jener Zeit kein Thema waren, in seine Philosophie einbezog. Das gilt besonders für einen zentralen Bereich seiner Philosophie, nämlich für seine Mitleidsethik :

            Mitleid mit Thieren hängt mit der Güte des Charakters  so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Thiere grausam ist, könne  kein guter Mensch seyn. Dieses Mitleid mit Tieren, so fügte Schopenhauer hinzu, sei aus der selben Quelle mit der gegen Menschen zu übenden Tugend entsprungen. (2)

            In Schopenhauers Mitleidsethik hat die Tierethik besondere Bedeutung, wie Dieter Birnbacher, Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Ethik, unter der Überschrift Mitleidsethik in seinem Buch Schopenhauer (3) darlegt:

           “ Die wichtigste und nachhaltigste Konsequenz, die Schopenhauer aus seiner Mitleidsethik für die Sozialmoral zieht, ist seine differenzierte Einbeziehung der Tiere in die Ethik und die aus seinen Grundprinzipien abgeleitete Forderung nach angemessenem Schutz der leidensfähigen und insbesondere der in Gemeinschaft mit dem Menschen lebenden Tiere vor Quälerei, Ausbeutung und Überforderung. Wenngleich im Einzelnen schwer einzuschätzen ist, welche Entwicklungen der schopenhauerschen Theorie und welche dem allgemeinen Wandel der Mentalität geschuldet sind, ist doch die historische Bedeutung von Schopenhauers Tierethik nicht zu unterschätzen.

            Schopenhauer hat die Idee des Tierschutzes zwar nicht erfunden. Das erste Tierschutzgesetz, der sogenannte Martin’s Act, war bereits 1822 in England erlassen worden, Tierschutzvereine bestanden bereits in mehreren deutschen Städten (Schopenhauer gehörte 1841 zu den Mitbegründern des Frankfurter Vereins). Aber Schopenhauer hat diese Initiativen, indem er sie mit einer tragfähigen ethischen Grundlage ausstattete, entscheidend gefördert. […]

            Die Grundlage von Schopenhauers Tierethik ist dieselbe, die sich auch bereits bei Bentham und vorher ansatzweise bei Hume und Rousseau findet, nämlich dass das Wesentliche und Hauptsächliche im Thiere und im Menschen das Selbe ist (4). Diese entscheidende Gemeinsamkeit ist die Leidensfähigkeit. Tiere und Menschen stimmen darin überein, dass sie Schmerzen empfinden und unter der Frustration natürlicher Bedürfnisse leiden. Bereits die Gemeinsamkeiten im äußeren Ausdrucksverhalten machen es für Schopenhauer evident, dass zwischen Mensch und höheren Tieren eine enge Verwandtschaft besteht. Auch die tierische Anatomie lasse keine scharfe Grenze, sondern lediglich fließende Übergänge zwischen Mensch und Tier erkennen. (5) Diese äußeren Ähnlichkeiten lassen es jedoch unzweifelhaft erscheinen, dass sich die Formen des inneren Erlebens von Mensch und Tier ebenfalls nicht abgrundtief unterscheiden. Aufgrund ihres intelligenten Verhaltens glaubt Schopenhauer einigen hochentwickelten Tieren, insbesondere Elefanten, sogar eine rudimentäre Denk- und Vernunftfähigkeit zuschreiben zu können. (6)

            Auch hier bezieht Schopenhauer eine scharfe Gegenposition zu Kant. Kant meinte, dass der Mensch über einen nicht vollständig naturalistisch zu erklärenden Wesenskern (das intelligible, das heißt nicht empirisch aufweisbare Ich) verfügt, der ihm den Status einer Person verleiht und es anderen verbietet, ihn bloß als Mittel zu behandeln. Dieser Wesenskern manifestiere sich in der Vernunft, insbesondere in der praktischen Vernunft, der Fähigkeit, sich selbst Verhaltensnormen zu geben und sein Handeln an diesen Normen auszurichten. Für Schopenhauer stellt diese Metaphysik die wahren Verhältnisse geradewegs auf den Kopf. Sofern der Mensch über einen Wesenskern verfügt, ist dieser kein Alleinbesitz des Menschen, sondern ein Besitz aller Lebewesen; die Fähigkeit der Vernunft ist zwar für den Menschen charakteristisch, […] Die moralische Einstellung richte sich aber nicht danach, welchen Platz ein Wesen aufgrund seiner spezifischen Fähigkeiten oder Potenziale in der Rangfolge der Lebewesen einnimmt, sondern ausschließlich danach, wie sehr es leidet […]

            Eine wichtige Quelle von Schopenhauers Ausweitung seiner Mitleidsethik auf die Tiere ist zweifellos seine Bekanntschaft mit Teilen der asiatischen Philosophietradition. Schopenhauer war einer der ersten westlichen Philosophen, die sich mit dem asiatischen Denken, vor allem mit den aus Indien stammenden Richtungen des Buddhismus und Hinduismus, vertraut gemacht haben. Auch deshalb stand ihm die nur sporadische Berücksichtigung der Tiere in der Philosophie und Theologie des Westens mit besonderer Deutlichkeit vor Augen.

            Von daher ergab sich für ihn auch eine naheliegende Erklärung des Vollzugsdefizits der westlichen Ethik: Die Quelle des Übels sei der Herrschaftsauftrag der biblischen Schöpfungsgeschichte, der zunächst im Judaismus, dann im Christentum zum Dogma wurde und von da aus das gesamte westliche Denken infizierte. Nichts anderes als der Mythos, nach dem Gott sämmtliche Thiere, ganz wie Sachen und ohne alle Empfehlung zu guter Behandlung, wie sie doch meist selbst ein Hundeverkäufer, wenn er sich von seinem Zöglinge trennt, hinzufügt, dem Menschen übergiebt, damit er über sie herrsche, also mit ihnen thue was ihm beliebt (7), habe den Wahn in die Welt gebracht, dass unser Handeln gegen [die Tiere] ohne moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es gegen Thiere keine Pflichten gebe (8).“

               Auf eine der Gründe, warum sich, besonders was die Tierethik betrifft,  die vom Christentum geprägte westliche Ethik von der des Hinduismus fundamental unterscheidet, hat der Religionswissenschaftler und Indologe Helmuth von Glasenapp hingewiesen: „Während der Inder in allem Lebenden, vom Grashalm bis zum Gott Brahma, […]  eine Stufenfolge von Einzelwesen sieht, die alle gleicherweise der Metempsyhose [Seelenwanderung] unterliegen und der Erlösung teilhaftig werden können, haben Pflanzen und Tiere für den Christen keine unsterblichen Seelen und sind deshalb nicht in den Heilsprozeß einbegriffen.“ (9) In diesem Sinne wären Tiere mehr als Sachen zu verstehen und nicht wie bei den Hindus als göttliche Manifestationen oder wie bei Schopenhauer eine – gleich dem Menschen – Erscheinungsform des metaphysischen „Willens“. Daher sind nach Auffassung Schopenhauers und des Hinduismus Mensch und Tier wesensgleich – was sich auch in der Einstellung zu den Tieren positiv widerspiegelt. (10)

            Tierethik war für Arthur Schopenhauer nicht bloß ein, wenngleich wichtiges  Thema seiner Philosophie, sondern weit mehr – ein Herzensanliegen. So schrieb er  in seinem Manuskript (11):

Arthur Schopenhauer : Tiere
Arthur Schopenhauer über Tiere

            Ich muß es aufrichtig gestehn: der Anblick jedes Thiers erfreut mich unmittelbar [,] und mir geht dabei das Herz auf ; …

            Die Bedeutung Arthur Schopenhauers und seiner Philosophie für die Tierethik hat Dieter Birnbacher sehr treffend am Schluss seines Buches zusammengefasst:

            „Zu seiner Zeit war Schopenhauer mit seiner Tierethik ein Rufer in der Wüste. Er war zugleich einer der wenigen, die dafür sorgten, dass sich die Wüste belebte.“ (12)

H.B.

Weiteres zu > Schopenhauers Philosophie und zur > Tierethik .

S. auch   > Tierethik und Buddhimus

> Mensch und Umwelt in Schopenhauers Philosophie

Anmerkungen
(1)   Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977
(Zürcher Ausgabe), Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 566.
(2)   Arthur Schopenhauer , a. a. O.,
Band VI: Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 281.
(3)   Dieter Birnbacher , Schopenhauer , Stuttgart 2009, S. 125 ff.
(4)   Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band VI, S. 280.
(5)   Ebd.
(6)   Arthur Schopenhauer , a. a. O.,
Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 76.
(7)   Arthur Schopenhauer , a. a. O.,
Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 409.
(8)   Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band VI, S. 278.
(9)   Helmuth von Glasenapp, Die Philosophie der Inder,
3. Aufl.,Stuttgart 1974, S. 15.
(10)  Besonders positiv zeigt sich die Tierethik in den beiden
ebenfalls in Indien entstandenen, jedoch im Gegensatz
zum Hinduismus eindeutig atheistischen Religionen, nämlich
dem > Buddhismus und dem ihm verwandten > Jainismus .
Die Jaina-Religion kann, da der Schutz allen Lebens und somit
auch der Tiere sehr umfassend ist, fast als > „Tierschutz-Religion“
gelten, zumal die Jainas Vegetarier, viele sogar Veganer sind.
(11)  Arthur Schopenhauers handschritftlicher Nachlass
in der Staatsbibliothek Berlin, Senilia (1853) , Bl. 25.
(12) Dieter Birnbacher, a. a. O., S. 131.
Zum Begriff Rufer in der Wüste verweist Birnbacher auf Wolfgang Lenzen,
Liebe, Leben, Tod. Eine moralphilosophische Studie, Stuttgart 1999. S. 286.

 

 

Zorn und Mitleid

            Zorn ist ein gefährlicher Zustand! Besonders als Jähzorn kann er sehr gefährlich sein, und zwar nicht nur für den, gegen den er sich richtet, sondern sogar für den Zornigen selbst. Jeder kann das an sich erfahren:  Im Zorn verliert man mehr und mehr die Kontrolle über sein Verhalten, so dass man sich und anderen mitunter schweren Schaden zufügt. Reue kommt dann oft zu spät und die sehr negativen Folgen sind nicht immer zu beheben.  Arthur Schopenhauer hat auch zu diesem für den Alltag durchaus bedeutsamen Thema in seiner Philosophie Stellung genommen und dabei einige Hinweise gegeben, die sich als sehr hilfreich erwiesen haben.

            Um sich abzuregen, also um den Zorn zu besänftigen, war für Schopenhauer das beste Mittel – Mitleid:

            Was für das Feuer der Regen ist für den Zorn das Mitleid. … Wenn irgend Etwas, so vermag dieses den Zorn zu dämpfen. Denn Mitleid ist das rechte Gegengift des Zorns. (1)

            Jedoch mitunter ist der Zorn so stark, dass es kaum möglich ist, Mitleid in sich hervorzurufen, jedenfalls so, dass es den Zorn überwindet. Dann kommt es darauf an, wenigstens Zeit zu gewinnen. Dazu Schopenhauer, der  in seinen „Psychologischen Bemerkungen“ den Ablauf dieses Prozesses beschrieb:

            Der Zorn schafft zugleich ein Blendwerk, welches in der normalen Vergrößerung und Verzerrung seines Anlasses besteht. Dieses Blendwerk erhöht nun selbst wieder den Zorn und wird darauf durch diesen erhöhten Zorn selbst abermals vergrößert … Diesem vorzubeugen, sollten lebhafte Personen, sobald sie anfangen sich zu ärgern, es über sich zu gewinnen suchen, daß sie die Sache für jetzt sich aus dem Sinne schlügen: denn dieselbe wird, wenn sie nach einer Stunde darauf zurückkommen, ihnen schon lange nicht so arg und bald vielleicht unbedeutend erscheinen. (2)

            Dass Schopenhauer mit dieser Beobachung Recht hat, dürfte wohl jeder schon selbst erfahren haben. Es kommt deshalb darauf an, zur rechten Zeit sich an diese Erfahrung zu erinnern. So erspart man sich Ärger und schont die Gesundheit. Auch das gehört zur Lebensphilosophie Arthur Schopenhauers.

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977
(Zürcher Ausgabe),
Band VI: Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 277 f.

(2) Arthur Schopenhauer , a. a. O.,
Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 642.

Schopenhauer : Praktische Philosophen

           Was zeichnet jene Menschen aus, welche Arthur Schopenhauer praktische Philosophen nannte? Es ist wohl vor allem der praktische Gebrauch der Vernunft. Dazu Schopenhauer :

            „Als praktisch zeigt sich endlich die Vernunft ganz eigentlich in den recht vernünftigen Charakteren, die man deswegen im gemeinen Leben praktische Philosophen nennt, und die sich auszeichnen durch einen ungemeinen Gleichmuth bei unangenehmen, wie bei erfreulichen Vorfällen, gleichmäßige Stimmung und festes Beharren bei gefaßten Entschlüssen.

            In der That ist es das Vorwalten der Vernunft in ihnen, d. h. das mehr abstrakte, als intuitive Erkennen und daher das Ueberschauen des Lebens, mittelst der Begriffe, im Allgemeinen, Ganzen und Großen, welches sie ein für alle Mal bekannt gemacht hat mit der Täuschung des momentanen Eindrucks, mit dem Unbestand aller Dinge, der Kürze des Lebens, der Leerheit der Genüsse, dem Wechsel des Glücks und den großen und kleinen Tücken des Zufalls.

            Nichts kommt ihnen daher unerwartet, und was sie in abstracto [in Begriffen] wissen, überrascht sie nicht und bringt sie nicht aus der Fassung, wann es nun in der Wirklichkeit und im Einzelnen ihnen entgegentritt, wie dieses der Fall ist bei den nicht so vernünftigen Charakteren, auf welche die Gegenwart, das Anschauliche, das Wirkliche solche Gewalt ausübt, daß die kalten, farblosen Begriffe ganz in den Hintergrund des Bewußtseyns treten und sie, Vorsätze und Maximen vergessend, den Affekten und Leidenschaften jeder Art preisgegeben sind. […]

            Meiner Ansicht nach [war], die Stoische Ethik ursprünglich nichts, als eine Anweisung zu einem eigentlich vernünftigen Leben […] Von Tugend und Laster ist bei solcher Vernünftigkeit des Wandels eigentlich nicht die Rede, aber dieser praktische Gebrauch der Vernunft macht das eigentliche Vorrecht, welches der Mensch vor dem Thiere hat, geltend, und allein in dieser Rücksicht hat es einen Sinn und ist zulässig von einer Würde des Menschen zu reden.“ (1)

            Obgleich der praktische Gebrauch  der Vernunft laut obigem Zitat das ist, was  den praktischen Philosophen ausmacht,  war für Schopenhauer das bloße Denken in Begriffen nicht das Wichtigste in der Philosophie:

            „Eine seltsame und unwürdige Definition der Philosophie, die aber sogar Kant giebt, ist diese, daß sie eine Wissenschaft aus bloßen Begriffen wäre […] Eine wahre Philosophie  [läßt] sich nicht herausspinnen aus bloßen, abstrakten Begriffen; sondern muß begründet seyn auf Beobachtung und Erfahrung, sowohl innere, als äußere […]

            Sie [die wahre Philosophie] muß, so gut wie die Kunst und Poesie, ihre Quelle in der anschaulichen Auffassung der Welt haben; auch darf es dabei, so sehr der Kopf oben zu bleiben hat, doch nicht so kaltblütig hergehn, daß nicht am Ende der ganze Mensch, mit Herz und Kopf, zur Aktion käme und durch und durch erschüttert würde.“ (2)

            Daher stellt sich schließlich die Frage:  Sind die bloß vernünftigen, also die sogenannten praktischen  Philosophen überhaupt Philosophen? Jedenfalls wahre Philosophen sind sie wohl kaum, denn Schopenhauer gab am Ende des Zitates dem französischen Philosophen Vauvenargues Recht, der meinte:

Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen. (3)

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > dort.

Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden,
Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe),
Band II:  Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 633 f.
(2) Arthur Schopenhauer , a. a. O.,
Band IX: Parerga und Paralipomena II, S. 15.
(3) Ebd.

 

Schopenhauers Ethik

           Es gibt kaum eine überzeugendere Begründung für Ethik als die von Arthur Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral. Bereits das dort vorangestellte Motto, Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer, macht deutlich, dass es Schopenhauer nicht um bloße Moralpredigten ging.  Für ihn beruhte die Ethik nicht auf einem komplizierten  System von Regeln, von  Ge- und Verboten, sondern auf etwas, das, von Ausnahmen abgesehen, wohl mehr oder weniger in jedem Menschen von der Natur her angelegt ist, nämlich das Mitleid. Dass Schopenhauers Ethik im wesentlichen Mitleidsethik ist, geht eindrucksvoll aus seiner Preisschrift hervor:

        “ Man setze zum letzten Beweggrund einer Handlung, was man wolle; immer wird sich ergeben, daß, auf irgend einem Umwege, zuletzt das eigene Wohl und Wehe des Handelnden die eigentliche Triebfeder, mithin die Handlung egoistisch, folglich ohne moralischen Werth ist. Nur einen einzigen Fall giebt es, in welchem dies nicht Statt hat: nämlich wenn der letzte Beweggrund zu einer Handlung, oder Unterlassung, … ganz allein das Wohl und Wehe eines Andern im Auge hat und durchaus nichts bezweckt, als daß jener Andere unverletzt bleibe, oder gar Hülfe, Beistand und Erleichterung erhalte. Dieser Zweck allein drückt einer Handlung, oder Unterlassung, den Stempel des moralischen Werthes auf …

          Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern wegen geschehn soll; so muß sein Wohl und Wehe unmittelbar mein Motiv sein: so wie bei allen andern Handlungen das meinige es ist. Dies bringt unser Problem auf einen engern Ausdruck, nämlich diesen: wie ist es irgend möglich, daß das Wohl und Wehe eines Andern unmittelbar, d. h. ganz so wie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein Motiv werde …? – Offenbar nur dadurch, daß jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, … daß ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar, wie sonst nur das meinige. Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mit leide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines …

        Der hier analysirte Vorgang aber ist kein erträumter, oder aus der Luft gegriffener, sondern ein ganz wirklicher, ja keineswegs seltener: es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d. h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern … Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen. Sobald dieses Mitleid rege wird, liegt mir das Wohl und Wehe des Andern unmittelbar am Herzen, ganz in der selben Art, wenn auch nicht stets in demselben Grade, wie sonst allein das meinige: also ist jetzt der Unterschied zwischen ihm und mir kein absoluter mehr.

        Allerdings ist dieser Vorgang erstaunenswürdig, ja, mysteriös. Er ist, in Wahrheit, das große Mysterium der Ethik …“(1)

          Noch erstaunlicher und ein wohl noch größeres „Mysterium der Ethik“ ist die Tatsache, dass sich das „alltägliche Phänomen des Mitleids“ nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere erstrecken kann. Mitleid mit Tieren ist – wie der Tierschutz überhaupt-  ein wichtiges Thema in Schopenhauers Ethik, denn so hob er in seiner Preisschrift hervor: „Die von mir aufgestellte moralische Triebfeder [das Mitleid] bewährt sich als die ächte ferner dadurch, daß sie auch die Thiere in ihren Schutz nimmt, für welche  in den andern Europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist.“(2). Durch die Einbeziehung des Tierschutzes – und zwar nicht nur als Randthema – in seine Ethik wurde Schopenhauer einer der bedeutendesten Wegbereiter der heutigen Tierethik: „Zu seiner Zeit war Schopenhauer mit seiner Tierethik ein ´Rufer in der Wüste`. Er war zugleich einer der wenigen, die dafür sorgten, dass sich die Wüste belebte“.(3)

       Nur wenige Philosophen von Weltrang sind derart mit Vorurteilen belastet wie Arthur Schopenhauer. So wird ihm zum Beispiel ein zu negatives Menschenbild nachgesagt. Um so überraschender ist deshalb das folgende Zitat, weil es zeigt, wie sehr Schopenhauer auf das Gute im Menschen, das Mitleid, vertraute:

         “ Zwei Tugenden, die der Gerechtigkeit und die der Menschenliebe, … wurzeln in dem natürlichen Mitleid. Dieses Mitleid selbst aber ist eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewußtseyns, ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen, Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen, Erziehung und Bildung; sondern ist ursprünglich und unmittelbar, liegt in der menschlichen Natur selbst.“(4)

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Quellen:
(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden,
Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe),
Band VI: Die beiden Grundprobleme der Ethik /
Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 247 f.
(2) Schopenhauer , a. a. O., S. 278.
(3) Dieter Birnbacher , Schopenhauer ( Grundwissen Philosophie ),
Stuttgart 2009, S. 131.
* S. dazu auch > Tierethik und Schopenhauers Mitleidsethik .
(4) Schopenhauer , a. a. O., S. 252.

 

Schopenhauer : Fortschrittsglaube und Optimismus

        Arthur Schopenhauer lebte zu einer Zeit, in der die Naturwissenschaften und Technik  gewaltige Fortschritte machten. Daher ist es verständlich, wenn im 19. Jahrhundert weithin geglaubt wurde, dass der Mensch und mit ihm die Gesellschaft  sich immer mehr zum Besseren, Höheren, Vollkommeneren entwickeln würden. Dieser Fortschrittsglaube war – wie zum Beipiel die damals in Anlehnung an Hegels Philosophie entstehende marxistische Lehre  – oft mit einem Optimismus verbunden, der kaum Grenzen kannte. Die schrecklichen Ereignisse im 20. Jahrhundert und die immer deutlicher werdenden Folgen der Naturzerstörung in diesem Jahrhundert zeigen, wie sehr Schopenhauer Recht hatte, wenn er diesen Optimismus nicht teilte und ihn im Rahmen seiner Philosophie  grundsätzlich ablehnte. Das lag jedoch nicht daran, dass Schopenhauer, wie  völlig unzutreffend behauptet wird, an einer Verbesserung der sozialen Probleme seiner Zeit kein Interesse gehabt hätte  – das Gegenteil ist der Fall! So schrieb Arthur Hübscher, ehemals langjähriger  Präsident der Schopenhauer-Gesellschaft, in seinem sehr lesenswerten Buch Denker gegen den Strom. Schopenhauer: gestern – heute – morgen (2. Aufl., Bonn 1982, S. 213 f.):

          „Er [ Schopenhauer ] hat das Problem der sozialen Ungerechtigkeit so gut gekannt wie Marx. Er stellt es in den Zusammenhang der großen Abscheulichkeiten der Menschheitsgeschichte. So wie er von Religionskriegen und -metzeleien spricht, von den Kreuzzügen, einem ´zweihundertjährigen ganz unverantwortlichen Gemetzel `, von der Inquisition, den Bluthochzeiten und Ketzergerichten, von den blutigen Eroberungen der Mohammedaner in drei Weltteilen, von der Ausrottung der Urbevölkerung Amerikas, der Mauren und Juden in Spanien, so spricht er von dem trostlosen Leben der Negersklaven in Amerika, von der unerhörten, kalt berechnenden und wahrhaft teuflischen Grausamkeit, mit der die Portugiesen in Mozambique ihre Sklaven behandeln, und nicht minder von den drei Millionen europäischer Weber, die ´unter Hunger und Kummer in dumpfigen Kammern oder trostlosen Fabriksälen schwach`dahinvegetieren. Jeder Versuch, Einhalt zu gebieten, Abhilfe zu schaffen, Not zu lindern, ist seiner wärmsten Zustimmung gewiß. Mit tiefer Ergriffenheit spricht er von William Wilberforce, der die Aufhebung des Negerhandels im britischen Machtbereich durchsetzte, wie er nicht minder die segensreiche Arbeit der Tierschutzvereine rühmt und nach Kräften fördert, die seit 1840 dem maßloseıı Elend der gequälten, unterdrückten Tierwelt entgegenwirken. Aber er weiß, besser als Marx, daß alle Hilfe, aller Protest, aller Kampf gegen Not und Grausamkeit immer nur Teilerscheinungen des allgemeinen Übels beseitigen können, um sogleich wieder andern Platz zumachen. Und wenn er als das Nötigste ´Toleranz, Geduld, Schonung und Nächstenliebe` erklärt, ´deren jeder bedarf und die daher auch jeder schuldig ist`, so weiß er doch, daß er nur die Einzelnen anspricht. die für sein Wort empfänglich sind, daß im Ganzen aber, solange diese Welt besteht, auch der ewige Teufelskreis von Feindschaft, Haß und Not bestehen bleiben wird.

        Gleichgültig, wer nun einmal die Führer, wer die Geführten sind, gleichgültig auch, unter welchen Formen und Symbolen, in welchen örtlichen und zeitlichen Zusammenhängen sie erscheinen: nichts kann dem seit Jahrtausenden immer gleichen Zustand menschlichen Elends und Jammers abhelfen,kein Tyrannenmord, kein Aufstand und keine Revolution, kein Rassenkampf, kein Klassenkampf, keine soziale Reform und keine Änderung von Gesellschaftsformen und -strukturen, keine Umschichtung von Bevölkerungsmassen, nicht die Erschließung von Aufstiegs- und Bildungsmöglichkeiten für benachteiligte Volksschichten, keine neuen Formen religiösen, ethischen, wirtschaftlichen Eingreifens in das Gefüge überkommener Verhältnisse. Dies alles bringt nur einen zeitbedingten Wandel, es ist ein immer neues, zutiefst verständliches Aufbäumen gegen das Sklaventum des Menschseins, aber es birgt immer wieder auch den Keim des Scheiterns in sich. Die Formen des Menschenlebens, die Masken und Kulissen ändern sich, die Menschen selbst ändern sich nicht. Sie bleiben gleich unwandelbar, unbelehrbar, unerziehbar, dem Verhängnis und der Not ihres Alltags zugewandt und ausgeliefert. Unausweichlich bestimmen Herrschaft und Abhängigkeit die sozialen Ordnungen. Nichts kann etwas daran ändern: weder die Steigerung der produktiven Kräfte, die Bändigung und zunehmende Erschließung der Natur, noch die Versuche, die menschliche Vernunft zur Geltung zu bringen, durch Arbeitsteilung und zunehmende Aufsplitterung und organisatorische Gliederung des Wissens und seiner Anwendungsmöglichkeiten. Jede Besserung schafft neue Lasten, jeder Fortschritt ist mit Rückschritt gepaart, jede schöne Hoffnung endet in Enttäuschung, und immer liegt das Elend als Kehrseite des Wohlstandes drohend im Hinterhalt.

        Kants Frage also, ´ob das menschliche Geschlecht in ständigem Fortschreiten zum Besseren sei`, beantwortete Schopenhauer mit einem klaren Nein.“

        Schopenhauers Antwort konnte nur ein eindeutiges Nein sein, denn – wie  er in seiner Philosophie tief und ausführlich begründete – bleibt das Wesen des Menschen, sein eigentliches Innere, sein Charakter, trotz aller Wandlungen der äußeren Formen und der Umwelt unverändert. Ausnahmen hiervon waren für Schopenhauer nur die „Heiligen“, womit er zum Beispiel den von ihm hochverehrten Buddha meinte. Von Arthur Schopenhauer wie vom Buddha wurde das Mitleid als eine überaus wertvolle Charaktereigenschaft hervorgehoben. Menschen mit Mitgefühl werden einem leidenden Wesen – sei es Mensch oder Tier – helfen, und zwar unabhängig davon, ob sie damit die Gesellschaft insgesamt zum Besseren verändern.

        Mitleid kann laut Schopenhauer den ansonsten fast grenzenlos vorherrschenden Egoismus überwinden.  Dass die Natur im Laufe der Evolution Wesen hervorbrachte, die Mitleid empfinden können, ist deshalb, jedenfalls nach meiner Überzeugung, ein Fortschritt. Warum sollte das nicht auch weiterhin geschehen? Zumindest in dieser Hinsicht bin ich nicht ohne Optimismus.

H.B.

S. dazu auch

> Schopenhauer – ein Reaktionär ?

> Schopenhauer und die Soziale Frage

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Schopenhauer : Erkenntnis durch Anschauung

        Zu einer Erkenntnis kann man auf verschiedene Weise kommen;  oft geschieht es durch  Bücher. Für Arthur Schopenhauer waren es jedoch weniger die Bücher als vielmehr die unmittelbare Anschauung, die tiefere Erkenntnisse ermöglicht:

        „Bücher theilen nur sekundäre Vorstellungen mit. Bloße Begriffe von einer Sache, ohne Anschauung, geben eine bloß allgemeine Kenntniß derselben. Ein durchaus gründliches Verständniß von Dingen und deren Verhältnissen hat man nur, sofern man fähig ist, sie in lauter deutlichen Anschauungen, ohne Hülfe der Worte, sich vorstellig zu machen. Worte durch Worte erklären, Begriffe mit Begriffen vergleichen, worin das meiste Philosophiren besteht, ist im Grunde ein spielendes Hin- und Herschieben der Begriffssphären; um zu sehen, welche in die andere geht und welche nicht. Im glücklichsten Fall wird man dadurch zu Schlüssen gelangen: aber auch Schlüsse geben keine durchaus neue Erkenntniß, sondern zeigen uns nur, was Alles in der schon vorhandenen lag und was davon etwan auf den jedesmaligen Fall anwendbar wäre. Hingegen anschauen, die Dinge selbst zu uns reden lassen, neue Verhältnisse derselben auffassen, dann aber dies Alles in Begriffe absetzen und niederlegen, um es sicher zu besitzen: das giebt neue Erkenntnisse. Allein, während Begriffe mit Begriffen zu vergleichen so ziemlich Jeder die Fähigkeit hat, ist Begriff mit Anschauungen zu vergleichen eine Gabe der Auserwählten: sie bedingt, je nach dem Grade der Vollkommenheit, Witz, Urtheilskraft, Scharfsinn, Genie. Bei jener erstern Fähigkeit hingegen kommt nie viel mehr heraus, als etwan vernünftige Betrachtungen. 

        Der innerste Kern jeder ächten und wirklichen Erkenntniß ist eine Anschauung; auch ist jede neue Wahrheit die Ausbeute aus einer solchen. Alles Urdenken geschieht in Bildern: darum ist die Phantasie ein so nothwendiges Werkzeug desselben, und werden phantasielose Köpfe nie etwas Großes leisten, […]  – Hingegen bloß abstrakte Gedanken, die keinen anschaulichen Kern haben, gleichen Wolkengebilden ohne Realität. Selbst Schrift und Rede, sei sie Lehre oder Gedicht, hat zum letzten Zweck, den Leser zu derselben anschaulichen Erkenntniß hinzuleiten, von welcher der Verfasser ausging: hat sie den nicht, so ist sie eben schlecht. Eben darum ist Betrachtung und Beobachtung jedes Wirklichen, sobald es irgend etwas dem Beobachter Neues darbietet, belehrender als alles Lesen und Hören. Denn sogar ist, wenn wir auf den Grund gehen, in jedem Wirklichen alle Wahrheit und Weisheit, ja, das letzte Geheimniß der Dinge enthalten, freilich eben nur in concreto, und so wie das Gold im Erze steckt: es kommt darauf an, es herauszuziehen. Aus einem Buche hingegen erhält man, im besten Fall, die Wahrheit doch nur aus zweiter Hand, öfter aber gar nicht.

      Bei den meisten Büchern, von eigentlich schlechten ganz abgesehn, hat … der Verfasser zwar gedacht, aber nicht geschaut.“*

H.B.

* Arthur Schopenhauer : Werke in zehn Bänden , Zürcher Ausgabe, Zürich 1977, Band III : Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 7: Vom Verhältniß der anschauenden zur abstrakten Erkenntniß,  S. 86 f.)

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

Warum Schopenhauer lesen ?

        Warum lohnt es sich, nicht nur einige Zitate von Arthur Schopenhauer mehr oder weniger – vielleicht sogar etwas amüsiert – zur Kenntnis zu nehmen, sondern die Werke dieses großen, leider oft mit Vorurteilen belasteten Lebensphilosophen gründlicher zu lesen? Die Anwort auf diese Frage geht, wie ich hoffe, schon aus den bisherigen Beiträgen in diesem Blog hervor. Dennoch möchte ich hierzu ein kleines Buch vorstellen, das unter dem Titel Arthur Schopenhauer. Lichtstrahlen aus seinen Werken 1888 bereits in 6. Auflage  erschienen war. Sein Verfasser ist Julius Frauenstädt, einer der wichtigsten Anhänger Schopenhauers, der sich um die Verbreitung von dessen Philosophie besonders verdient gemacht hatte.

   Der Titel des genannten Buches ist durchaus passend, denn es sind sehr helle Lichtstrahlen, mit denen Schopenhauer das Dunkel des menschlichen Daseins durchdringt und das Leben in seinen vielen Erscheinungsformen beleuchtet. Schon im Vorwort zu den von Frauenstädt dort ausgewählten Textauszügen aus Schopenhauers Werken kommt das deutlich zum Ausdruck:

        „Mit einem großen Geiste Bekanntschaft zu machen, ist immer fördernd, wirkt befreiend und erhebend, auch wenn wir ihm nicht in allewege folgen können. Nun war aber Schopenhauer einer der größten Geister, die je gewesen sind; in seinem Kopfe spiegelte sich das Wesen der Welt klarer, als sonst in Menschenköpfen; er war ein solcher ächter Philosoph, wie er selbst ihn bescheibt:

        Ueberall wird der ächte Philosoph Helle und Deutlichkeit suchen und stets bestrebt seyn, nicht einem trüben, reißenden Regenbache zu gleichen, sondern vielmehr einem Schweizer See, der, durch seine Ruhe, bei großer Tiefe große Klarheit hat, welche aber erst die Tiefe sichtbar macht.

        Tief und lichtvoll ist Alles, was Schopenhauer geschrieben hat.

        Ich [Frauenstädt] glaube daher nichts Undankenswerthes zu thun, indem ich dem großen gebildeten Publikum durch nachfolgende Auswahl aus Schopenhauer´s Werken Gelegenheit biete, diesen großen Geist näher kennen zu lernen und sich mit ihm zu befreunden. Zwar mit dem Befreunden wird es in einigen Punkten schwer halten, zumal in unserer lebenslustigen und genußsüchtigen, bis über die Ohren im Materialismus steckenden Zeit … Gerade wegen ihres tief sittlichen Kerns halte ich die Schopenhauer´sche Lehre für sehr zeitgemäß. Sie bildet einen heilsamen Dämpfer auf die Lebensgier und auf das Rennen und Jagen nach irdischer Glückseligkeit, das unsere Zeit charakterisirt.“

        Obige Worte, obwohl vor weit mehr als einem Jahrhundert geschrieben, treffen wohl ohne jede Einschränkung auch heute noch zu. Frauenstädt hatte zwar in einigen Punkten eine von Schopenhauer abweichende Ansicht, aber dennoch hielt er Schopenhauer „für denjenigen Denker, der unter den nachkantischen am meisten verdient studirt zu werden. Man kann von Keinem so viel lernen, als von ihm. Keiner bringt so viel Licht und Klarheit in unsere  eigenen Gedanken …“

          Licht und Klarheit in eine Welt zu bringen, die immer verworrener und immer weniger durchschaubar wird, ist notwendiger denn je. Wie gut, dass  Schopenhauers Lichtstrahlen hierbei Orientierung bieten können – und zwar eine, die sich im Leben schon oftmals bewährt hat!

H.B.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier.

 

Schopenhauer : Getrübter Geist

        Die Lebenserfahrung zeigt: Starke Gefühle wie Liebe und Hass trüben den Geist, vermindern das Urteilsvermögen und führen so zu falschen, ja mitunter sogar zu ungerechten Urteilen. Zu diesem für alle Lebensbereiche äußerst wichtigen Thema schrieb Arthur Schopenhauer:

        “ Liebe und Haß verfälschen unser Urtheil gänzlich: an unsern Feinden sehen wir nichts, als Fehler, an unsern Lieblingen lauter Vorzüge, und selbst ihre Fehler scheinen uns liebenswürdig. Eine ähnliche geheime Macht übt unser Vortheil, welcher Art er auch sei, über unser Urtheil aus: was ihm gemäß ist, erscheint uns alsbald billig, gerecht, vernünftig; was ihm zuwider läuft, stellt sich uns, im vollen Ernst, als ungerecht und abscheulich, oder zweckwidrig und absurd dar. Daher so viele Vorurtheile des Standes, des Gewerbes, der Nation, der Sekte, der Religion. Eine gefaßte Hypothese giebt uns Luchsaugen für alles sie Bestätigende, und macht uns blind für alles ihr Wider-sprechende. Was unserer Partei, unserm Plane, unserm Wunsche, unserer Hoffnung entgegensteht, können wir oft gar nicht fassen und begreifen, während es allen Andern klar vorliegt: das jenen Günstige hingegen springt uns von ferne in die Augen. Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. Manche Irrthümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewußten Furcht, die Entdeckung machen zu können, daß wir so lange und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. – So wird denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung bethört und bestochen.“
(Aus: Arthur Schopenhauer , Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 19)

       Daher ist es eine Illusion anzunehmen,  Anschauung und Logik würden stets ausreichen, um Menschen von falschen Meinungen abzubringen. Das gilt besonders für einen von Liebe oder Haß, von tief verwurzelten Vorurteilen getrübten Geist, denn dieser ist  für alle ihm entgegenstehenden Argumente, mögen sie noch so vernüftig sein, kaum zugänglich. Der Mensch ist eben nicht bloß ein rationales Wesen – er hat auch ein Herz, und was dem Herzem widerspricht, lässt der Kopf nicht ein.

H.B.

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Lebensorientierung und Trost im Alter

   Es ist eine oft bestätigte Tatsache: Arthur Schopenhauers Philosophie mit ihren Aphorismen zur Lebensweisheit bietet Lebensorientierung und Trost, und zwar gerade auch in schwierigen Lebensphasen – wie etwa im Alter. Zu den Lebensabschnitten, die sich deutlich voneinander unterscheiden, meinte Schopenhauer in  seinen Aphorismen:

    Die ersten vierzig Jahre unsers Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu.

    Ein solcher „Kommentar“ sind wohl die Lebenserinnerungen des „Schopenhauerianers“ Arthur Hübscher. Er war nicht nur viele Jahre Präsident der Schopenhauer-Gesellschaft sowie Autor zahlreicher Schriften über Schopenhauer und dessen Philosophie, sondern mehr noch: er lebte, wie es in seinen Memoiren heißt,  „mit und für Schopenhauer“.

  Besonders bemerkenswert ist auch, dass Hübscher seine Lebenserinnerungen, die er unter dem Titel erlebt – gedacht – vollbracht. Erinnerungen an ein Jahrhundert veröffentlichte, erst in seinem 87. Lebensjahr beendete. Daher konnte er auf  eine sehr lange Lebensspanne zurückblicken und gegen Ende seines Lebens (er starb im 89. Lebensjahr) auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen im letzten Kapitel seines Buches über Schopenhauer schreiben:

    Ich habe auf meiner Lebensreise viele Menschen und viel unnützes Gepäck zurückgelassen. Schopenhauer habe ich mitgenommen, – er hat mich nie im Stich gelassen. Er wird auch da sein, wenn es an der Zeit ist, abzutreten.

    Eines der letzten Kapitel des Buches hat die Überschrift Einübung auf das Alter. Dort berichtete Hübscher über die Ergebnisse seiner Erfahrungen und Einsichten, die er im Laufe seines langen ereignisreichen Lebens gesammelt hatte:

      „Ich möchte, was Erfahrung und Beispiele mich über die Einübung ins Alter gelehrt haben, in ein paar Sätze zusammenfassen, die man beifällig aufnehmen mag, auch wenn man sie in Wirklichkeit außer Acht zu lassen gedenkt:

     Das Unabänderliche willig hinnehmen. Sich der Vorteile bewußt werden, die auch physische Behinderungen mit sich bringen: Schwerhörigkeit schützt uns vor lästigem Lärm, zunehmende Vergeßlichkeit räumt manchen Schutt zerstörter Illusionen fort.

     Im Alltäglichen noch das Besondere finden, die einfachsten Handlungen, einen Spaziergang, ein Gespräch, eine stille Stunde im Garten in innerer Teilnahme erhöhen, und immer wieder im einzelnen Ereignis die philosophische Verwunderung über die Welt und unser eigenes Dasein erleben.

     Nicht dem Vergangenen nachtrauern, nichts Verlorenes zurückholen wollen, nichts Hinschwindendes gewaltsam aufhalten, aber fördern und nutzen, was sich immer noch bietet oder neu eröffnet und sich unserm Sinne fügt.

     Die reizvolle Vielheit der Horizonte und Aufgaben sorglich eingrenzen, die Kräfte sammeln und sich immer klarer werden über unser Selbst, in der Beschränkung, die den Meister macht.

     Aber immer auch in der Vorbereitung auf etwas Kommendes, Erwünschtes,
Erstrebtes, zu Verwirklichendes leben, und immer noch den Blick über sich hinaus erheben, in Höhen, die uns kaum jemals erreichbar sind und von denen doch der Trost herabkommt …“

    Inwieweit  diese auf Erfahrungen und Einsichten gegründete „Einübung auf das Alter“  ernst genommen wird, hängt wohl auch vom jeweiligen Lebensalter ab, denn – wie Arthur Schopenhauer in seinen Aphorismen schrieb – mit dem Älterwerden ändert sich die Perspektive:

      Die Heiterkeit und der Lebensmuth unserer Jugend beruht zum Theil darauf, daß wir, bergauf gehend, den Tod nicht sehen; weil er am Fuße der andern Seite des Berges liegt. Haben wir aber den Gipfel überschritten, dann werden wir den Tod, welchen wir bis dahin nur vom Hörensagen kannten, ansichtig.

    Ob jung oder alt, ganz ohne Lebensmut ist das Leben kaum zu meistern. Jedoch hat der Gedanke an den Tod, der sich gerade im  Alter aufdrängt, auch seinen Wert, weil er uns mahnt, die noch verbleibende kostbare Zeit des Lebens möglichst sinnvoll zu nutzen.

    Besonders im fortgeschrittenen Alter wird die Nähe des Todes immer deutlicher empfunden. Das kann mitunter für manche Menschen ziemlich bedrückend sein. Schopenhauer äußerte sich dazu in seinem berühmten Kapitel Zur Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod mit Worten, die nicht beschönigen, aber dennoch Hoffnung und Trost enthalten:

    Für uns ist und bleibt der Tod ein Negatives, – das Aufhören des Lebens; allein er muß auch eine positive Seite haben, die jedoch uns nur verdeckt bleibt, weil unser Intellekt durchaus unfähig ist, sie zu fassen. Daher erkennen wir wohl, was wir durch den Tod verlieren, aber nicht, was wir durch ihn gewinnen.

     Übrigens, der Verfasser dieses Beitrages ist im 80. Lebensjahr.

H.B.

S. auch Blogbeitrag Arthur Schopenhauer : Tod und Trost > hier .

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > hier .

 

Lob der Melancholie

Der Melancholikus sieht das Leben als eine Trauerspielszene an, schrieb Arthur Schopenhauer in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit.(1) Dementsprechend ist auch die Lebenseinstellung des zur Melancholie, also des zur Schwermut neigenden Menschen. Ihm ist es nur sehr begrenzt möglich, sich über glückliche Begebenheiten und Umstände, wozu nicht zuletzt auch die Gesundheit gehört, wirklich freuen zu können.  In seinen Aphorismen bemerkte dazu  Schopenhauer:

„So viel nun aber auch zu der für unser Glück so wesentlichen Heiterkeit die Gesundheit  beiträgt, so hängt jene doch nicht von dieser allein ab: denn auch bei vollkommener Gesundheit kann ein melancholisches Temperament und eine vorherrschend trübe Stimmung bestehn. Der letzte Grund davon liegt ohne Zweifel in der ursprünglichen und daher unabänderlichen Beschaffenheit des Organismus […] Abnormes Übergewicht der Sensibilität wird […] vorwaltende Melancholie herbeiführen.“(2)

Schopenhauer hatte hiermit auf einen Zusammenhang hingewiesen, der durch viele Beispiele  bestätigt wird: Es sind vor allem die  sensiblen Menschen, die unter Melancholie leiden. Das gilt nach Meinung Schopenhauers besonders für das Genie, das „durch ein Übermaß der Nervenkraft, also der Sensibilität, bedingt ist; so hat Aristoteles ganz richtig bemerkt, daß alle ausgezeichnete und überlegene Menschen melancholisch seien: Alle Menschen, die sich ausgezeichnet haben – in der Philosophie, der Politik,  der Dichtkunst oder in den bildenden Künsten – scheinen Melancholiker zu sein.“(3)

Dieser Tradition  folgend,   wurde im 18. Jahrhundert sogar die Auffassung vertreten, die Melancholie sei „die Mutter des Genies“.(4)  So schrieb der von Schopenhauer hoch verehrte Goethe in seinem Spruchgedicht:

Meine Dichterglut war sehr gering,
Solang ich dem Guten entgegen ging;
Dagegen brannte sie lichterloh,
Wenn ich vor drohendem Übel floh.

Zart Gedicht, wie Regenbogen,
Wird auf dunklen Grund gezogen;
Darum behagt dem Dichtergenie
Das Element der Melancholie. (5)

In diesem Sinne ist Melancholie positiv zu werten, wobei sie, wie Schopenhauer hervorhob, von Verdrießlichkeit und Hypochondrie (z. B. Einbildung von Krankheiten) unterschieden werden muss:

„Verdrießlichkeit und Melancholie liegen weit auseinander: von der Lustigkeit zur Melancholie ist der Weg viel näher als von der Verdrießlichkeit.

Melancholie zieht an; Verdrießlichkeit stößt ab.

Hypochondrie quält nicht nur mit Verdruß und Ärger ohne Anlaß über gegenwärtige Dinge; nicht nur mit grundloser Angst vor künstlich ausstudierten Unglücksfällen der Zukunft; sondern auch noch mit unverdienten Vorwürfen über unsere eigenen Handlungen in der Vergangenheit.

Die unmittelbarste Wirkung der Hypochondrie ist ein beständiges Suchen und Grübeln, worüber wohl man sich zu ärgern oder zu ängstigen hätte. Die Ursache ist ein innerer krankhafter Unmut, dazu oft eine aus dem Temperament hervorgehende innere Unruhe: wenn beide den höchsten Grad erreichen, führen sie zum Selbstmord.“(6)

Übrigens, Schopenhauer wusste aus eigener Erfahrung, worüber er hier voller Verständnis schrieb, denn er war wohl selbst – wahrscheinlich als Erbe seines Vaters – ein „Melancholikus“. Jedoch gerade diese Veranlagung zur Melancholie ermöglichte es Arthur Schopenhauer zum Schöpfer einer einzigartigen, genialen Philosophie zu werden, die, wie oftmals bezeugt, viel Trost zu bieten vermag, ja in ihr ist – nach den Worten Thomas Manns – „ein Gefühlskern, ein Wahrheitserlebnis … so annehmbar, so hieb- und stichfest, so richtig, wie ich es sonst in der Philosophie nicht gefunden habe.“ (7)

H.B.

Weiteres  zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > dort.

Quellen:
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden,
Band VIII, Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977, S. 346.
(2) Ebd., S. 356 f.
(3) Ebd.
(4)  Komm, heilige Melancholie .
Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte,
Hrsg. v. Ludwig Völker, Suttgart 1983, S. 24.
(5) Ebd., S. 49.
(6) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X,
Parerga und Paralipomena II, S. 641.
(7) Über Arthur Schopenhauer . Hrsg. v. Gerd Haffmans,
3. Aufl., Zürich 1981, S. 112.

Arthur Schopenhauer : Buddhismus

Sollte ich die Resultate meiner Philosophie, schrieb Arthur Schopenhauer, zum Maaßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern zugestehn.(1)

Wie nah Schopenhauer seine Philosophie zum Buddhismus sah, geht aus seinem Brief  vom 27. Februar 1856 an einen seiner Anhänger, Adam von Doss, hervor, in welchem er unter Hinweis auf übereinstimmende zentrale Aussagen seiner und der buddhistischen Lehre betonte: Überhaupt ist die Übereinstimmung mit meiner Lehre wundervoll, zumal ich 1814-1818 den ersten Band  [von „Die Welt als Wille und Vorstellung“] schrieb und von dem allen [d. h. vom Buddhismus] noch nichts wußte, noch wissen konnte.(2)

Wenn Schopenhauer mit obigen Worten auf die „wundervolle“ Übereinstimmung seiner Philosophie mit dem Buddhismus hinwies, so gilt das besonders für die Ethik. Schopenhauers Mitleidsethik entspricht weitgehend der buddhistischen Ethik, und zwar auch im Hinblick darauf, dass in ihr die Tiere voll einbezogen sind. Dazu heißt es in einem vom Buddhistischen Seminar Hamburg herausgegebenen Buch über das Leben des Buddha:

„Wie ist also die Haltung des Buddha zu den Tieren? Am kürzesten umrissen ist sie mit dem Wortlaut der vom Erwachten [dem Buddha] gegebenen Tugendregel:

Ohne Stock, ohne Schwert, fühlsam, voll Teilnahme
hegt er zu allen lebenden Wesen Liebe und Mitleid.

Der westliche Mensch wird in der Regel in der Auffassung erzogen, er sei von Gott als Krone der Schöpfung erschaffen worden, ihm sei die Welt gegeben, Tiere, Wald und Feld stünden zu seiner Verfügung, er könne damit schalten und walten, wie er es für gut und richtig halte. So sagt Martin Luther: Alle Meere und Wasser sind unsere Trinkkeller; alle Wälder und Hölzer sind unsere Jägerei … Denn es ist alles um unser, der Menschen willen geschaffen. (Tischgespräche)“ (3)

Schopenhauer hatte diese im Vergleich zum Buddhismus fundamental andere Einstellung des Christentums zu den Tieren mit deutlichen Worten kritisiert und sie als Grundfehler des Christentums bezeichnet:

Ein […] nicht weg zu erklärender und seine heillosen Folgen täglich manifestierender Grundfehler des Christentums ist, daß es widernatürlicherweise den Menschen losgerissen hat von der Tierwelt, welcher er doch wesentlich angehört, und ihn nun ganz allein gelten lassen will, die Tiere geradezu als Sachen betrachtend; – während Brahmanismus [Hinduismus] und Buddhismus, der Wahrheit getreu, die augenscheinliche Verwandtschaft des Menschen, wie im Allgemeinen mit der ganzen Natur, so zunächst und zumeist mit der tierischen, entschieden anerkennen.(4)

Wie wichtig für Schopenhauer die tierfreundliche Einstellung des Buddhismus war, lässt sich schon daran erkennen, dass er die zu seiner Zeit gerade beginnende Gründung von Tierschutzvereinen in Deutschland  förderte, wobei er zu den ersten Mitgliedern des Frankfurter Tierschutzvereins gehörte.(5)

Aber nicht nur die Tierliebe, sondern überhaupt der Buddha und seine Lehre fanden Schopenhauers höchste Wertschätzung. So sagte er in einem Gespräch:  Wenn man den Buddhaismus aus seinen Quellen studiert, da wird einem hell im Kopfe. (6)

Dementspechend bezog sich Schopenhauer in seinen Schriften oft auf den Buddhismus. Dadurch trug er wesentlich dazu bei, dass der Buddhismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa nicht nur bekannt wurde, sondern auch zunehmend Anhänger fand. Ein hervorragendes Beispiel hierfür war Georg Grimm, der Gründer der Altbuddhistischen Gemeinde. Grimm, zunächst katholischer Priesterzögling, kam vom Christentum über Schopenhauer zum Buddhismus. Er wurde in Wort und Tat zu einem der bedeutendsten Verkünder der Lehre des Buddha in Deutschland. In seinem Hauptwerk Die Lehre des Buddho wies er zwar auf die – seiner Meinung nach – bestehenden Unterschiede zwischen der Philosophie Schopenhauers und dem Buddhismus hin, betonte aber zugleich auch die „staunenswerte Übereinstimmung zwischen den beiden Großen“, also zwischen Schopenhauer und dem Buddha.(7)

Je mehr Schopenhauer über den Buddhismus erfuhr, desto entschiedener wandte er sich  ihm zu. Schließlich nannte Schopenhauer sich und seine Anhänger in Briefen und Gesprächen sogar Buddhisten. So äußerte er sich zum Beispiel in zwei Briefen, in denen es um den Hofrat Ignaz Perner, „den berühmten Vorsteher aller Tierschutz-Gesellschaften“ ging. Er sei, wie Schopenhauer meinte, ein um den Tierschutz „höchst verdienter und verehrenswerter Mann: Wer könnte das höher schätzen als wir Buddhaisten!“(8) Auch in einem anderen Brief zeigte Schopenhauer seine besondere Zuneigung zum Buddhismus, denn dort bezeichnete er ihn als unsere allerheiligste Religion und den Buddha als den Siegreich-Vollendeten. (9)

Äußeres Zeichen von Arthur Schopenhauers Verehrung des Buddha und seiner tiefen Verbundenheit mit dem Buddhismus wurde eine Statue, die er wenige Jahre vor seinem Tode in seiner Wohnung aufstellte, und  über die er schrieb: Der Buddha […] steht auf einer schönen Konsole in der Ecke: so daß jeder beim Eintritt schon sieht, wer hier in diesen „heiligen Hallen“ herrscht.(10)

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H.B.

Weiteres

zu > Schopenhauer und seiner Philosophie  sowie zum > Buddhismus

Die  Vier Edlen Wahrheiten des Buddha

Vom Christentum zum Buddhismus   (Blogbeitrag)

Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden,
Band III, Die Welt als Wille und Vorstellung II (Kap.17), Zürich 1977, S. 197.
(2) Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe, hrsg. v. Arthur Hübscher,
2. Aufl., Bonn 1987, S. 384.
(3) Hellmuth Hecker, Das Leben des Buddha, Hamburg 1973, S. 393.
(4) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X, Parerga und Paralipomena II
(Kap. 15, § 177 Ueber das Christenthum), S. 408.
(5) S. dazu Arthur Schopenhauer : Tierschutz und Tierschutzvereine > hier.
(6) Arthur Schopenhauer , Gespräche, neue stark erw. Ausg.,
hrsg. v. Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 104.
(7) Vgl. > Georg Grimm – ein Lebensweg vom Christentum über Schopenhauer zum Buddhismus (dort Quellenangabe in Anm. 8).
(8) Brief v. 16. Sept. 1850 an J. Frauenstädt und v. 10. Mai 1852 an A. von Doss, in: Schopenhauer , Briefe, a. a. O., S. 247 und 281.
(9) Brief v. 2. Jan. 1852 an J. Frauenstädt,
in: Schopenhauer , Briefe, a. a. O., S. 273.
(10) Brief v. 13. Mai 1856 an J. Frauenstädt,
in: Schopenhauer , Briefe, a. a. O., S. 391.

Schopenhauer : Wahre Philosophie

Philosophie , schrieb Arthur Schopenhauer , ist eine Erkenntniß vom eigentlichen Wesen dieser Welt, in der wir sind und die in uns ist; eine Erkenntniß davon im Ganzen und Allgemeinen, deren Licht, wenn sie gefaßt ist, nachher auch alles Einzelne, das Jedem im Leben vorkommen mag, beleuchtet und ihm dessen innere Bedeutung aufschließt.(1)

Schon aus diesem Zitat wird deutlich, dass Schopenhauers Philosophie vor allem eine Lebensphilosophie ist. Dementsprechend war für Schopenhauer die Philosophie mehr als eine Wissenschaft, die nur aus bloßen Begriffen besteht.  Sie müsse, so meinte  Schopenhauer, von der anschaulichen Erkenntnis ausgehen, weil diese sei die wirkliche und unerschöpfliche Quelle aller Einsicht. Daher läßt eine wahre Philosophie sich nicht herausspinnen aus bloßen, abstrakten Begriffen; sondern muß gegründet seyn auf Beobachtung und Erfahrung, sowohl innere, als äußere. Auch nicht durch Kombinationsversuche mit Begriffen, […] wird je etwas Rechtes in der Philosophie geleistet werden. Sie muß, so gut wie Kunst und Poesie, ihre Quelle in der anschaulichen Auffassung der Welt haben: auch darf es dabei, so sehr auch der Kopf oben zu bleiben hat, doch nicht so kaltblütig hergehn, daß nicht am Ende der ganze Mensch, mit Herz und Kopf, zur Aktion käme und durch und durch erschüttert würde. Philosophie ist kein Algebra-Exempel.(2)

Seine obige, sehr ansprechende Beschreibung dessen, was Philosophie sei, ergänzte Schopenhauer durch ein Zitat des französischen Philosophen Vauvenargues, das in deutscher Übersetzung lautet: Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen.

Deshalb könnte man wohl mit Arthur Schopenhauer sagen:

Wahre Philosophie kommt aus dem Herzen!

In einem Gespräch mit dem französischen Philosophen Frédéric Morin äußerte sich Schopenhauer 1858, also gegen Ende seines Lebens, was weder wahre noch unwahre, sondern überhaupt keine Philosophie sei:

Eine Philosophie, in der man zwischen den Seiten nicht die Tränen, das Heulen und Zähneklappern und das furchtbare Getöse des gegenseitigen allgemeinen Mordes hört, ist keine Philosophie.(3)

Ja, an Tränen und Heulen über das  Furchtbare in dieser Welt kommt keine Philosophie vorbei, wenn sie wahr ist und somit aus dem Herzen kommt.

H.B.

Zitatquellen:
(1) Arthur Schopenhauer´s Nachlaß. Hrsg. von Eduard Grisebach, 2. Band: Vorlesungen und Abhandlungen. 3. Abdruck, Leipzig o. J. , S. 10.
(2) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IX: Parerga und Paralipomena II ( Kap. 1, § 9), Zürich 1977, S. 15.
(3) Zit. n. Rüdiger Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 453.

Weitere > Schopenhauer-Zitate zum Begriff Philosophie.

Arthur  Schopenhauers Philosophie > Überblick

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Arthur Schopenhauer : Unterschrift

 

Schopenhauer : Lebensweisheit

        Genieße die von Schmerzen freie Stunde – ist eine von Arthur Schopenhauers Lebensweisheiten. Sie gilt besonders für jene Menschen, die weit mehr an die Vergangenheit als an die Gegenwart denken oder sich  allzu sehr um die Zukunft sorgen, indem sie sich übermäßig vor dem ängstigen, was alles kommen könnte, aber nicht unbedingt kommen muss:

“ Ein wichtiger Punkt der Lebensweisheit besteht in dem richtigen Verhältnis, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit teils der Gegenwart, teils der Zukunft widmen, damit nicht die eine uns die andere verderbe. Viele leben zu sehr in der Gegenwart: die Leichtsinnigen; –  Andere zu sehr in der Zukunft: die Ängstlichen und Besorglichen. Selten wird einer genau das rechte Maß halten. Die, welche, mittelst Streben und Hoffen, nur in der Zukunft leben, immer vorwärts sehen und mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche allererst das wahre Glück bringen sollen, inzwischen aber die Gegenwart unbeachtet und ungenossen vorbeiziehen lassen, sind, trotz ihrer altklugen Mienen, jenen Eseln in Italien zu vergleichen, deren Schritt dadurch beschleunigt wird, daß an einem, ihrem Kopf angehefteten Stock ein Bündel Heu hängt, welches sie daher stets dicht vor sich sehen und zu erreichen hoffen. Denn sie betrügen sich selbst um ihr ganzes Dasein, indem sie stets nur ad interim [vorläufig] leben, – bis sie tot sind.

        – Statt also mit den Plänen und Sorgen für die Zukunft ausschließlich und immerdar beschäftigt zu sein, oder aber uns die Sehnsucht nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, daß die Gegenwart allein real und allein gewiß ist; hingegen die Zukunft fast immer anders ausfällt, als wir sie denken; ja, auch die Vergangenheit anders war; und zwar so, daß es mit beiden, im ganzen, weniger auf sich hat, als es uns scheint. Denn die Ferne, welche dem Auge die Gegenstände verkleinert, vergrößert sie den Gedanken.

        Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte Zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Dasein. Daher sollten wir sie stets einer heitern Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche und von unmittelbaren Widerwärtigkeiten oder Schmerzen freie Stunde mit Bewußtsein als solche genießen, d. h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Besorgnisse für die Zukunft. Denn es ist durchaus töricht, eine gute gegenwärtige Stunde von sich zu stoßen, oder sie sich mutwillig zu verderben, aus Verdruß über das Vergangene, oder Besorgnis wegen des Kommenden. Der Sorge, ja, selbst der Reue, sei ihre bestimmte Zeit gewidmet: danach aber soll man […] diese allein reale Zeit sich so angenehm wie möglich machen.“
(Aus: Arthur Schopenhauer , Aphorismen zur Lebensweisheit , Kap. V., B., 5)

H.B.

Zur Bedeutung der Aphorismen im Gesamtwerk Arthur Schopenhauers > hier

Weiteres >  Arthur-Schopenhauer-Studienkreis


Trotz Tod alle beisammen

Wohl jeder hat es schon erleben müssen, was der Tod eines geliebten Wesens, sei es Mensch oder Tier, bedeuten kann. Arthur Schopenhauer hat dazu  bewegende Worte gefunden:

“ Der tiefe Schmerz, beim Tode jedes befreundeten Wesens, entsteht aus dem Gefühle, daß in jedem Individuo etwas Unaussprechliches, ihm allein Eigenes und daher durchaus Unwiederbringliches liegt. Omne individuum ineffabile. [ Jedes Einzelwesen ist unergründlich. ] Dieses gilt selbst vom thierischen Individuo, wo es am lebhaftesten Der empfinden wird, welcher zufällig ein geliebtes Thier tödtlich verletzt hat und nun seinen Scheideblick empfängt, welches einen herzzerreißenden Schmerz verursacht.“(1)

Durchaus berechtigt ist Schopenhauers Frage; „Wie kann man nur, beim Anblick des Todes eines Menschen oder eines Thieres, vermeinen, hier werde ein Ding an sich (das Metaphysische im Menschen und im Tier] selbst zu nichts?“ (2).

Wie Schopenhauer in seiner Philosophie spirituell sehr tief begründete, ist alles Leben durch das, was er Wille nannte,  metaphysisch miteinander verbunden – eine Einheit, die auch durch den Tod nicht zerstört wird: “ Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemuth ausrufen:  Trotz Zeit, Tod und Verwesung sind wir noch Alle beisammen.“(3)

Zitatquellen:
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band X, S. 636.
(2) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band IX, S. 294.
(3) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band IV, S. 562.
H.B.

Weiteres zu Schopenhauer und seiner Philosophie > dort.

 

Arthur Schopenhauer – ein Menschenfreund

Es ist leider ziemlich selten, dass über Arthur Schopenhauer berichtet wird und ihm dabei menschenfreundliche Charakterzüge zuerkannt werden. Deshalb sei auf zwei Berichte aus seinem Leben hingewiesen, die helfen können, Schopenhauer gerechter zu beurteilen:

In dem von Angelika Hübscher herausgegebenen Taschenbuch Arthur Schopenhauer . Leben und Werk in Texten und Bildern (1. Aufl., Frankfurt a. M. 1989, S. 344) steht zur Erläuterung eines Bildes vom Frankfurter Schopenhauer-Denkmal , dass dieses 1895 am gleichen Ort errichtet wurde, „an dem der Philosoph 1859 den jungen Julius Frank vor dem Selbstmord durch Ertrinken rettete. Bei der Feier wußte noch niemand von dieser hilfreichen Tat, über die Schopenhauer – der sich bis zu seinem Tode um den jungen Mann kümmerte – selbst nie gesprochen hat“.

Paul Deussen berichtete in seinem Buch Neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer (3. Aufl., Leipzig 1922, S. 419 f.) von einer alten Dame, die als kleines Mädchen Schopenhauer noch persönlich erleben konnte und darüber in ihren Erinnerungen viel zu berichten wusste. So erzählte sie, „wie gern und oft der von den Kindern des Hauses ein wenig gefürchtete, aber noch viel mehr geliebte Philosoph sich mit ihnen beschäftigte, wie er bestrebt war, ihnen bei jeder Gelegenheit und namentlich zur Weihnachtszeit eine Freude zu machen, und wie wenig das Zerrbild eines misanthropischen Pessimisten auf den humorvollen, jovialen Kinderfreund und Tierfreund Anwendung findet, als welcher er uns aus diesen Schilderungen entgegentritt“.
H.B.

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Arthur Schopenhauer : Weisheit und Philosophie

Die Philosophie ist wesentlich Weltweisheit, schrieb Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (Band II, Kap. 17). Dem fügte er – wohl mit Blick auf Religion und Theologie, die sich nach Meinung Schopenhauers in die Philosophie einmischten – noch die Bemerkung hinzu: Ihr [der Philosophie] Problem ist die Welt: mit dieser allein hat sie es zu tun und läßt die Götter in Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe gelassen werden.

Wenn Philosophie Weisheit ist, dann ist sie keineswegs nur eine rein theoretische Angelegenheit, denn – wie Schopenhauer in seinem Manuskriptbuch (Quartant, Bl. 81) notierte:

Arthur Schopenhauer : Weisheit
Quelle: Arthur Schopenhauers handschriftlicher Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin

Weisheit scheint mir nicht bloß theoretische, sondern auch praktische Vollkommenheit zu bezeichnen: ich würde sie erklären: die vollendete richtige Erkenntnis der Dinge im Allgemeinen, die den Menschen so durchdrungen hat, daß sie endlich in sein Handeln ausbricht und sein Thun durchgängig leitet.

Wie wenig Schopenhauer von rein theoretischer Weisheit hielt, brachte er in einem Gleichnis (Parerga II, Kap. XXXI, § 400) zum Ausdruck: Weisheit, welche in einem Menschen bloß theoretisch da ist, ohne praktisch zu werden, gleicht der gefüllten Rose, welche durch Farbe und Geruch andere ergötzt, aber abfällt, ohne Frucht angesetzt zu haben.

Dementsprechend äußerte sich Schopenhauer (in Parerga II, Kap. I, § 9) zur Philosophie: Sie müsse ihre Quelle in der anschaulichen Auffassung der Welt haben: auch darf es dabei, so sehr auch der Kopf oben zu bleiben hat, doch nicht so kaltblütig hergehn, dass nicht am Ende der ganze Mensch, mit Herz und Kopf, zur Aktion käme und durch und durch erschüttert würde.

Im übrigen meinte Schopenhauer in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit (Kap. V, D, 48) sehr zutreffend:

Es gibt etwas Weiseres in uns, als der Kopf ist.

H.B.

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Heroischer Lebenslauf ?

Arthur Schopenhauers Philosophie hat viele Freunde, zugleich aber auch viele Gegner. Manchen von ihnen scheint es bei ihrer Kritik an sachlichen Argumenten zu mangeln, denn sie versuchen, Schopenhauer als Person anzugreifen. Das ist nicht besonders schwierig, weil – wie bei jedem Menschen – sich auch bei Schopenhauer menschliche Schwächen finden, die sich dann in Vergrößerung herausstellen lassen. Selbst diejenigen, welche einen, wie es Schopenhauer nannte, heroischen Lebenslauf vorzuweisen haben, sind nicht ohne Fehler. Paul Deussen, Professor der Philosophie und Herausgeber von Schopenhauers Schriften, schrieb dazu in seinem Buch Neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer (3. Aufl., Leipzig 1922, S. 422 ff.):

„Als Mensch war Schopenhauer, wie jeder Mensch, nicht ohne Schwächen [… er hatte] Charakterzüge, die man wegwünschen möchte und an ihm ertragen muss. Aber diese Züge verschwinden wie leichte Wolkenschatten vor der strahlenden Sonne, über der herrlichen Fülle der tiefsten Aufschlüsse über Welt und Leben, wie sie kein anderer Philosoph alter und neuer Zeit in dem Maße wie Schopenhauer zu bieten weiß, sie verschwinden vor der herrlichen Schilderung, welche Schopenhauer [in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung II, 2. Buch, Kap. 19] von dem moralischen Menschen entwirft:

Wie Fackeln und Feuerwerk vor der Sonne blass und unscheinbar werden, so wird Geist, ja Genie, und ebenfalls die Schönheit, überstrahlt und verdunkelt von der Güte des Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann sie den Mangel jener Eigenschaften so sehr ersetzen, dass man solche vermisst zu haben sich schämt. Sogar der beschränkteste Verstand, wie auch die groteske Hässlichkeit, werden, sobald die ungemeine Güte des Herzens sich in ihrer Begleitung kundgetan, gleichsam verklärt, umstrahlt von einer Schönheit höherer Art, indem jetzt aus ihnen eine Weisheit spricht, vor der jede andere verstummen muss. Denn die Güte des Herzens ist eine transzendente Eigenschaft, gehört einer über dieses Leben hinausreichenden Ordnung der Dinge an und ist mit jeder andern Vollkommenheit inkommensurabel [unvergleichbar].

Schopenhauer hätte die Güte des Herzens nicht mit dieser tiefen Einsicht schildern können, wenn er sie nicht in sich selbst gefunden und erlebt hätte. Unter einer oft rauhen Außenseite verbarg er ein edles, wohlwollendes, stets zur Hilfe bereites Herz.

[…] Er übte, wie sein Biograph Gwinner berichtet, Mildtätigkeit in einem für seine Verhältnisse ungewöhnlichen Grade: Keine Gelegenheit zur Milderung fremder Not, insbesondere bei Unglücksfällen, das Seinige beizutragen, ließ er vorübergehen ; ja er scheute selbst größere Opfer nicht, wenn es zu helfen galt

[…] Sein ganzes Leben hindurch widerstand er den Lockungen, sich bei den sogenannten Großen der Welt, bei den Regierungen und den Stimmführern der öffentlichen Meinung zu empfehlen, und bei aller Sehnsucht nach Anerkennung ließ er sich doch nicht verleiten, den Neigungen des Zeitalters irgendwelche Konzessionen zu machen, dem Publikum zu schmeicheln und den Wünschen des Lesers in irgend etwas anderm entgegenzukommen als in der mühsam erreichten Klarheit und Schönheit seiner Darstellung.

Das Höchste, was der Mensch erlangen kann, sagt er [in Parerga II, § 172 a], ist ein heroischer Lebenslauf. Einen solchen führt der, welcher, in irgendeiner Art und Angelegenheit, für das allen irgendwie zugute Kommende, mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird.“
H.B.

Schopenhauers Lebenslauf (in 10 Teilen) > dort.

Weiteres zu Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie > dort.

Lebenswille – das Allerrealste!

Was Arthur Schopenhauer den Willen zum Leben nannte, wird gerade im Frühling –  jener Jahreszeit, in dem die vorher scheinbar schlafende Natur erwacht und sich nun mit aller Macht und in voller Pracht entfaltet, besonders deutlich. Dieser Lebenswille tritt überall in Erscheinung, wo Leben ist – in jedem Menschen, in jedem Tier, in jeder Pflanze. Er ist, wie Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (Band 2, Kap. 28) höchst eindruckvoll beschrieb, „das Allerrealste, was wir kennen“:

„Jeder Blick auf die Welt, welche zu erklären die Aufgabe des Philosophen ist, bestätigt und bezeugt, daß Wille zum Leben, weit entfernt eine beliebige Hypostase [Personifizierung göttlicher Eigenschaften], oder gar ein leeres Wort zu seyn, der allein wahre Ausdruck ihres innersten Wesens ist. Alles drängt und treibt zum Daseyn, wo möglich zum organischen, d. i. zum Leben, und danach zur möglichsten Steigerung desselben: an der thierischen Natur wird es dann augenscheinlich, daß Wille zum Leben der Grundton ihres Wesens, die einzige unwandelbare und unbedingte Eigenschaft desselben ist. Man betrachte diesen universellen Lebensdrang, man sehe die unendliche Bereitwilligkeit, Leichtigkeit und Ueppigkeit, mit welcher der Wille zum Leben, unter Millionen Formen, überall und jeden Augenblick, mittelst Befruchtungen und Keimen […], sich ungestüm ins Daseyn drängt, jede Gelegenheit ergreifend, jeden lebensfähigen Stoff begierig an sich reißend: und dann wieder werfe man einen Blick auf den entsetzlichen Allarm und wilden Aufruhr desselben, wann er in irgend einer einzelnen Erscheinung aus dem Daseyn weichen soll; zumal wo dieses bei deutlichem Bewußtseyn eintritt. Da ist es nicht anders, als ob in dieser einzigen Erscheinung die ganze Welt auf immer vernichtet werden sollte, und das ganze Wesen eines so bedrohten Lebenden verwandelt sich sofort in das verzweifelteste Sträuben und Wehren gegen den Tod. Man sehe z. B. die unglaubliche Angst eines Menschen in Lebensgefahr, die schnelle und so ernstliche Theilnahme jedes Zeugen derselben und den gränzenlosen Jubel nach der Rettung. Man sehe das starre Entsetzen, mit welchem ein Todesurtheil vernommen wird, das tiefe Grausen, mit welchem wir die Anstalten zu dessen Vollziehung erblicken, und das herzzerreißende Mitleid, welches uns bei dieser selbst ergreift. Da sollte man glauben, daß es sich um etwas ganz Anderes handelte, als bloß um einige Jahre weniger einer leeren, traurigen, durch Plagen jeder Art verbitterten und stets ungewissen Existenz; vielmehr müßte man denken, daß Wunder was daran gelegen sei, ob Einer etliche Jahre früher dahin gelangt, wo er, nach einer ephemeren Existenz, Billionen Jahre zu seyn hat. – An solchen Erscheinungen also wird sichtbar, daß ich mit Recht als das nicht weiter Erklärliche, sondern jeder Erklärung zum Grunde zu Legende, den Willen zum Leben gesetzt habe, und daß dieser, weit entfernt, wie das Absolutum, das Unendliche, die Idee und ähnliche Ausdrücke mehr, ein leerer Wortschall zu seyn, das Allerrealste ist, was wir kennen, ja, der Kern der Realität selbst.“
H.B.

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Schopenhauer : Das Unbewusste

Arthur Schopenhauer war wohl weltweit einer der ersten Philosophen, der auf die kaum zu überschätzende Bedeutung des Unbewussten für alle Lebensbereiche hinwies:

Alles Ursprüngliche, und daher alles Echte im Menschen wirkt, als solches, wie die Naturkräfte, unbewusst. Was durch das Bewusstsein hindurchgegangen ist, wurde eben damit zu einer Vorstellung: folglich ist die Äußerung desselben gewissermaßen Mittheilung einer Vorstellung. Demnach nun sind alle echten […] Eigenschaften des Charakters und des Geistes ursprünglich unbewusste, und nur als solche machen sie tiefen Eindruck. Alles Bewusste der Art ist schon nachgebessert und ist absichtlich, geht daher schon über in Affektation [Getue],  d. i. Trug. Was der Mensch unbewusst leistet, kostet ihm keine Mühe, lässt aber auch durch keine Mühe sich ersetzen: diese Art ist das Entstehen ursprünglicher Konzeptionen [schöpferische Einfälle], wie sie allen echten Leistungen zum Grunde liegen und den Kern derselben ausmachen. Darum ist nur das Angeborene echt und stichhaltig, und jeder, der etwas leisten will, muss in jeder Sache, im Handeln, im Schreiben, im Bilden, die Regeln befolgen, ohne sie zu kennen.
( Arthur Schopenhauer , Parerga II, § 340. )

Wenn ein großer, wahrscheinlich sogar der größte Teil des menschlichen Verhaltens unbewusst ist und somit der Mensch Regeln befolgt, die in seiner Natur liegen, ihm aber nicht bewusst sind, wo ist dann die Freiheit des Handelns? Abgesehen von dem in Schopenhauers Philosophie zentralen Problem der Willensfreiheit, stellt sich auch hier die Frage: Wie frei ist der Mensch?

Übrigens, Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, schrieb mit Bezug auf Schopenhauer:

Die wenigsten Menschen dürften sich klar gemacht haben, einen wie folgenschweren Schritt die Annahme unbewusster seelischer Vorgänge für Wissenschaft und Leben bedeuten würde. Beeilen wir uns aber hinzuzufügen, dass nicht die Psychoanalyse diesen Schritt zuerst gemacht hat. Es sind namhafte Philosophen als Vorgänger anzuführen, vor allem der große Denker Schopenhauer, dessen unbewusster “ Wille “ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist.
(Zit. aus „Über Arthur Schopenhauer“. Hrsg. von Gerd Haffmanns, Zürich 1977, S. 219.)

Daher kann Schopenhauer mit seiner sehr tiefgründigen Philosophie als Wegbereiter für die moderne Psychologie gelten. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass einer der einflussreichsten amerikanischen Psycho-analytiker, Irvin D. Yalom, vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel The Schopenhauer-Cure geschrieben hatte, das ein Bestseller wurde und als Übersetzung (Die Schopenhauer-Kur) auf dem deutschsprachigen Markt ebenfalls großen Erfolg hatte. Auch das zeigt, wie aktuell Arthur Schopenhauer geblieben ist.
H.B.
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Arthur Schopenhauer: Tierrechte

        Zu Arthur Schopenhauers Zeit wurde (wie zuweilen auch heute noch) der Tierschutz von manchen Tierschutzvereinen mit dem Bibelspruch begründet: Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes. Dazu Schopenhauer:

        “Erbarmt” – welch´ ein Ausdruck! Man erbarmt sich eines Sünders, eines Missetäters , nicht aber eines unschuldigen treuen Tieres, welches oft der Ernährer seines Herren ist und nichts davon hat als spärliches Futter. “Erbarmt!” Nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit ist man dem Tiere schuldig, – und bleibt sie meistens schuldig.

          Die von Arthur Schopenhauer geforderte Gerechtigkeit gegenüber Tieren hilft ihnen leider wenig, wenn sie nicht gesetzlich verankert wird, d. h. solange nicht den Tieren eigene, ihrer jeweiligen Art gemäße Rechte auf Leben und Gesundheit zuerkannt werden, bleibt diese Gerechtigkeit nur ein Ideal, das weit, weit von der Wirklichkeit entfernt ist.

      Es gibt zwar inzwischen Tierschutzgesetze, aber sie enthalten keine den Tieren unmittelbar zustehenden Rechte und können sie deshalb nur sehr unzureichend schützen. Massentierhaltung, Tierversuche und andere Quälereien bleiben  weiterhin möglich, ja sie sind zum Teil sogar gesetzlich legitimiert. Nach wie vor sind Tiere, gleichsam wie Sachen, rechtlos, weil – so Schopenhauer:

        Erst wenn jene einfache und über allen Zweifel erhabene Wahrheit, dass die Tiere in der Hauptsache und im Wesentlichen ganz das Selbe sind, was wir, ins Volk gedrungen sein wird, werden die Tiere nicht mehr als rechtlose Wesen dastehn.

Obige Worte schrieb Arthur Schopenhauer vor mehr als 160 Jahren. Sie sind höchst aktuell geblieben, denn bis heute sind Tierrechte  weder für die etablierten politischen Parteien, noch für die großen Kirchen und anderen gesellschaftlich relevanten Kräfte ein Thema. Damit sich dieser für unsere Gesellschaft überaus beschämende Zustand ändert, ist noch viel Aufklärungsarbeit erforderlich. Vielleicht kann hierzu – wie ich hoffe – auch Schopenhauers Philosophie, in deren Ethik die Tiere voll einbezogen sind, einen Beitrag leisten.

H.B.

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Arthur Schopenhauer : Lebenswertes Leben ?

        Arthur Schopenhauer beschrieb in seiner Philosophie das Leben nicht wie es sein soll, sondern wie es in Wirklichkeit ist, also ohne jede Beschönigung. Schopenhauer ging es dabei nicht um den Beifall der „Menge“, sondern nur um eins: die Wahrheit, jedenfalls soweit sie menschlicher Erkenntnis zugänglich ist.

     Das gilt auch für seine Antworten auf die existentiellen Fragen der Menschen wie etwa die nach dem Wert des Lebens. Diese Frage stellt sich vor allem denen, die unter schweren Schicksalsschlägen leiden müssen und weniger jenen, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen und dabei ängstlich bemüht sind, das Leid dieser Welt – sei es von Mensch oder Tier – aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen.

        Wer jedoch die Fähigkeit zur Empathie, zum Mitgefühl mit fremdem Leid, nicht in sich abgetötet hat, wird, wie ich hoffe, die folgenden Auszüge  aus Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille als Vorstellung verstehen und dessen sprachlich meisterhafte und daher besonders eindrucksvolle Begründung nachvollziehen können.

        Um die originale Fassung beizubehalten, wurde die Rechtschreibung im nachstehenden Zitat nicht korrigiert. Es beginnt mit dem Hinweis auf den wahren Urheber allen Leides, nämlich dem (metaphysischen) Willen, der, wie in Schopenhauers Philosophie ausführlich dargelegt , sich in allen Erschei-nungsformen dieser Welt, also auch in allem, was lebt, manifestiert:

        “ Aus der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht findet der Wille sich als Individuum, in einer end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewußtlosigkeit. –

        Bis dahin jedoch sind seine Wünsche gränzenlos, seine Ansprüche uner-schöpflich, und jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Keine auf der Welt mögliche Befriedigung könnte hinreichen, sein Verlangen zu stillen, seinem Begehren ein endliches Ziel zu setzen und den bodenlosen Abgrund seines Herzens auszufüllen.

        Daneben nun betrachte man, was dem Menschen, an Befriedigungen jeder Art, in der Regel, wird: es ist meistens nicht mehr, als die, mit unablässiger Mühe und steter Sorge, im Kampf mit der Noth, täglich errungene, kärgliche Erhaltung dieses Daseyns selbst, den Tod im Prospekt [als Aussicht]. –

        Alles im Leben giebt kund, daß das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden. Hiezu liegen tief im Wesen der Dinge die Anlagen. Demgemäß fällt das Leben der meisten Menschen trübsälig und kurz aus. Die […] Glücklichen sind es meistens nur scheinbar, oder aber sie sind, wie die Langlebenden, seltene Ausnahmen, zu denen eine Möglichkeit übrig bleiben mußte, – als Lockvogel.

        Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen, wie im Großen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswerth das Gewünschte war: so täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Gehoffte. Hat es gegeben: so war es, um zu nehmen.

        Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche wie optische Täuschungen verschwinden, […] Das Glück liegt demgemäß stets in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist Alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten. Sie ist demnach allezeit ungenügend, die Zukunft aber ungewiß, die Vergangenheit unwiederbringlich.

        Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jähr-lichen, kleinen, größern und großen Widerwärtigkeiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deutlich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, daß es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu seyn.

        Stellt doch vielmehr jene fortwährende Täuschung und Enttäuschung, wie auch die durchgängige Beschaffenheit des Lebens, sich dar, als darauf abgese-hen und berechnet, die Ueberzeugung zu erwecken, daß gar nichts unsers Strebens, Treibens und Ringens werth sei, daß alle Güter nichtig seien, die Welt an allen Enden bankrott, und das Leben ein Geschäft, das nicht die Kosten deckt; – auf daß unser Wille sich davon abwende.[…]

        Zuletzt verkündigt die Zeit den Urtheilsspruch der Natur über den Werth aller in ihr erscheinenden Wesen, indem sie sie vernichtet:

Und das mit Recht: denn Alles was entsteht,

Ist werth, daß es zu Grunde geht.

Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.

[Goethe, Faust I, 1339]

        So sind denn Alter und Tod, zu denen jedes Leben nothwendig hineilt, das aus den Händen der Natur selbst erfolgende Verdammungsurtheil über den Willen zum Leben, welches aussagt, daß dieser Wille ein Streben ist, das sich selbst vereiteln muß. ´Was du gewollt hast`, spricht es, endigt so: ´wolle etwas Besseres.`–

        Also die Belehrung, welche Jedem sein Leben giebt, besteht im Ganzen darin, daß die Gegenstände seiner Wünsche beständig täuschen, wanken und fallen, sonach mehr Quaal als Freude bringen, bis endlich sogar der ganze Grund und Boden, auf dem sie sämmtlich stehen, einstürzt, indem sein Leben selbst vernichtet wird und er so die letzte Bekräftigung erhält, daß all sein Streben und Wollen eine Verkehrtheit, ein Irrweg war […]

        Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die Schmerzlosigkeit; wir fühlen die Sorge, aber nicht die Sorglosigkeit; die Furcht, aber nicht die Sicherheit. Wir fühlen den Wunsch, wie wir Hunger und Durst fühlen; sobald er aber erfüllt worden, ist es damit, wie mit dem genossenen Bissen, der in dem Augenblick, da er verschluckt wird, für unser Gefühl dazuseyn aufhört.

        Genüsse und Freuden vermissen wir schmerzlich, sobald sie ausbleiben: aber Schmerzen, selbst wenn sie nach langer Anwesenheit ausbleiben, werden nicht unmittelbar vermißt, sondern höchstens wird absichtlich, mittelst der Reflexion, ihrer gedacht. Denn nur Schmerz und Mangel können positiv empfunden werden und kündigen daher sich selbst an: das Wohlseyn hin-gegen ist bloß negativ.

        Daher eben werden wir der drei größten Güter des Lebens, Gesundheit, Jugend und Freiheit, nicht als solcher inne, so lange wir sie besitzen; sondern erst nachdem wir sie verloren haben: denn auch sie sind Negationen. Daß Tage unsers Lebens glücklich waren, merken wir erst, nachdem sie unglücklichen Platz gemacht haben. –

        In dem Maaße, als die Genüsse zunehmen, nimmt die Empfänglichkeit für sie ab: das Gewohnte wird nicht mehr als Genuß empfunden. Eben dadurch aber nimmt die Empfänglichkeit für das Leiden zu: denn das Wegfallen des Gewohnten wird schmerzlich gefühlt. Also wächst durch den Besitz das Maaß des Nothwendigen, und dadurch die Fähigkeit Schmerz zu empfinden. –

        Die Stunden gehen desto schneller hin, je angenehmer; desto langsamer, je peinlicher sie zugebracht werden: weil der Schmerz, nicht der Genuß das Positive ist, dessen Gegenwart sich fühlbar macht. Eben so werden wir bei der Langenweile der Zeit inne, bei der Kurzweil nicht. Beides beweist, daß unser Daseyn dann am glücklichsten ist, wann wir es am wenigsten spüren: woraus folgt, daß es besser wäre, es nicht zu haben. […]

        Ehe man so zuversichtlich ausspricht, daß das Leben ein wünschenswer- tes, oder dankenswertes Gut sei, vergleiche man ein Mal gelassen die Summe der nur irgend möglichen Freuden, welche ein Mensch in seinem Leben genießen kann, mit der Summe der nur irgend möglichen Leiden, die ihn in seinem Leben treffen können. Ich glaube, die Bilanz wird nicht schwer zu ziehen seyn.

        Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der Welt sei: denn schon das bloße Daseyn des Uebels entscheidet die Sache; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gut getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann […]

        Denn, daß Tausende in Glück und Wonne gelebt hätten, höbe ja nie die Angst und Todesmarter eines Einzigen auf: und eben so wenig macht mein gegenwärtiges Wohlseyn meine frühern Leiden ungeschehen. Wenn daher des Uebeln auch hundert Mal weniger auf der Welt wäre, als der Fall ist; so wäre dennoch das bloße Daseyn desselben hinreichend, eine Wahrheit zu begründen, welche sich auf verschiedene Weise, wiewohl immer nur etwas indirekt ausdrücken läßt, nämlich, daß wir über das Daseyn der Welt uns nicht zu freuen, vielmehr zu betrüben haben: – daß ihr Nichtseyn ihrem Daseyn vorzuziehen wäre; daß sie etwas ist, das im Grunde nicht seyn sollte […]

        Wenn das Leben an sich selbst ein schätzbares Gut und dem Nichtseyn entschieden vorzuziehen wäre; so brauchte die Ausgangspforte nicht von so entsetzlichen Wächtern, wie der Tod mit seinen Schrecken ist, besetzt zu seyn. Aber wer würde im Leben, wie es ist, ausharren, wenn der Tod minder schrecklich wäre? –

        Und wer könnte auch nur den Gedanken des Todes ertragen, wenn das Leben eine Freude wäre! So aber hat jener immer noch das Gute, das Ende des Lebens zu seyn, und wir trösten uns über die Leiden des Lebens mit dem Tode, und über den Tod mit den Leiden des Lebens. Die Wahrheit ist, daß Beide unzertrennlich zusammengehören, indem sie ein Irrsal ausmachen, von welchem zurückzukommen so schwer, wie wünschenswerth ist. […]

        Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, […] dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität ist schreiend. –


Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehen in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Thälern, Strömen, Pflanzen, Thieren u. s. f. – Aber ist denn die Welt ein Guckkasten?
Zu sehen sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu seyn ist ganz etwas Anderes. –”

[Aus: Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band IV, Zürich 1977, Die Welt als Wille und Vorstellung II/2, Kap. 46, S. 670 ff.]

Weiteres
Schopenhauers Erlösungslehre und Lebensphilosophie > hier
Arthur Schopenhauers Philosophie : Überblick > hier

H.B.